Überleben


Leseprobe

(Achtung: unkorrigierte Leseprobe)

 

Prolog

Der silbrig leuchtende See war ein Traum.

Geboren aus zu wenig Schlaf, zu vielen vergossenen Tränen und dem sinnlosen Wunsch, dass es wieder wie früher werden möge, dabei wusste Jonah, dass das niemals passieren konnte – niemals passieren durfte. Er wäre tot, wenn er das zuließe, und seit seiner Flucht in der letzten Woche hatte er immerhin genug Selbsterhaltungstrieb, um nie wieder zurückzugehen.

Sein Mann war für ihn gestorben, nicht im wahrsten Sinne des Wortes, aber allgemein, und sobald er sich gesammelt hatte, würde er es offiziell machen und die Scheidung einreichen.

Doch das hatte Zeit.

Erst mal wollte er selbige jetzt für sich. Weit weg von seinem bisherigen Leben, um sich darüber klarzuwerden, wie es in der Zukunft weitergehen sollte. Einer Zukunft, die er eigentlich seit Jahren klar vor sich gesehen hatte.

Wie sehr man sich doch irren konnte.

Jonah atmete tief ein und ließ seinen Blick über den kleinen See schweifen. Tja, hier war er nun. Durchgefroren, in tiefster Nacht, begleitet von einem riesigen Vollmond, der dem Wasser des sich malerisch in die umgebende Landschaft einfügenden Bergsees ein Aussehen verlieh, als sei es aus flüssigem Silber.

Ein grandioses Postkartenmotiv, selbst jetzt im Spätherbst, wo die meisten Bäume ihr Laub längst verloren hatten.

Vielleicht sollte er es als Zeichen sehen.

Als Ende von allem.

Jahrelang hatte er tatenlos zugelassen, dass jener Mann, den er über alles liebte, aus ihm einen Feigling machte. Was war nur aus ihm geworden? Aus dem jungen, lebenslustigen und immer grinsenden Selfmade-Millionär, der mit Computerspielen für Jung und Alt ein Vermögen gemacht und sich zuletzt vermehrt um Hilfsprojekte für junge Menschen gekümmert hatte, die es nicht so gut gehabt hatten wie er.

Weder Adrian noch er hatten je eigene Kinder gewollt, eines der wenigen Dinge, bei denen sie sich vom ersten Tag an einig gewesen waren, aber Teenagern und jungen Erwachsenen zu helfen, die auf der Straße landeten, nur weil sie schwul, bi, trans oder alkohol- beziehungsweise drogenabhängig waren, häufig sogar beides, hatte ihm das Gefühl gegeben, mit seinem Geld etwas Gutes zu tun und ein bisschen von seinem eigenen Glück an die Gesellschaft zurückzugeben.

Jonah konnte zwar niemanden davon abhalten, sich einen Goldenen Schuss zu setzen oder den Körper für ein Sandwich oder eine Flasche Bier zu verkaufen, aber er konnte Schlafplätze anbieten, saubere Duschen und frische Kleidung, eine warme Mahlzeit, und die Möglichkeit, einen sicheren Weg aus all dem herauszufinden. Einen Entzug zu machen und hinterher wieder zur Schule zu gehen.

Gott sei Dank arbeiteten genug Leute in den Einrichtungen, die er aufgebaut hatte und mit so viel Geld unterstützte, wie sie brauchten. Er musste nicht persönlich vor Ort sein, und selbst wenn er eines Tages tot umfiel, würde alles in seinem Sinne und für die jungen Leute weiterlaufen, dafür hatte er mit Hilfe von Anwälten und Notaren gesorgt.

Würde ihn jemand vermissen?

Der Taxifahrer wahrscheinlich. Jack. Ein alter Mann, der ihn nicht kannte und ihm trotzdem geholfen hatte. Der mit ruhiger Hand seine Wunden versorgt und ihn danach zum Busbahnhof gebracht hatte, damit er ein neues Leben anfangen konnte. Weit weg von dem Mann, der nicht nur sein Herz gestohlen, sondern ihm auch jeden Glauben an die Liebe genommen hatte.

»Wirst du mich vermissen?«, flüsterte er in die Stille dieser wunderschönen Nacht hinein und lächelte traurig, denn wieder begannen die Tränen zu fließen, weil Jonah wusste, dass Adrian nicht ihn vermissen würde, sondern sein Geld und das teure, bequeme Leben, das er ihm geboten hatte.

Niemand würde ihn vermissen, denn er hatte niemanden in seinem Leben. Nicht mehr. Noch etwas, wofür Adrian geduldig gesorgt hatte, ohne dass es ihm aufgefallen war. Freunde? Die waren alle längst fort, nachdem er wiederholt Verabredungen mit ihnen absagte, weil Adrian ihn bat, bei ihm zu bleiben und einen romantischen Abend zu verbringen. Familie? Bereits seit Jahren tot. Es gab keine Eltern mehr. Es hatte nie einen Bruder oder die kleine Schwester gegeben, die er sich als Junge so oft gewünscht hatte. Und seine Großeltern waren lange vor seiner Geburt gestorben.

Er war das perfekte Opfer für Adrian gewesen, und er hatte das erst erkannt, als sein Mann dabei war, ihn totzuschlagen.

Jonah fröstelte, als eine Windböe über ihn streifte, was kein Wunder war, denn für die aktuellen Temperaturen, wie sie hier oben, dicht an der Grenze zu Kanada, herrschten, war er nicht passend angezogen. So weit hatte er eigentlich gar nicht fahren wollen, aber wer in einem Fernbus einschlief, der durchs Land fuhr, musste mit den Folgen leben. Wobei das kleine Städtchen, in dem er vorhin ausgestiegen war, wirklich hübsch ausgesehen hatte. Soweit er das in dem diffusen Licht der Straßenlaternen hatte erkennen können.

Eine breite Hauptstraße mit Parkbuchten, Nebenstraßen, die wahrscheinlich zu Wohnhäusern oder Grundstücken außerhalb führten, und alles kuschelte sich an dicht gewachsene Wälder aus Tannen und Laubbäumen und mehreren bereits mit Schnee bedeckten Berggipfeln.

Jonah hatte nicht darüber nachgedacht, nach einem Zimmer für die Nacht Ausschau zu halten, während er dem Greyhound nachsah, der sein nächstes Ziel ansteuerte. Stattdessen hatte er einige Minuten an Ort und Stelle gestanden und war schließlich einfach losgegangen. Immer der Hauptstraße nach, ohne festes Ziel, dafür mit einem Kopf voller dunkler Gedanken.

Und dann hatte er das Schild gesehen.

Ein Pfeil nach rechts, der auf einen kleinen See hinwies, der sich – war ja klar – in Privatbesitz befand. Es hätte den großen »Betreten verboten!«-Hinweis nicht gebraucht, um zu wissen, dass er hier unerwünscht war. Jonah hatte das Schild trotzdem ignoriert, denn er wollte diesen See sehen. Wieso? Er wusste es nicht, aber war das denn überhaupt wichtig? Musste im Leben immer alles einen Grund haben? Konnte man nicht einfach mal etwas tun, nur weil man es tun wollte?

Abgesehen vielleicht von einem Mord – obwohl ihm sogar der Gedanke während der Busfahrt mehrmals gekommen war. Vorzugsweise dann, wann immer er an Adrian dachte oder sich aus Versehen falsch bewegte und daraufhin eine Schmerzwelle durch seinen Körper schoss, die er möglichst unterdrückte, um andere Busreisende nicht auf sich aufmerksam zu machen.

Jetzt, wo Jonah auf dem verwittert wirkenden Steg stand, an dem ein Ruderboot vertäut lag, wusste er, dass seine vorherige Entscheidung, das Schild zu ignorieren, richtig gewesen war.

Hier könnte alles enden.

Oder er noch einmal von vorn anfangen.

Jonah war sich nicht sicher, wofür er sich entscheiden sollte, und er rieb sich fröstelnd die Arme, als der Wind auffrischte. Es war bitterkalt. Wobei das wahrscheinlich nur an ihm selbst und seiner zu dünnen Kleidung lag.

Er könnte in dem Armeerucksack, der alles beherbergte, das er während der Flucht aus seinem Haus auf die Schnelle hatte zusammenraffen können, nach einem seiner Pullover oder dem Mantel suchen, den er definitiv hineingestopft hatte. Genauso wie seine wichtigsten Papiere, das Handy samt Ladegerät, seine Geldbörse und seinen Laptop, da Adrian sämtliche Passwörter kannte, auch jene vom Onlinebanking. Er konnte dem Besitzer diese Hütte am See abkaufen und ein neues Leben beginnen.

Oder er ließ einfach alles zurück und ging in den See, damit er, erbärmlicher Feigling, der er nun mal war, niemandem mehr zur Last fiel.

»Tut mir leid, Jack«, flüsterte er an den alten Mann gerichtet, der ihn wahrscheinlich wirklich vermissen würde, aber mit der Zeit würde er ihn vergessen – so wie jeder andere auch.

Die eisiges Kälte des glitzernden Wassers war ein Schock, der ihn wieder zu sich brachte. Wann hatte er sich in Bewegung gesetzt und war vom Steg in den See geklettert? Stand er etwa so sehr neben sich, dass er diese wenigen Schritte nicht einmal bemerkt hatte? Offensichtlich. Jonah sah zur Hütte, wo in einem der Fenster ein Lichtschein zu sehen war. Komisch. Bei seinem Eintreffen war der noch nicht da gewesen. Glaubte er jedenfalls. Andererseits fantasierte er vielleicht und bildete sich das Licht und die Taubheit in seinem Körper nur ein.

Er schaute wieder auf das Wasser. Das flüssige Silber, erhellt durch den wunderschönen Vollmond, der stumm auf ihn hinab schien. Würde der ihn vermissen? Wohl kaum. Die Erde scherte sich nicht um ein kleines Individuum, wie er es war. Er würde zu Fischfutter werden, zu einem Teil der Natur. Und vielleicht würde genug von ihm übrigbleiben, dass die Besitzer der Hütte im Frühjahr seine Leiche bergen konnten. Bis dahin würde alles längst wieder den gewohnten Gang gehen, seine Firma verkauft sein und seine Hilfsprojekte weiter laufen, bis das Geld alle war – was kaum passieren dürfte, weil er ja vorgesorgt hatte.

Das Wasser reichte ihm hier bis zur Brust und Jonah sah ein letztes Mal zurück. Auf den schmalen Steg, wo sein Rucksack lag. Sein ganzes Leben – verpackt in 45 Liter Fassungsvermögen mit Tarnmuster. Irgendwer würde ihn schon finden und danach hoffentlich das Richtige tun.

Jonah ging am Steg entlang tiefer ins Wasser, bis es ihm ans Kinn reichte. Ein letzter Atemzug und ein letzter Schritt, dann schlug das Wasser über seinem Kopf zusammen. Er stöhnte, da es so verflucht kalt war, schluckte Wasser und begann prompt zu husten. Jonah tauchte ohne zu überlegen wieder auf, hustete weiter und spuckte das Wasser aus. Er schrie erschreckt auf, als er plötzlich am Kragen gepackt wurde.

»Was zur Hölle …?«

Grüne Augen, ein wütend verzogenes Gesicht, in der Hand eine Lampe – so ein Campingteil, das aussah, wie eine Laterne, fiel ihm erstaunlicherweise auf –, Jonah hustete erneut los und wurde dabei ohne Rücksicht auf seinen elendigen Zustand auf den Steg gezerrt.

»Sind Sie verrückt geworden?«, schrie der Unbekannte ihn an und meinte es vermutlich nicht mal böse, aber Jonah sah auf einmal wieder Adrian vor sich, mit geballten Fäusten und dem Blick so voller Hass, und er tat das, was er in den letzten Jahren immer wieder oft getan hatte – er duckte sich.

»Nicht schlagen. Bitte, bitte, nicht wieder schlagen.«

»Scheiße, auch das noch«, war das letzte, was er hörte, dann wurde die Welt um ihn herum schwarz.



Kapitel 1
eine Woche früher

»Bist du sicher, dass ich dich nicht in die Notaufnahme drei Straßen weiter bringen soll?«

Wäre sein Gesicht nicht ein einziger Schmerz gewesen, hätte Jonah bei der wiederholten Nachfrage gelacht, aber so wie er im Moment aussah und sich vor allem fühlte, war es besser, sich so wenig wie möglich zu bewegen, und damit war nicht bloß sein zerschlagenes Gesicht gemeint.

Er war kein Arzt, aber wenn Adrian mit seinen Tritten nicht mindestens zwei oder drei seiner Rippen gebrochen hatte – nun ja, das Sprichwort mit dem gefressenen Besen hob er sich wohl besser für die Zeit auf, wenn er wieder etwas essen konnte, weil sein Kiefer sich anfühlte, als wäre ein Panzer über ihn gerollt. Was auch für sein linkes Handgelenk und den oberen Rücken zutraf, die ebenfalls Adrians edle Schuhe zu spüren bekommen hatten, während Jonah zusammengerollt auf dem Fliesenboden ihrer Küche lag und darum kämpfte, nicht das Bewusstsein zu verlieren.

Dass er in dieser Nacht um sein Leben kämpfen würde, war ihm allerdings erst bewusst geworden, als Adrian wenig später nach einem ihrer Küchenmesser griff.

All das und noch mehr würde er bei der Polizei zu Protokoll geben müssen, denn selbst die fantasievollste Lüge würde nie und nimmer ausreichen, um die Ärzte und Schwestern davon abzubringen, die Cops einzuschalten, da er ganz offensichtlich überfallen und zusammengeschlagen worden war. Dass der Täter in diesem Fall sein eigener Ehemann war – Jonah konnte sich die mitleidigen Blicke und das Gelächter hinter der Hand zu gut vorstellen, als dass er das erleben wollte. Es war schlimm genug, ein Opfer zu sein, aber es dürfte noch schlimmer sein, sich den demütigenden Fragen auszusetzen, die folgen würden – sofern es überhaupt zu einer Anklage kam.

Jonah kannte aus seinen Hilfsprojekten leider viele solcher Geschichten, wo man den Opfern, vorrangig den männlichen, nicht geglaubt hatte, und er wollte nicht ein Teil dieser Statistik werden, die ein Armutszeugnis für diese Stadt und dieses Land war, wie so vieles andere auch. Besonders bei Fällen, wo nicht genug Geld im Hintergrund vorhanden war, um sein Recht mit teuren Anwälten durchzusetzen. Und auch wenn das in seinem Fall kein Problem wäre, die Scham und die Peinlichkeit, sobald rauskam, dass er, der »reiche, schwule Wohltäter«, wie ihn die Presse oft nannte, selbst schon seit Jahren ein Opfer häuslicher Gewalt war – nein, auf keinen Fall würde er Anzeige erstatten und sich einer lechzenden Öffentlichkeit preisgeben, die einen solchen Skandal über Wochen ausschlachtete.

Der alte Taxifahrer seufzte schwer, als Jonah »Nein, danke.« krächzte, denn sein Hals war geschwollen und es tat weh, wenn er schluckte, sprach oder sich räusperte.

Adrian hatte ihn so lange gewürgt, bis er anfing, Sterne und schwarze Schatten vor Augen zu sehen, und dann plötzlich von ihm abgelassen. Jonah wusste nicht, warum, und er war zu sehr damit beschäftigt gewesen, nach Luft zu ringen, um sich darum zu kümmern. Irgendwann würde er garantiert anfangen, sich zu fragen, was Adrian im letzten Augenblick davon abgehalten hatte, es zu beenden und ihm damit die Chance zu geben, auf die Füße zu kommen und nach der Pfanne zu greifen, die noch vom Abendessen auf dem Herd stand. Nur eine Bewegung, nur ein Schlag – beides zusammen hatte sein Leben gerettet.

»Junge, wir fahren jetzt seit einer Stunde durch die Gegend, was dich ein Vermögen kosten wird, und wir sind dabei an vier Kliniken mit Notaufnahmen vorbeigekommen. Du musst dich behandeln lassen und ich werde nicht aufhören, dich zu fragen, bis du am Ende Ja sagst.«

»Nein, danke«, wiederholte er müde und der Taxifahrer bog samt einem Kopfschütteln an der nächsten Kreuzung ab.

Jonah hatte keine Ahnung, wo er hinfuhr, aber sie verließen offenbar die Innenstadt und das war ihm nur recht. Hauptsache weg von ihrem Apartment, seinem ruinierten Leben und jenem Mann, der Schuld daran war, dass er kaum noch atmen konnte, und mittlerweile wohl aus der Bewusstlosigkeit erwacht war, in die Jonah ihn mit der Pfanne geschickt hatte.

Und selbst wenn nicht, er würde nicht umdrehen, um einen Blick auf Adrian zu werfen. Er war davongekommen, und mehr zählte nicht. Wäre er geblieben, bis Adrian wieder zu sich kam, wäre er längst tot, dessen war Jonah sicher, während er sich an den Ausdruck in Adrians eisblauen Augen erinnerte, die er mal so geliebt hatte. Pure Mordlust hatte er vorhin in diesen Augen gesehen, und die Mordlust war ausschließlich auf ihn gerichtet gewesen. Und warum? Weil ihm beim Abwaschen ein Glas aus der Hand gerutscht war. Es war weder zerschellt noch hatte es eine Schramme abbekommen. Es war nur mit einem Poltern ins Spülbecken zurückgefallen und hatte sie nassgespritzt, und das hatte ausgereicht, um Adrian von einer Sekunde auf die andere durchdrehen zu lassen.

Was er zuletzt wieder und wieder getan hatte.

Und das aus den nichtigsten Gründen.

Egal, wie sehr Jonah sich bemüht hatte, seinem Mann alles recht zu machen, egal, wie oft er nach außen hin auf ihre Liebe schwor und Adrian zu jeder Veranstaltung mitnahm, weil sein Mann es liebte, sich in der Aufmerksamkeit zu sonnen, die ihm als Jonah Frasers Ehemann zuteilwurde, Adrian hatte hinterher immer Gründe gefunden, um ihn zu schlagen, ihn zu zwingen, vor ihn auf die Knie zu gehen – »Damit er sein mieses Verhalten von der Party wiedergutmachte.« O-Ton, Adrian –, ihn derweil verbal zu erniedrigen oder ihn anzuschreien – bis Jonah sich auf dem Boden zu einer Kugel zusammenrollte, in der Hoffnung, es möge bald vorbeigehen, damit der liebevolle, sanfte und ihn verwöhnende Adrian wieder den Platz des Monsters einnahm, ihn verarztete, ihn hielt, sich tausende Male entschuldigte und mit ihm weinte, und ihn Tage, manchmal sogar Wochen oder Monate, mit liebevoll ausgesuchten Geschenken verwöhnte und ihm gefühlt jeden Wunsch von den Augen ablas, ehe er wieder zu einem Monster wurde.

Wie hatte es nur so weit kommen können?

Wie hatte aus ihrer ersten Verliebtheit, die mit viel Gelächter und noch mehr romantischer Zweisamkeit begann, eine lieblose Ehe werden können, die nur noch auf einem Blatt Papier und in der Öffentlichkeit perfekt war?

Niemand wusste, was sich seit Jahren hinter der verstärkten Apartmenttür in dem riesigen Wohngebäude in der Innenstadt abspielte, das einen eigenen Concierge, einen Wäscheservice für die Mieter und sogar einen Butler bot, der auf Wunsch mitten in der Nacht loszog, um einzukaufen oder irgendwelche, zumeist unwichtigen Dinge zu besorgen, die ein Mieter vergessen hatte. Nur die Reichen und Schönen lebten in diesem Apartmenthaus, weil sie ihre eigene Sicherheit und ihre Privatsphäre schätzten, und keiner von ihnen hatte jemals seine Schreie und sein Flehen gehört, denn jedes Apartment war schalldicht und bot ein Extra an Sicherheit durch Sicherheitspersonal, das rund um die Uhr erreichbar war, und durch Fenster und Wände, die nicht einmal eine Stange Dynamit zu durchbrechen vermochte.

Er war ein Gefangener in seinem eigenen Zuhause gewesen, und obwohl er jeden Tag die Möglichkeit gehabt hatte, einfach zu gehen und Adrian hinter sich zu lassen, war Jonah geblieben – bis heute Nacht.

»Wo sind wir?«, fragte er leise, als ihm auffiel, dass das Taxi gehalten hatte, in einer mit Bäumen gesäumten Straße, offenbar ein Wohngebiet. Jonah sah über den Gehweg und einen kleinen Vorgarten auf ein ebenso kleines, aber eindeutig gepflegtes und mit viel Liebe gestaltetes Haus. »Wer wohnt hier?«

»Ich.« Er schaute zu dem Taxifahrer, der ihn jetzt anlächelte, ehe er die Scheibe zwischen ihnen zur Seite schob und ihm eine Hand hinhielt. »Mein Name ist Jack und du warst heute Nacht meiner letzter Kunde. Das da ist mein Haus. Na ja, meines und das meiner Frau, aber Elsa ist nur noch in meinem Herzen bei mir. Freut mich, dich kennenzulernen.«

Die Hand blieb, wo sie war, auch wenn Jonah sie eine kleine Ewigkeit panisch anstarrte. Raue Haut, gebräunt, Schwielen an allen möglichen Stellen, eine Narbe von einer lange verheilten Wunde. Nicht Adrian, das ist nicht Adrian, sagte er sich wieder und wieder, und irgendwann schaffte Jonah es, die Angst weit genug zur Seite zu schieben, dass er die hingestreckte Hand mit seiner eigenen ergreifen konnte. Die Bewegung ließ ihn jedoch erneut vor Schmerz keuchen und Jacks Blick verdunkelte sich. Doch er schwieg und schüttelte behutsam seine Hand.

»Jonah. Freut mich ebenfalls.«

Der alte Mann gluckste heiter. »Und das ist gelogen, aber an deiner Stelle würde es mir kaum anders gehen. Du willst nicht in ein Krankenhaus, darum biete ich dir mein Haus an. Ich war früher Sanitäter in der Armee und kann mir deine Verletzungen ansehen. Du musst mir nichts darüber erzählen. Du musst gar nichts sagen, wenn du nicht willst. Lass mich dir einfach helfen, dir etwas zu essen machen, und danach, wenn du willst, bringe ich dich zum Busbahnhof, damit du abhauen kannst. Möglichst weit weg von der Person, die dafür«, er deutete mit wütendem Blick auf Jonahs Gesicht, »verantwortlich ist.«

»Warum hilfst du mir?«, fragte er, weil ihm das im Moment unbegreiflich war, denn sie kannten einander schließlich nicht. Dieser nette, alte Mann war ihm absolut nichts schuldig.

»Ich habe einen Sohn in deinem Alter und würde ihm etwas passieren, würde ich mir wünschen, dass es jemanden gibt, der ihm hilft. So wie ich jetzt dir helfen werde, falls du mich das für dich tun lässt.«

Jonah wollte automatisch ablehnen, aber da war irgendwas in Jacks Augen, das ihn davon abhielt. Trotzdem blieb er sitzen, als der alte Mann ausstieg und schneller als Jonah es ihm mit dem Bauch, den weißen Haaren und seinem Bart – darum hatte er den Mann am Taxistand auch ausgewählt, der ihm anfangs wie der leibhaftige Weihnachtsmann vorgekommen war und Jonah Weihnachten als Kind über alles geliebt hatte – zugetraut hatte, um das Taxi herumkam, um ihm die Tür zu öffnen. Eine Hand wurde ihm hilfreich entgegengestreckt.

»Ich weiß, dass du gerade Angst hast, aber ich habe noch nie in meinem Leben die Hand gegen jemanden erhoben. Nicht mal im Krieg. Ich habe geholfen. Immer. Selbst den Vietcong.«

Jonah wusste wenig über den Vietnamkrieg, aber er konnte sich vorstellen, wie wenig begeistert Jacks Vorgesetzte gewesen sein dürften, dass der sogar dem Feind geholfen hatte und nicht nur den eigenen Leuten.

»Hat man dich dafür rausgeworfen?«, wollte er wissen und drehte sich vorsichtig zur Seite, um seine Beine aus dem Taxi zu heben. Alles tat weh, sogar diese leichte Bewegung, doch wenn er nicht in einem Krankenhaus landen wollte, musste er auf den eigenen Beinen stehen und laufen können.

»Unehrenhaft entlassen. Zumindest anfangs. Später wurde ich rehabilitiert, als sie rausfanden, dass ich unter den Leichen von US-Soldaten vier vietnamesische Kinder versteckt habe, die man als lebende Schutzschilde missbraucht hatte, während ich nebenbei verletzte Soldaten zusammenflickte.« Jack beugte sich zu ihm, als Jonah versuchte aufzustehen, sich aber kaum nach vorn beugen konnte. »Warte einen Augenblick, ich helfe dir. Mit gebrochenen Rippen ist nicht zu spaßen.« Jonah kam nicht zu der Frage, woher Jack das wusste, da er gleich darauf vollends damit beschäftigt war, den heftigen Schmerz wegzuatmen und nicht zu laut aufzuschreien. »Himmel, Junge, du solltest dir das mit der Notaufnahme wirklich noch mal überleben.«

»Nein!«

»Sturkopf. Genau wie mein eigener Junge«, murrte Jack und hielt ihn sicher und zugleich sanft aufrecht, während er die Tür mit dem Fuß zustieß, das Taxi verriegelte und ihn anschließend langsam in Richtung Haus führte. »Immer ein Schritt nach dem anderen. Wir haben die ganze Nacht Zeit.«

»Kalt.« Jonah klapperten plötzlich die Zähne.

»Ich weiß.« Jacks Griff wurde etwas fester, was Jonah leise stöhnen ließ. »Entschuldige, aber du klappst gleich zusammen und ich will nicht, dass du auf die Gehwegplatten fällst.« Jonah wimmerte. »Ich weiß, ich weiß, du dummer Junge, und ich gebe dir mein Wort, dich bei mir zu behalten. Kein Krankenhaus.«

»Danke«, nuschelte er und sein Kopf fiel an Jacks Brust, was den fluchen ließ, doch mehr bekam Jonah nicht mehr mit.

***

Irgendwann kam Jonah wieder zu sich und runzelte irritiert die Stirn, als sein Blick auf eine mit Holz vertäfelte Decke fiel. In seinem Apartment gab es so etwas nicht, weil Adrian auf weiße Wände, helle Möbel und kräftige farbliche Akzente in Form von gerahmten Fotografien an den Wänden, weichen Kissen auf der Couch und Blumen in bauchigen Vasen bestanden hatte, als es damals darum gegangen war, ihr Apartment einzurichten.

Jonah hätte es viel lieber gemütlicher gehabt, war allerdings nicht gegen Adrians vernünftige Argumentation angekommen, dass er mit seinem guten Ruf nun mal kaum wie Otto-Normal-von-Nebenan leben konnte. Außerdem konnte man Blutflecken von Fliesen bedeutend einfacher entfernen, als jedes Mal gleich den Teppich austauschen zu müssen.

Herrgott, er war wirklich naiv gewesen.

Und so unglaublich dumm.

»Da bist du ja wieder.«

Er drehte langsam den Kopf nach links und brauchte einen Moment, bis er das alte, faltige Gesicht und jenen Mann, dem es gehörte und der sich gerade zu seinen Beinen neben ihn hockte, wiedererkannte. Blinzelnd sah er auf die bunte, wahrscheinlich selbst gestrickte Decke aus bunten Vierecken, die über ihm lag, während weiche Kissen, die seinen Kopf und auch den Rücken stützten, nach Blumen dufteten. Das hier war kein steriles Bett in einem ebenso sterilen Krankenhaus, sondern ein gemütliches Sofa. Er lag in einem Wohnzimmer. Gott sei Dank.

Jonah sah zurück zu dem alten Mann. »Hallo.«

»Kannst du mir sagen, wer ich bin?«, wurde er gefragt.

Jonah kicherte unwillkürlich, was sein lädierter Kiefer ihm sofort übel nahm. »Aua.«

»Ja, ich weiß. Und ja, ich kann mir denken, dass du mich für einen gefühlsduseligen, alten Trottel hältst, aber versuch bitte in nächster Zeit nicht zu lachen oder zu grinsen. Dein Kiefer sieht nicht gebrochen aus, von der Prellung dürftest du aber noch für eine ganze Weile etwas haben. Was auch für den Rest der vielen Verletzungen gilt, die ich in den letzten Stunden verarztet habe. Junge, wer das war?«

»Mein Ehemann« antwortete er ohne zu überlegen und als Jack ihn daraufhin schockiert ansah, verfluchte er sich sofort für seine Redseligkeit. »Vergiss es.«

»Das werde ich nicht tun, aber ich werde auch niemandem davon erzählen, darauf hast du mein Wort, Jonah Fraser.«

Jonah erstarrte. »Du weißt, wer ich bin?«

Der alte Mann nickte. »Du bist oft in den Nachrichten, daher weiß ich auch, was du für für junge Menschen tust. Mein Sohn bewundert diese Notanlaufstellen, die du aufgebaut hast. Und jetzt antworte auf meine Frage. Weißt du, wer ich bin, welcher Tag heute ist und wo du dich befindest?«

»Du heißt Jack und du bist kein Trottel«, antwortete Jonah und hob vorsichtig seine linke Hand hoch, die dick bandagiert war. »Ich war nicht sicher, ob er mir das Handgelenk gebrochen hat. Es hat wehgetan, aber nicht stark.«

»Es ist nichts gebrochen, das hätte ich gefühlt. Aber auch für das Handgelenk gilt, du wirst eine Weile deutliche Schmerzen haben.« Jack strich ihm beruhigend über sein Bein. »Was ist mit meinen anderen Fragen?« Jonah erzählte es ihm und der alte Mann seufzte hörbar erleichtert, bevor er sich mit einem »Gut.« wieder erhob. »In der Küche warten heißer Tee und Sandwichs auf dich. Was denkst du? Kannst du aufstehen? … Ohne meine Hilfe?«, setzte Jack nach und beobachtete ihn genau, während Jonah die flauschige Decke zur Seite schob und sich hinterher aufsetzte. Seine Rippen machten sich sofort bemerkbar und er verzog das Gesicht, aber er schaffte es tatsächlich auf die Beine. »Gut gemacht, Junge. Ich hätte dich heute Nacht nicht aus dem Haus gelassen, könntest du nicht ohne Hilfe gehen. Komm mit. Aber langsam, verstanden?«

Langsam war in Ordnung für ihn, weil ein anderes Tempo seinen Körper vermutlich überfordert hätte. Aber so hatte Jonah genügend Zeit, um einen Blick auf die gerahmten Fotos an der Wand im Flur zu werfen, die das Leben einer dreiköpfigen und unübersehbar glücklichen Familie  zeigten. Bei einem Foto blieb er kurz stehen, denn Vater und Sohn sahen sich so unglaublich ähnlich, dass es ihn in Staunen versetzte, weil er selbst mehr in Richtung seiner Mutter tendierte.

Sowohl äußerlich als auch charakterlich war er immer mehr wie seine Mutter gewesen – die sanfte Seele. Sein Vater hatte sie oft so genannt, gepaart mit einem liebevollen Lächeln. Er hatte keine Bilder von ihnen dabei, fiel Jonah ein. Dafür war während seiner Flucht keine Zeit geblieben. Und er konnte nicht zurück, um welche zu holen. Vielleicht nie mehr.

»Jonah?«, rief Jack besorgt.

»Ich komme«, antwortete er und ließ die Fotos und seine eigenen Erinnerungen hinter sich. Er konnte jetzt nicht um die verpasste Chance trauern, dafür hatte er schlichtweg keine Zeit. Er musste immer noch aus der Stadt raus, weil ihn hier zu viele Leute kannten. Wie sollte er sich darüber klarwerden, was er als nächstes tun sollte, wenn er ständig Gefahr lief, dass man ihm eine Kamera unter die Nase hielt?

Es war das Beste, nicht nur die Stadt fürs Erste zu verlassen, sondern dem Bundesstaat den Rücken zu kehren. Wenigstens für zwei oder drei Wochen, damit er sich von den Verletzungen erholen konnte. Seinen Anwalt konnte er jederzeit anrufen, um sicherzugehen, dass Adrian nicht einfach versuchte, die Konten leerzuräumen oder irgendwie an seine Firma heranzukommen. Nicht, dass die Gefahr bestand. Ihr Ehevertrag war wasserdicht und das einzige, worüber Adrian frei verfügen konnte, war das Geld, das auf ihrem gemeinsamen Konto lag, und diese Summe konnte er wahrscheinlich abschreiben.

Egal. Hauptsache, seine Hilfsprojekte waren sicher, und für die hatte Adrian sich nie großartig interessiert und war darum auch nicht in irgendeiner Weise involviert gewesen. Sie hatten Beruf und Privatleben getrennt gehalten, und das würde Jonah jetzt zugutekommen.

In einer ebenso gemütlich eingerichteten Küche warteten in der Essecke am Fenster ein Teller mit Sandwichs, frisches Obst und eine Kanne Tee auf ihn. Das Essen und das Obst waren in mundgerechte Stücke geschnitten, was Jonah fast die Tränen in die Augen trieb, als er Jack anschaute, der ihm ein mitfühlendes Lächeln zuwarf.

»Danke.«

»So kannst du besser essen. Setz dich, Junge«, sagte er und zog dabei eine Schranktür auf, um Tassen herauszunehmen, mit denen er sich dann zu ihm gesellte. Zucker stand schon bereit, genauso wie Besteck, das sie kaum brauchen würden, aber wen störte das schon. »Greif zu. Ich hole noch schnell etwas.«

Der alte Mann verließ mit raschen Schritten die Küche und Jonah hörte ihn nebenan herumkramen. Bevor er misstrauisch werden konnte, war Jack bereits zurück, setzte sich und reichte ihm eine Visitenkarte.

»Was ist das?«, fragte Jonas und starrte auf die unscheinbare Karte, nach der er automatisch gegriffen hatte.

»Mein Sohn ist Anwalt. Spezialisiert auf Fälle wie deinen. Er kann und wird dir helfen. Wenn du also jemals deine Meinung in Bezug auf eine Anzeige änderst, ruf ihn an und sag ihm, dass ich dir seine Visitenkarte gegeben habe. Jonathan hat schon sehr vielen Opfern ein würdevolles Leben zurückgegeben, indem er ihre Peiniger für lange Jahre hinter Gittern gebracht hat. Sobald du dazu bereit bist, seine Hilfe anzunehmen, wird Jonathan sie dir geben, das verspreche ich dir, Jonah.«

Jonah wollte nicht schon wieder weinen, aber er konnte die Tränen auch nicht unterdrücken, und war heilfroh, als Jack ihm nur aufmunternd die Hand tätschelte, sonst aber nichts weiter dazu sagte, bevor er ihn sanft aber bestimmt dazu drängte, erst ein und dann ein zweites Sandwich zu essen, ihm zwischendrin immer wieder Stücke einer Banane und Mango zuschob und so oft seine Teetasse auffüllte, dass er am Ende dreimal durch den Flur schleichen musste, um auf die Toilette zu gehen.

Wahrscheinlich hatte der alte Mann das sogar geplant, denn es war früh am Morgen, als er sich erneut in die weiche Decke auf dem Sofa eingewickelt wiederfand, mit der Anweisung, ein paar Stunden zu schlafen, was Jack jetzt auch tun würde, bevor er einkaufen wollte, um ihm etwas zu Mittag zu kochen.

Jonah blieb, obwohl er gehen wollte.

Er schlief, obwohl er wach bleiben wollte.

Er aß das Mittagessen, das Jack dann für ihn kochte, obwohl er es nicht tun wollte.

Er weinte, obwohl er stark zu sein versuchte.

Und er ließ sich ganz vorsichtig umarmen, als Jack ihn am folgenden Abend, wie er es versprochen hatte, zum Busbahnhof brachte und dort geduldig abwartete, bis er sicher im erstbesten Greyhound in Richtung Westen saß. So weit weg wie irgendwie möglich, das war Jonahs nächstes Ziel, und als er eine fürs Erste einigermaßen bequeme Sitzposition gefunden hatte, sah er aus dem Fenster zu Jack, der lächelnd die Hand hob.

Das stumme, mit den Lippen geformte »Viel Glück, Junge.« konnte er ohne Probleme lesen, und Jonah nickte und erwiderte den Gruß, bis der Bus anfuhr und sowohl diesen netten, alten Mann, als auch sein bisheriges Leben hinter ihm zurückließ.



Kapitel 2

»Wie lange willst du dich noch da oben verstecken?«

»Solange ich Lust dazu habe.« Sein Bruder lachte leise und Hamish Finlay MacGregor – benannt nach seinem Großvater, weil er angeblich schon kurz nach seiner Geburt stur in die Welt hinausgeblickt hatte, so wie sein Grandpa es einst tat – verzog unwillkürlich die Lippen zu einem Grinsen, bevor er »Was ist?« fragte, obwohl er die Antwort darauf bereits kannte.

Hugh und er führten dieses Gespräch nicht zum ersten Mal, und es würde garantiert nicht das letzte Mal sein, denn Hamish war einfach noch nicht dazu bereit, wieder in die Stadt und vor allem in ihr großes Familienunternehmen zurückzukehren, um sein Leben weiterzuleben, wie es jeder andere Mensch tat, der sich von seinem Partner oder von seiner Partnerin trennte. Was blieb einem auch anderes übrig, sofern man seinen alltäglichen Verpflichtungen nachgehen und seine monatlichen Rechnungen bezahlen wollte?

Hamish hatte in dieser Hinsicht nur das Glück, dass er und seine Familie weitaus mehr Geld zur Verfügung zu hatten, als die meisten anderen Menschen, und das war mit ein Grund für seine nächtliche Flucht aufs Land gewesen – rauf in ihre kleine, gemütliche Hütte am See, die schon sehr lange im Besitz seiner Familie war.

Außerdem hatte ihr Unternehmen wirklich gute Mitarbeiter, die sämtliche Immobilien, die ihnen gehörten, problemlos eine Weile ohne seine Anwesenheit verwalten konnten. Zudem war sein Vater weiterhin ein wichtiger Ansprechpartner im seinem Büro, obwohl er die Geschäfte bereits vor fünf Jahren offiziell an Hamish weitergegeben hatte, denn Hugh rannte lieber im weißen Kittel und mit einem Stethoskop in der Hand durch die Gegend, um Verletzten und Kranken zu helfen, statt im Anzug den taffen Geschäftsmann zu geben.

»Er jammert immer noch herum, dass du einfach die Konten gesperrt und ihn aus dem Haus hast werfen lassen. Wie kannst du bloß so grausam sein, ihn mittellos zurückzulassen?«

»Er darf sich jederzeit einen Job suchen«, murmelte Hamish, ohne einen Funken von Mitgefühl, denn das war schlagartig in ihm verpufft, nachdem er herausgefunden hatte, dass Brad sich auf seinen Namen drei Kreditkarten hatte ausstellen lassen und seit Monaten sein Geld mit vollen Händen ausgab.

Was ihm wahrscheinlich vorläufig nicht einmal aufgefallen wäre, hätte seine Bank sich nicht über die auffällig gestiegenen Ausgaben gewundert und bei ihm im Büro nachgefragt, denn die monatlichen Kreditabrechnungen hatte Brad wohlweislich verschwinden lassen.

Dabei hatte es Hamish nie gestört, für sie alles zu bezahlen. Er hatte nun mal viel Geld und er gab es auch gern für Abende im Kino, romantische Essen im Restaurant, teure Anzüge, die er als Unternehmensvorstand nun mal brauchte, Bücher, ein neues Möbelstück für ihr Haus oder einfach mal eine Pizzabestellung aus. Er hatte Brads Studium finanziert, obwohl er absolut nichts von Kunst verstand, aber die Landschaften und Stillleben sehr schön fand, die sein Freund zeichnete. Einige von ihnen hingen sogar in den Büros ihres Unternehmens. Er hatte auch ein Haus für sie gekauft, als Brad irgendwann gefragt hatte, ob sie nicht zusammenziehen und in naher Zukunft über eine Familie mit Kindern und einem Hund oder eine Katze nachdenken wollten. Er hatte sogar ohne mit der Wimper zu zucken den verdammt teuren Verlobungsring mit Smaragdsplittern bezahlt, die ihn so sehr an Brads grüne Augen erinnerten.

Es wäre Hamish vollkommen egal gewesen, hätte Brad sein Kunststudium nicht beendet und nur noch für ihn gezeichnet. Er war bereit gewesen, alles, auch seinen Reichtum, mit Brad zu teilen – für den Rest ihres Lebens. Doch er war nicht bereit, sich hinterrücks bestehlen zu lassen. Sich hintergehen und betrügen zu lassen, und sich das tagelange Gejammer anzuhören, als er Brad mit Hilfe eines Anwalts aus dem Haus werfen ließ, denn sein ehemaliger Verlobter stand nicht im Kaufvertrag und hatte somit kein Recht, weiter in ihrem Haus zu wohnen oder einen Schlüssel dafür zu besitzen.

Brad war freiwillig gegangen, allerdings erst, als der Anwalt ihm mit Schadenersatzforderungen und einer Klage drohte, die ihm ohnehin noch bevorstand, weil er Hamish' Unterschrift für die Kreditkartenanträge gefälscht hatte.

Zehn Jahre Beziehung – mit einem Knall beendet, der ihm sprichwörtlich den Boden unter den Füßen weggezogen hatte.

Darum war er gegangen.

Hatte das Nötigste eingepackt, ausreichend Vorräte gekauft, um für ein paar Wochen problemlos zurechtzukommen, in der Hütte Wasser und Strom anstellen lassen, und war mitten in der Nacht losgefahren, ohne irgendwem Bescheid zu sagen.

Weil er einfach raus gemusst hatte. Raus aus diesem Haus, das so stark Brads Handschrift trug, und das er wahrscheinlich streichen und komplett neu einrichten musste, falls er sich dort jemals wieder wohlfühlen wollte.

Immerhin war er am nächsten Tag so schlau gewesen, seine Familie anzurufen, die zu diesem Zeitpunkt bereits kurz davor gestanden hatte, ihn bei der Polizei als vermisst zu melden.

Seither telefonierten sie regelmäßig, denn nur weil die Hütte rundum von im Augenblick in allen Herbstfarben leuchtender Natur umgeben war, hieß das nicht, dass sie keinerlei Komfort bot. Es hatte einige Vorteile, reich zu sein, unter anderem den, dass man sich selbst hier draußen alle wichtigen Leitungen für Wasser, Strom und ein Telefon verlegen lassen konnte. Mit dem nötigen Geld ließ sich bekanntlich alles bewerkstelligen, und so war die »gemütliche, kleine Hütte« im Grunde ein vollkommen normales Wohnhaus, das an einem See mitten in einem dichten Wald von Oregon stand.

Hugh gluckste schadenfroh. »Das hat Mom auch gesagt, als er tatsächlich die Dreistigkeit besaß, bei ihnen vor der Haustür aufzutauchen, auf der Suche nach dir. Als wenn wir ihm das je verraten würden. Wie dämlich kann man bitteschön sein?«

Hamish seufzte genervt und von sich selbst frustriert. »Ich frage mich wirklich, wie ich so lange derart blind sein konnte, was Brad angeht. Dabei ist es im Nachhinein offensichtlich, was er von Anfang an wollte – ein bequemes Leben, das ich ihm mit Sicherheit auch bezahlt hätte, hätte er mich nicht beklaut.«

»Du hast ihn geliebt und an Liebe ist nichts falsch. Jedenfalls nicht grundsätzlich«, sagte sein Bruder mitfühlend, aber damit konnte er bei Hamish gerade keinen Blumentopf gewinnen.

»Ihr habt mich von Anfang an vor ihm gewarnt«, erinnerte er Hugh an eine unverrückbaren Tatsache, die anfangs immer wieder zu Streit zwischen geführt hatte, bis sie schließlich einen gemeinsamen Konsens fanden, der besagte, dass Hugh Brad in Zukunft tolerierte, während Hamish es vermied, ihn zu oft mit nach Hause zu nehmen, was nicht schwer gewesen war, weil Brad ohnehin kein Familientyp gewesen war.

Trotzdem hatte er Kinder gewollt.

Angeblich zumindest.

Hamish war sich nicht mehr so sicher, in Anbetracht dessen, wie ihre Beziehung geendet war, doch das Thema wollte er bei Hugh nicht anschneiden. Es war schlimm genug, dass er all die Jahre auf Brad reingefallen war und gerade rechtzeitig erkannt hatte, wen er da zu heiraten gedachte. Wenn sie erst Kinder und ein paar Haustiere gehabt hätten – Hamish wollte es sich lieber nicht genauer ausmalen.

Brad hätte ihn garantiert vor Gericht gezerrt und vielleicht sogar die besseren Chancen auf das alleinige Sorgerecht gehabt, denn immerhin arbeitete er nicht und hätte somit sehr viel Zeit für ihre Kinder gehabt, während Hamish oft lange im Büro war. Etwas, worüber sich Brad in all den Jahren ihrer Beziehung nie ernsthaft beschwert hatte. Tja, den Grund dafür kannte er jetzt, und der hatte ihn zum Schluss auch eine mittlere sechsstellige Summe gekostet. Geld, dem er nicht sonderlich nachweinte, so ehrlich war Hamish sich selbst gegenüber.

Um ihre Beziehung tat es ihm hingegen durchaus leid, denn sie hatten viele gute Zeiten miteinander erlebt. Außerdem war Hamish es einfach nicht mehr gewohnt, allein zu sein, und hier draußen fühlte er sich an manchen Tagen so einsam, als wäre er der letzte Mensch auf der Welt. Doch deswegen würde er nicht seine Koffer packen und nach Hause zurückfahren. Im nächsten Jahr vielleicht, aber nicht früher. Er hätte keine ruhige Minute, weil Hugh und seine liebevollen Eltern sich an seinem Haus die Klinke in die Hand geben würden, um sicherzustellen, dass ihn Brads Verrat nicht in ein tiefes Loch fallen ließ.

Bei den MacGregors lebte man Gefühle aus, egal wie dumm sie einem im ersten Moment vielleicht vorkamen, und hier oben in der Wildnis kümmerte es keinen, wenn er halbnackt draußen am Seeufer stand und vor lauter Wut heulte. Oder seinen Ärger und seine Enttäuschung über Brad mit der Axt an den dicken Holzscheiten für den Kamin ausließ, wobei er mit seinen roten Haaren und dem karierten Holzfällerhemd wahrscheinlich der feuchte Traum von tausenden Frauen und Männern wäre, sollte Hugh jemals ein Foto davon machen und es auf Instagram oder Facebook stellen.

Gott sei Dank war sein Zwilling nicht hier und er selbst war nicht so verrückt, sein Privatleben mit aller Welt zu teilen. Das hatte er noch nie getan und würde es auch nie tun. Er hieß mit Nachnamen schließlich nicht Kardashian.

»Ja, sicher, weil wir nicht die rosarote Brille auf der Nase zu sitzen hatten wie du, und darum gesehen haben, wie er tickt. Es ging ihm nicht um dich, sondern nur um dein Geld. Wobei ich nicht einmal glaube, dass er gar nichts für dich gefühlt hat. Er hatte dich gern, Hamish, ganz ernsthaft. Aber geliebt hat Brad vor allem deine Brieftasche und die Annehmlichkeiten, die sie ihm bot und die du bereitwillig mit ihm geteilt hast, was mich immer noch ernsthaft daran zweifeln lässt, dass du ein wahrer Schotte und noch dazu mein Zwillingsbruder bist.«

Hamish hätte fast losgelacht, weil sie in Bezug auf Geld wie Feuer und Wasser waren. Er selbst gab gerne welches aus, sein Bruder hingegen war manchmal ein richtiger Geizhals – wie ein echter Schotte, pflegte ihre Mutter jedes Mal amüsiert zu sagen, wenn sie sich deswegen wieder in die Haare bekamen.

»Vorsicht, du bist zwar sieben Minuten älter als ich, aber ich kann dich trotzdem jederzeit einfach in der Mitte durchknicken wie einen Zweig.«

»Als wenn du das je tun würdest«, konterte Hugh spöttisch und gluckste leise, als er daraufhin schnaubte. »Außerdem sehe ich um Längen besser aus als du, was meine Frau mir übrigens fast jede Nacht beweist, wenn sie ...«

»Bitte keine Details, sonst erzähle ich dir im Gegenzug, was Brad mit der Zunge in meinem ...«

»Hamish!«

Jetzt war es an ihm, schadenfroh zu lachen, und das nutzte er auch aus, denn in der letzten Zeit hatte Hamish kaum Grund zum Lachen gehabt. Es wurde Zeit, wieder damit anzufangen, obwohl es hier draußen für die nächste Zeit wohl keiner hören würde. Dennoch, er hatte wirklich genug Trübsal geblasen und noch dazu war in wenigen Wochen Weihnachten und dann kam Silvester. Was war besser für einen Neuanfang geeignet, als der Beginn eines neuen Jahres? Noch dazu würde die Hütte mit ein bisschen Beleuchtung, Dekoration und einem Weihnachtsbaum großartig aussehen.

Apropos Hütte …

»Ich habe ihm nie unsere Hütte gezeigt«, murmelte Hamish verblüfft und trat ans Fenster, um die Scheibengardine zur Seite zu schieben und auf den See zu sehen. Draußen war es schon dunkel, aber der Vollmond sorgte für genügend Licht, um das Wasser zu erkennen, das silbrig schimmerte. Ein toller Anblick. »Ich kann mich nicht mal daran erinnern, Brad überhaupt von ihr erzählt zu haben … Was?«, fragte er, als Hugh seufzte.

»Dad hat mal im Vertrauen zu mir gesagt, dass du vielleicht instinktiv doch ahnst, wie es in Wahrheit um Brads Gefühle für dich bestellt ist und ihn deshalb nie in unser kleines Heiligtum mitgenommen hast. Diese Hütte war und ist für uns alle immer etwas Besonderes, weißt du noch?«

Ja, das wusste er nur zu gut, denn diese Hütte war das Erste gewesen, das ihr Großvater sich hatte leisten können, nachdem er es mit harter Arbeit nach seiner Flucht aus Europa während des Zweiten Weltkrieges geschafft hatte, aus sich selbst einen ehrbaren Mann zu machen, dessen Familie später von der Stadt hochgeschätzt wurde. Heute gehörte den MacGregors die halbe Stadt und jede Menge Land drumherum, und obwohl sie selbst aufgrund ihres Alters heute in der Großstadt lebten, achteten seine Eltern weiterhin penibel darauf, dass es den Leuten hier oben an nichts fehlte.

Eigentum verpflichte – wie bereits sein Großvater immer zu sagen pflegte. Und seine Eltern nahmen den Satz ebenso ernst, wie Hamish und Hugh es taten, denn als Erben würde es eines Tages ihnen obliegen, dass die kleine Stadt am See blühte und weiter gedieh. Nicht, dass er ausschließlich deshalb Wirtschaft, Design und Werbung studiert hatte, aber es konnte nie schaden, zu wissen, wovon die Menschen sprachen, die für ihre Familie die Homepage der Stadt pflegten und jedem Unternehmen, ob groß oder klein, immer mit Rat und Tat zur Seite standen. Sein Vater war zwar nicht mehr der Bürgermeister, aber Jason Price, der diese Aufgabe seit vier Jahren innehatte, wandte sich immer noch an seine Eltern, wenn er einen Rat brauchte.

Hier oben, zwischen Bergen und dichten Wäldern, war die Welt noch in Ordnung, die Menschen achteten aufeinander und die Jungen schätzten die lange Erfahrung und Weisheit von den Alten. Zumindest meistens.

»Du wirst bis ins neue Jahr da oben bleiben, oder?«, fragte Hugh auf einmal und obwohl Hamish einen Moment ernsthaft darüber nachdachte, entschied er sich dagegen, seinen Zwilling zu belügen oder zu beschwichtigen.

»Ich bin gern hier oben, Hugh«, antwortete er daher ehrlich. »Ich komme mir zwar manchmal vor, wie der letzte Mensch auf der Welt, weil es hier oben so einsam ist, aber die Landschaft ist wunderschön, ich habe meine Ruhe und ich genieße es, einfach mal nichts zu tun. Ich wusste nicht, wie sehr mir das fehlt, bis Brad mir deutlich gezeigt hat, dass ich ein Vollidiot bin und zu viel arbeite.«

»Es ist nicht deine Schuld, Hamish. Er hätte dich so oder so beschissen … Es zumindest versucht.«

»Das weiß ich, aber wäre ich mehr zu Hause gewesen, hätte mehr Zeit für ihn gehabt, wäre es mir früher aufgefallen. Nicht das mit den Kreditkarten«, setzte Hamish erklärend nach, bevor Hugh widersprechen konnte. »Ich meine unsere Beziehung. Sie lief schon lange nicht mehr rund und ich schätze, das wussten wir beide, auch wenn wir nicht darüber geredet haben. Wie wir über so vieles zuletzt nicht mehr miteinander geredet haben. So will ich nicht weiterleben und auch nicht arbeiten, kannst du das verstehen?«

»Natürlich«, antwortete Hugh sofort und Hamish hätte vor Erleichterung beinahe geseufzt. Sein Zwilling verstand ihn, wie hatte er daran auch nur eine einzige Sekunde zweifeln können? »Du brauchst Veränderung, also nimm dir die Zeit, um in aller Ruhe herauszufinden, wie diese Veränderung später aussehen soll. Und was die Firma angeht, du weißt, dass Mom und Dad dir schon vor Jahren angeboten haben, dir ein oder zwei Leute an die Seite zu stellen, um dich damit zu entlasten. Es wäre an der Zeit, auch darüber in Ruhe nachzudenken.«

»Läuft alles?«, fragte Hamish automatisch, denn obwohl er sich regelmäßig erkundigte, wusste er, dass auch Hugh, obwohl er Arzt war, sich immer auf dem Laufenden hielt.

»Ja.« Hugh gluckste. »Dad war anfangs überrascht, wie gut alles ohne dich läuft, aber dann meinte er, sehr gut, weil dir das die Zeit gibt, die du brauchst. Ach ja, er will einen Assistenten für dich einstellen, sobald du wiederkommst, und ich glaube, in der Hinsicht ist er fest entschlossen, notfalls die »Ich mache mir Sorgen um dich, Junge, also hör auf mich und meine Weisheit«-Karte auszuspielen.«

»Wie, er schickt nicht Mom vor?«, fragte Hamish amüsiert, denn normalerweise war es ihre Mutter, die als erste auf seiner oder Hughs Türschwelle auftauchte, wenn ihre Eltern alle paar Jahre wieder der Meinung waren, ihren natürlich immer viel zu frechen Söhnen auf den Zahn fühlen zu müssen.

»Mom ist die letzte Instanz, falls die Notfallkarte dich nicht beeindruckt« konterte Hugh. »Er weiß, so wie wir alle, dass du Brad sehr geliebt hast, und er glaubt, dass deine Mutter für ein Gespräch über Herzensdinge besser geeignet ist.«

»Was sagt Mom dazu?«, fragte er.

»Dasselbe wie immer, dass er Unsinn redet, aber du kennst sie. Eine Gelegenheit, einem von uns die Ohren langzuziehen, lässt sie sich nie und nimmer entgehen.«

Hamish verdrehte schmunzelnd die Augen und wandte sich vom Fenster ab, um in die offene Küche hinüberzugehen, da er auf einmal Lust auf einen Kakao hatte, und seit er hier draußen war, gab er seinen Gelüsten viel öfter nach. Er hatte zwar kein Fitnessstudio parat, wie in der Stadt und zu Hause, aber dafür musste er regelmäßig Holz für den Kamin hacken – neben dem Generator für Notfälle die einzige Heizquelle – und schon bald würde er auch dafür sorgen müssen, dass die Wege täglich vom Schnee befreit wurden, damit die Müllabfuhr es überhaupt bis zu ihm schaffte. Notfalls konnte er seinen Abfall aber auch mit dem Auto zur städtischen Sammelstelle fahren, das taten viele, die nicht direkt in der Stadt lebten.

»Ich habe keine Chance, euch zu entkommen, oder?«

Hugh lachte. »Nicht die geringste. Oh, bevor ich es vergesse … Wir werden dich alle zu Weihnachten besuchen, ob du willst oder nicht. Wir wollen dich angucken und auch umarmen, um sicherzugehen, dass du in Ordnung bist. Also versuch gar nicht erst, dich irgendwie davor zu drücken. Besorg dir lieber einen kleinen Baum und hol unsere alte Weihnachtsdekoration vom Dachboden. Wir bringen das Essen und alles andere mit.«

»Ähm, Hugh ...«, fing er an, denn die Vorstellung, über Tage seine gesamte Familie hier zu haben, machte ihn nervöser, als er zugeben wollte. Es war eine Sache, sich manchmal ein bisschen einsam zu fühlen, aber es war eine völlig andere, auf einmal mit jeder Menge familiärer Fürsorge überfallen zu werden. So sehr er sie alle liebte, diese Hütte war im Moment sein Rückzugsort und das sollte sie bitteschön auch bleiben.

»Keine Sorge, Dad hat für uns alle Hotelzimmer in der Stadt gebucht. Wir bleiben den Weihnachtsabend und kommen zum Frühstück am nächsten Morgen vorbei, danach bist du uns aber auch schon wieder los.«

Seine Familie kannte ihn so gut. »Danke, Hugh.«

»Nicht dafür«, wehrte sein Bruder mit einem Grummeln ab und Hamish lächelte unwillkürlich, während er Milch, Kakao und einen Topf bereitstellte. »Hast du in der Zwischenzeit mit Marc gesprochen?«

Hamish zog eine ertappte Grimasse. »Nein?«

»Ist das eine Antwort oder eine Frage?«, konterte Hugh und da seufzte Hamish ertappt. »Also nein. Warum nicht? Du weißt, dass er sich Sorgen macht, was er als dein bester Freund auch darf. Vor allem, weil er nicht weiß, wo du bist, denn wir halten uns an unser Wort und sagen es ihm nicht, sonst hätte er längst an deine Tür geklopft. Stattdessen klopft er jetzt alle paar Tage an unsere Türen, weil er sichergehen will, dass es dir weiterhin gut geht. Also ruf ihn endlich an.«

Marc. Sein zweiter wunder Punkt, neben Brad, obwohl sein bester Freund dafür nicht das Geringste konnte. Doch Hamish fiel es derzeit sehr schwer, da zu unterscheiden, und was Marc ihm nach seiner Trennung von Brad erzählt hatte, war noch ein Grund für seine Flucht hierher.

»Er hätte es mir sagen müssen.«

»Mag sein, aber ich kann verstehen, warum er es nicht getan hat, bis das mit Brad und dir vorbei war. Du warst blind, sobald es um ihn ging, und du hättest Marc nie und nimmer geglaubt, dass dein Verlobter versucht hat, deinen besten Freund ins Bett zu kriegen.«

»Hugh ...« Weiter kam Hamish nicht.

»Nein, Hamish. Ich habe recht und das weißt du, deswegen bist du ja auch so sauer. Nicht auf Marc, sondern auf Brad, und vor allem auf dich selbst. Was, wie ich gerne noch hundert Mal betone, völlig unnötig ist. Marc hatte den Arsch in der Hose, dir am Ende reinen Wein einzuschenken, also sei jetzt kein Feigling und ruf ihn an. Dein Schweigen hat er nicht verdient.«

Hamish atmete tief durch und stellte den Topf mit der Milch auf den Herd. »Ja, ja, ja.«

»Das heißt, leck mich am Arsch, was ich nicht tun werde, da du der einzige stolze Regenbogenträger in unserer Familie bist. Ach ja, wenn du mit ihm redest, frag ihn nach seinem Job.«

Hamish runzelte die Stirn. »Wieso?«

»Weil sie ihn rausgeschmissen haben. Sparmaßnahmen. Das behauptet er zumindest. Und du weißt, dass Dad ihn sofort und mit Kusshand als deinen Assistenten oder eher als rechte Hand einstellen würde. Marc ist verdammt gut in dem, was er tut.«

»Muss er auch sein, weil er ...« Hamish brach ab, als abrupt der Groschen fiel. »Wo will Dad sich einkaufen?«

»Noch will er gar nichts, aber er streckt die Fühler aus und hört sich um. Marc wäre perfekt für die Öffentlichkeitsarbeit im Unternehmen geeignet, falls wir expandieren, du bist perfekt in Geldbeschaffung und in der finanziellen Verwaltung, und Dad hält mit seinen Kontakten alles zusammen, bis ihr beide es ohne ihn schafft. Du und Marc, das geschäftliche Dreamteam, das hat er schon damals gesagt, erinnerst du dich?«

Hamish erinnerte sich sogar sehr gut. Unter anderem auch an Dads Frage, warum Marc und er nicht mehr aus ihrer losen Freundschaft machen wollte – in persönlicher Hinsicht. So hatte er das damals jedenfalls ausgedrückt, woraufhin Marc und er sich angesehen und schallend gelacht hatten, denn das Thema war zu diese Zeitpunkt längst vom Tisch gewesen. Sie waren schon immer bessere Freunde, als dass sie im Bett miteinander harmoniert hätten. Nichts gegen den One-Night-Stand, der aus ihnen erst beste Freunde gemacht hatte, aber mehr würde es nie zwischen ihnen geben.

»Dad wollte uns verheiraten«, grollte Hamish, weil er selbst nach all den Jahren nicht wusste, ob er deswegen beleidigt sein oder darüber lachen sollte.

Sein Bruder lachte. »Das auch, aber vor allem wollte er euch zwei zusammen in der Firma. Die nächste Generation, weil ich ihn ja so schmählich im Stich gelassen habe und lieber einer von diesen langweiligen Quacksalbern geworden bin.«

Hamish grinste und rührte die heißer werdende Milch um. »Womit hast du ihn geärgert, dass er dir wieder damit kam?«

»Es wäre gesünder für ihn, weniger Fleisch zu essen.«

»Oh Gott, Hugh«, stöhnte er und sein Bruder lachte wieder, was ihn automatisch schmunzeln ließ. Sobald es um ihrer aller Gesundheit ging, war Hugh als Arzt mitunter unerbittlich, was er selbst auch schon zu hören bekommen hatte, da er jahrelang seine Muskeln im Fitnessstudio gestählt hatte und dabei früher nicht unbedingt gut mit sich umgegangen war. Jetzt mit Mitte Vierzig war Hamish klüger und achtete viel mehr auf eine gute, ausgewogene Ernährung, verbrachte mehr Zeit an der frischen Luft und trank kaum noch Alkohol.

Nur was seine Arbeitszeiten anging, hatte er eindeutig noch Verbesserungsbedarf, doch mit einem Assistenten oder ein paar Leuten, an die er einige seiner Arbeit delegieren konnte – okay, er sollte wirklich mit Marc reden.

»Ich konnte einfach nicht widerstehen, du kennst mich. Und seit du besser auf dich achtest, habe ich nur noch ihn, wenn es um ungesunde Ernährung und zu viel Süßkram geht.«

Hamish lachte leise und gab drei große Löffel Kakao in den Topf. »Irgendwann wird er dir dafür den Hintern versohlen.«

»Wahrscheinlich. Ruf Marc an, ja? Und bleib nicht zu lange auf, es ist gleich Mitternacht.«

»Sagt der Arzt, der in vier Stunden wieder aufstehen muss, weil er diese Woche Frühschicht hat.«

»Es sollte mir zu denken geben, dass du meinen Schichtplan besser im Kopf hast, als meine eigene Ehefrau. Aber damit kann ich sie am Wochenende wieder ärgern. Natürlich wird sie sich ausführlich für ihr schwaches Gedächtnis bei mir entschuldigen und ich werde ihre Entschuldigung mit Genuss annehmen.«

»Und mehr will ich lieber nicht wissen«, murmelte Hamish und grinste, als sein Bruder erneut lachte. »Hugh? Dir ist klar, dass sie deine Schichten in- und auswendig kennt, oder?«

»Natürlich, immerhin ist Sally viel cleverer als ich. Ich kann froh sein, dass sie mich trotzdem geheiratet hat. Aber es macht einfach zu viel Spaß, sie damit zu ärgern, denn wenn wir nachts böser Doktor und unschuldige Krankenschwester spielen ...«

»Oh mein Gott, behalt den Rest bitte für dich. Aber ruf mich gefälligst als ersten an, sobald mein nächster Neffe oder meine nächste Nichte unterwegs ist.«

»Mache ich. Gute Nacht, kleiner Bruder.«

Hamish legte sein Handy kopfschüttelnd und zugleich leise lachend auf die Arbeitsplatte, schaltete den Herd aus und goss den Kakao vorsichtig in die bereitgestellte Tasse. Sein Zwilling konnte ein solcher Kindskopf sein, besonders wenn es um Sally ging. Die beiden liebten einander abgöttisch und Hamish, auch wenn er das Hugh nie sagen würde, war mitunter neidisch auf die enge Beziehung des Paares, da Brad und er diesen Punkt nie erreicht hatten.

Vielleicht würde er eines Tages einen Mann finden, mit dem das möglich war, denn er wollte genau das. Eine Liebe, die bis ans Lebensende hielt, so wie seine Eltern es ihnen von Kindheit an vorgemacht hatten, und wie Hugh es fortführte. Mit kleinen Geschenken zu allen möglichen Gelegenheiten, mit liebevollen Küssen morgens, abends und überhaupt zu jeder Tageszeit, mit Händchen halten und mit so viel Liebe, dass sie den Beteiligten sprichwörtlich aus allen Ohren herauskam, weil Hamish seinen Eltern und auch Hugh und Sally ansehen konnte, wie verrückt sie nacheinander waren. Und mit weniger wollte und würde er sich nicht mehr zufriedengeben.

Brad lag hinter ihm und er hatte noch sein halbes Leben vor sich. Irgendwo da draußen gab es einen Partner für ihn, der all das verkörperte, was Hamish sich wünschte, und der sich nicht an seinen roten Haaren, seinem Vollbart und den schottischen Vorfahren störte. Und der vor allem nicht nur hinter der dicken Brieftasche her war, die er sein eigen nannte.

»Ich muss ihn nur noch finden«, flüsterte er in die Stille der Hütte hinein, denn das Feuer im Kamin war heruntergebrannt und nur ab und zu knackte noch einer der Holzscheite, wenn er zerbrach und dann die Funken stoben.

Langsam wurde es kühl und Hamish griff auf seinem Weg zum Fenster nach einer der Sofadecken, um sie sich über seine Schulter zu legen. Er trank einen Schluck Kakao und suchte den Vollmond, der heute unglaublich groß zu sein schien. Vielleicht sollte er vor dem Schlafengehen kurz zum Steg hinuntergehen und für ein paar Minuten die Stille der Nacht genießen.

Hamish sah zum Steg, die Tasse erhoben, um einen weiteren Schluck zu trinken, doch seine Hand erstarrte in der Bewegung zum Mund, während er fassungslos auf einen Mann blickte, der gerade vom Steg ins eisige Wasser kletterte – und was er damit bezweckte, musste ihm niemand erklären.

»Oh mein Gott.«

Wie er die Tasse und die Decke losgeworden war, wusste er schon nicht mehr, als er die Tür der Hütte aufriss und in einem Tempo losrannte, wie er noch nie zuvor gerannt war.

Hoffentlich kam er nicht zu spät.