Wie ein Schmetterling in der Nacht


Leseprobe

(Achtung: unkorrigierte Leseprobe)


Prolog

 

 

Ich blutete den dreckigen Betonboden voll.

Nicht zum ersten Mal in meiner Karriere beim FBI, aber es würde das letzte Mal sein, wenn meine Verstärkung nicht bald hier auftauchte und mir den Arsch rettete.

Ich hatte alles riskiert, um Dave, meinen eigenen Ex-Partner und ehemals auch guten Freund, für den Handel mit Drogen, für Geldwäsche im großen Stil und den eiskalten Mord an einer viel zu jungen Prostituierten dranzukriegen, die bereit gewesen war, gegen ihn auszusagen. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass Trevor, mein aktueller Partner, mir hinterrücks eine Kugel in die Schulter jagen würde, da er seit Monaten mit Dave unter einer Decke steckte.

Niemand hatte damit gerechnet.

Darum verblutete ich gerade, während die Verstärkung aus Sicherheitsgründen mehrere Minuten hinter mir war. Minuten, die ich nicht mehr hatte, sofern ein Arzt sich nicht bald um die Kugel in meiner Schulter und die drei anderen in meinem Bein, meiner Brust und im Bauch kümmerte. Letztere hatte ich Dave zu verdanken und vor allem die Kugel im Bauch war ein großes Problem, das wusste ich, weil ich Kurse für die Erstversorgung bei Verletzungen im Einsatz absolviert hatte.

Andererseits hätte die sekündlich anwachsende Lache Blut um mich herum mir auch so klargemacht, dass ich verdammt tief in der sprichwörtlichen Scheiße saß.

»Warum?«, fragte ich keuchend, da ich sie am Reden halten wollte. So lange sie redeten, was vor allem Dave ziemlich gerne tat, konnten sie mir keine fünfte Kugel in den Körper, vorrangig in den Kopf, jagen. Und darauf setzte ich, da mir anderweitige Optionen leider ausgegangen waren. Hoffentlich konnte meine Verstärkung wenigstens verhindern, dass Dave und Trevor sich für immer absetzten, falls für mich jede Hilfe zu spät kam.

»Für Geld, warum sonst?«, konterte Dave lässig und hockte sich, die 38iger noch in der Hand, mit der mich ohne zu zögern niedergeschossen hatte, vor mich. »Und ich war mir eigentlich sicher, dass gerade du mich verstehen würdest. Ich meine, wie oft haben sie dich mittlerweile bei einer geplanten Beförderung übergangen, weil du schwarz und zur Hälfte Indianer bist? Du hattest dreimal die besten Ergebnisse und trotzdem haben sie lieber einen Weißen auf den Posten gesetzt, der dir zugestanden hätte. Kotzt dich das nicht langsam an?«

Ich nickte schwach, denn es ärgerte mich durchaus, weil ich wusste, dass ich verdammt gut war, und bloß aufgrund meiner Herkunft und der Hautfarbe übergangen worden war. Aber ich war auch noch jung und hatte viele weitere Jahre beim FBI vor mir – sofern ich heute nicht starb –, in denen es genug Chancen geben dürfte, mich zu beweisen. Gute Agenten wurden früher oder später immer mit entsprechenden Stellen und Gehältern gewürdigt, damit sie blieben, weil die Privatwirtschaft niemals schlief und herausragende Agenten gerne abwarb.

Ich würde Karriere machen, auf die eine oder andere Weise, aber ich würde sie nicht auf dem Rücken unschuldiger Frauen und Drogensüchtiger machen, um mir ein finanzielles Polster für den späteren Ruhestand anzulegen. Wer zum FBI ging, tat es im Normalfall nicht, um damit reich zu werden, sondern um Menschen zu helfen, Verbrecher von den Straßen zu holen, den Staat zu beschützen und auch um menschliche Monster wie Ted Bundy, Gary Ridgway oder Charles Manson für immer dingfest zu machen. Wobei die Jagd nach brutalen Serienmördern doch eher die Ausnahme war.

Andererseits war es auch nicht normal, den eigenen Partner zu jagen, weil der aus Geldgier die Seiten gewechselt hatte, und trotzdem war ich hier und kämpfte ums Überleben.

»Natürlich tut es das. Aber deshalb töte ich keine Menschen oder verkaufe Drogen an Kinder und Jugendliche.«

Dave winkte ab, während Trevor damit beschäftigt war, das Geld von ihrem letzten Drogendeal aus einem total verbeulten Koffer in eine bunte Reisetasche umzupacken, denn die beiden wollten den nächsten Flug nach Kuba erwischen und ich wollte sie daran hindern – egal wie.

»Wegen einer Nutte machst du so ein Theater und versuchst tatsächlich, mich dranzukriegen? Ernsthaft? Himmel, Rory, das du so pingelig bist, hätte ich nicht gedacht. Wie gut, dass Trevor dich immer im Auge behalten hat.« Dave sah auf die Uhr. »Beeil dich, wir müssen los.«

»Bin gleich fertig«, konterte Trevor, während ich versuchte, Luft zu holen, was mir nur noch mehr schlecht als recht gelang. »Wie lange willst du eigentlich noch warten? Erschieß ihn doch endlich, damit Ruhe ist.«

»Gleich«, erklärte Dave hörbar amüsiert und warf mir einen belustigten Blick zu. »Er ist immer so ungeduldig, nicht wahr? Aber egal, er hat einen guten Job gemacht.« Dave schürzte die Lippen und hob den Arm mit der Waffe. »Allerdings konnte ich  noch nie gut teilen.« Ehe ich die Chance hatte, Trevor irgendwie zu warnen, hallte der Knall eines Schusses durch die Halle und mein korrupter Partner ging zu Boden wie ein sprichwörtlicher Stein. Dave lockerte mit einem Seufzen seine Schultern, danach zwinkerte er mir zu. »Warum auch teilen, wenn man alles für sich behalten kann?«

»Du warst schon immer gierig … Vor allem beim Essen.« Es dauerte einen Moment, aber ich schaffte ein Grinsen. »Weißt du noch? Das Barbecue bei Charlie?«

Dave lachte und schüttelte dabei den Kopf. »Das werde ich nie vergessen. Wir haben so viel gelacht an jenem Abend, bevor wir dann … Tja, das weißt du ja selbst.« Sein Blick wurde ernst. »Ich wünschte wirklich, du wärst nicht so penibel und korrekt, was den Job angeht, Rory. Dich hätte ich nicht erschossen.«

»Ich weiß.«

Und das wusste ich wirklich, denn für eine einzige Nacht – nach besagtem Barbecue bei Charlie, einem Kumpel von Dave, der letztes Jahr bei einem Raubüberfall in seinem Laden getötet worden war –, waren wir etwas Besonderes gewesen. Doch das war so lange her, dass es heute kaum mehr als eine verblasste Erinnerung für mich war, wohingegen der vermummte Mann, der gerade rechts hinter Dave durch ein Oberlicht im Dach in die Halle kletterte, weder verblasst noch eine Erinnerung war. Und hoffentlich war das Gewehr über seiner Schulter echt.

»Ich wünschte, ich müsste das nicht tun. Ich mag dich Rory. Ich mochte dich immer.«

Auch das wusste ich, aber er und ich, das war von Anfang an keine gute Konstellation gewesen, darum hatten wir aus der einen Nacht nie mehr gemacht, obwohl ich eine Weile durchaus darüber nachgedacht hatte, denn die Arbeit für das FBI machte einsam. Vor allem, wenn man aussah wie ich.

»Es wäre niemals gut gegangen.«

Dave nickte und wirkte darüber für einen Moment ernsthaft traurig. Doch der Moment verging und dann hob er die Waffe und richtete sie auf mich. »Leb wohl, Rory.«


Kapitel 1

»Der Mann ist halb tot, Frey!«

»Er ist doch bloß in Ohnmacht gefallen.«

»Nachdem Sie auf ihn geschossen haben.«

»Ich habe daneben gezielt.«

»Mit einer Schrotflinte!«

»Die mit Platzpatronen geladen war.«

»Frey!«

Dass die Sekretärin mir gegenüber keine Miene verzog, fand ich beeindruckend. Entweder hatte sie Gespräche wie dieses in ihrer Zeit als Vordame von FBI Supervisor Thomas Anderson schon des Öfteren mitgehört oder es interessierte sie nicht, dass ihr Boss gerade den Superprofiler des Landes – zumindest hielt ihn die Presse dafür – verbal zusammenfaltete.

Wahrscheinlich passierte das etwa einmal pro Woche.

Sofern an den Gerüchten über Profiler Liam Frey auch bloß die Hälfte wahr war, hätte mich das jedenfalls nicht gewundert. Er galt bei der Presse vielleicht als Wunderkind, wenn es darum ging, aus den widerwärtigsten Verbrechern innerhalb kürzester Geständnisse zu bekommen, und ich wollte mit Sicherheit nicht kleinreden, was er im Laufe seiner bisherigen Karriere bei der BAU bereits erreicht hatte, dennoch traute ich dem Mann nicht, seit ich vor einiger Zeit ein Foto von ihm gesehen hatte.

Es war im Grunde ein auf den ersten Blick harmloses Bild gewesen, auf dem er einen teuren Anzug trug, frisch rasiert war und in die Kamera lächelte. Ein perfektes Lächeln mit strahlend weißen Zähnen, das aus ihm den Traum jeder Schwiegermutter machte, nur hatte das Lächeln seine Augen nicht erreicht.

Wunderschöne, große und tiefgrüne Augen.

Kalte, resignierte und tote Augen.

Warum niemand sah oder nicht sehen wollte, wie gefährlich dieser Agent war, war mir ein Rätsel, aber ich hatte mich damit abgefunden, denn dank seiner Expertise hatten wir allein in den letzten zehn Jahren mehr als fünf Serienmörder und doppelt so viele Pädophile dingfest machen können. Einige hatten es zwar nicht lebendig ins Gefängnis geschafft, aber solchen Monstern heulte bekanntlich niemand eine Träne nach.

Was auch für Christopher Charleston galt, der, soweit wir es im Moment wussten, achtundzwanzig Frauen und Männer auf bestialische Weise missbraucht und danach ermordet hatte, und trotz der höchsten Sicherheitsvorkehrungen aus dem Gefängnis entkommen war.

Ich wollte mir lieber nicht ausmalen, was sich das FBI schon bald würde anhören dürfen, wenn erst die hiesige Presse davon Wind bekam.

»Es hat funktioniert. Er hat preisgegeben, wo er sein letztes Opfer versteckt hat, und das keine Sekunde zu früh.«

»Was auch der einzige Grund ist, warum ich Sie nicht längst hochkant rausgeschmissen habe, Frey.«

»Ich liefere Ergebnisse. Das war schon immer so.«

Und deshalb hatte Frey in der BAU auch Narrenfreiheit. Ich lehnte mich kopfschüttelnd nach hinten. Man hätte die Bürotür oder besser das gesamte Büro vernünftig schallisolieren sollen. Bequemere Stühle hier im Vorzimmer wären ebenfalls eine gute Investition gewesen.

»Ihre Methoden sind bisweilen mangelhaft.«

»Erläutern Sie das genauer, Sir.«

Oh ja, bitte, dachte ich, denn mich interessierte gewaltig, was mein neuer Partner mit diesem Kinderschänder angestellt hatte, der seit gestern Abend im Krankenhaus lag, statt im Gefängnis zu sitzen, wo er eigentlich hingehörte. Gut, da würde er zwar in Kürze trotzdem landen und bis zu seinem Lebensende bleiben, wenn ihn im Knast nicht ein Mitgefangener vorher umbrachte – Kinderschänder waren bei ihren Mitgefangenen ebenso beliebt wie eine blutende Warze am Arsch –, aber der Umweg über das Krankenhaus kostete den Steuerzahler jedes Mal unnötig Geld, und dieses Land stand schon so lange am Rande des Bankrotts, dass es mich jedes Mal aufs Neue erstaunte, wenn auf einmal irgendwo Budget für neue Bürocomputer, Waffen oder andere Spielereien gefunden wurde, das man beim FBI dann möglichst schnell ausgab, bevor einem Büroheini aus der Finanzabteilung noch einfiel, dass es gar nicht bei uns hatte landen sollen.

»Ernsthaft, Frey?«

»Ich mache niemals Witze, Sir.«

Die Sekretärin grinste kurz, bevor sie weiter auf die Tastatur ihres Computers einhämmerte, und das tat diese Frau in einem so unglaublichen Tempo, dass jede vollautomatische Waffe mit Sicherheit vor Neid erblasst wäre.

»Bitte, wie Sie wünschen … Er hat ein blaues Auge, an der linken Hand sind drei Finger gebrochen, seine Nase wird selbst mit einer Operation nicht mehr gerade zusammenwachsen und sein Ohr musste mit acht Stichen genäht werden. Zusätzlich hat er drei gequetschte Zehen, wobei ich gar nicht wissen will, wie Sie das angestellt haben, und er pinkelt laut des behandelnden Arztes immer noch Blut. Auch wenn der Arzt gleichzeitig sagt, dass Sie ganz hervorragende Arbeit geleistet haben, weil keine bleibenden Schäden zu erwarten sind, geht es nicht an, dass Sie ständig Gesuchte misshandeln.«

Ich schnaubte abfällig. Einen mehrfachen Kindermörder als »Gesuchten« zu betiteln – gut, das war offiziell korrekt, aber in meinen Augen waren solche Leute einfach nur purer Abschaum und konnten ruhig so betitelt werden.

»Gesuchte, Sir?«

»Seien Sie nicht so herablassend, Frey. Unser Rechtssystem ist fehlerhaft, das weiß ich selbst, aber wir haben nun mal kein anderes.«

»Und deshalb feuern Sie mich auch nicht. Einen sechsfachen Kindermörder nicht zu erwischen, ganz zu schweigen von dem elfjährigen Opfer, das dank unserer schnellen Arbeit überleben wird, was die Presse bereit äußerst genüsslich ausschlachtet … Nun, sagen wir es einmal so, ein Fehlschlag in diesem Fall hätte sich in Ihrer Personalakte nicht gut gemacht, Sir.«

»Nicht jedem von uns ist seine Karriere scheißegal, Frey.«

Ich schürzte die Lippen, denn was das betraf, dachte ich wie Frey. Was auch mit daran lag, dass ich beim FBI keine Karriere mehr zu erwarten hatte, seit ich meine korrupten Partner hatte hochgehen lassen. Andererseits genoss ich seit diesem Fall oft Narrenfreiheit und bekam mehr Mittel als andere zugeteilt, um dafür zu sorgen, dass ein Skandal wie der, der mich nicht nur die erwartete Karriere, sondern auch fast mein Leben gekostet hatte, sich nicht wiederholte.

Ein korrupter FBI-Agent, der jahrelang sei Unwesen treiben konnte, ohne von seinen Kollegen oder überhaupt erwischt zu werden, war schon peinlich genug, aber zwei? Es hatte meinen damaligen Vorgesetzten den Job gekostet und das Büro war am Ende geschlossen und die dort arbeiteten Agenten auf andere Büros verteilt worden. Ich hingegen hatte, nachdem mich meine Ärzte wieder dienstfähig schrieben, eine Belobigung und dazu mein eigenes Büro direkt in Washington bekommen.

Und obwohl ich offiziell nie mehr befördert werden würde, hatte ich mit meinen achtunddreißig Jahren karrieretechnisch trotzdem bereits weit mehr erreicht, als so manch anderer FBI-Agent, wenn er in Pension ging.

»Und genau aus diesem Grund arbeite ich für Sie. Ich tue, was Sie nicht könnten, und lasse Sie die Lorbeeren einheimsen. Doch das wird nur so lange funktionieren, wie Sie weiter hinter mir stehen … Sir.«

Wow, noch direkter ging es nicht.

Ich richtete mich auf, weil ich auf gar keinen Fall Andersons nächste Worte verpassen wollte, denn dieses Gespräch war von einer Sekunde zur anderen äußerst interessant geworden. Ganz zu schweigen davon, dass es mir deutlich klar gemacht hatte, dass Liam Frey kein Partner sein würde, der einfach tat, was ich für richtig hielt. Andererseits konnte ich mit nichtsnutzigen Ja-Sagern und unfähigen Arschkriechern nichts anfangen, was das anging, dürften wir also gut miteinander auskommen.

»Ist das eine Drohung, Frey?«

»Nein, Sir, das ist die Realität. Sie wissen, dass man mir jede Woche höher bezahlte Jobs auf dem freien Markt anbietet, und Sie wollen und können es sich nicht leisten, mich zu verlieren. Nicht nach den letzten Skandalen.«

Donnerwetter!

Mir blieb vor Staunen die Spucke weg, denn so hätte ich nie mit meinem direkten Vorgesetzten gesprochen, auch wenn ich Senior Special Agent Peter Hawkins insgeheim für einen Trottel und unfähig für den Stuhl hielt, auf dem er saß und Tag um Tag Entscheidungen traf, die meiner Meinung nach von jemandem getroffen werden sollten, der wusste, was er tat, und dem die Sicherheit der Frauen und Männer, die er im schlimmsten Fall in den Tod schickte, nicht egal war.

Und das Schlimme war, dass Hawkins nicht der einzige mit zu viel Entscheidungsgewalt und zu wenig Integrität war. Mein Glück war, dass ich ihm nur prophylaktisch unterstellt war und seine Befehle durchaus ignorieren konnte, wenn ich dafür einen guten Grund angeben konnte.

Bislang hatte ich damit nie Probleme gehabt, denn ich hatte Augen und Ohren, die ich zu nutzen wusste, und mir so in den letzten Jahren unzählige Informationen besorgt, für den Fall, sie einmal zu brauchen. Anders ausgedrückt, ich wusste viel über diverse unfähige Kollegen und ich war bereit, dieses Wissen im Notfall einzusetzen. Doch bis dahin würde ich meine Gedanken für mich behalten, denn Gedanken waren bekanntlich immer frei, während das ausgesprochene Wort einem im schlimmsten Fall beruflich das Genick brechen konnte.

Frey schien davor keine Angst zu haben, zumindest machte er auf mich den Eindruck, aber ob sich das als gut oder schlecht für unsere geplante Zusammenarbeit entpuppte – abwarten.

»Treiben Sie es nicht zu weit, Frey.«

»Ich kenne meinen Wert, Sir.«

Dem war nichts weiter hinzuzufügen, denn Liam Frey war zwar erst Anfang Vierzig, aber unter Profilern trotzdem bereits eine Legende, und dass der Mann das wusste – ich hätte ihn für einen Deppen gehalten, wäre dem nicht so gewesen. Immerhin kannte ich meinen eigenen Wert und meine Stellung ebenfalls und wusste, dass ich mir mehr als andere erlauben konnte. Wie lange das so blieb, stand allerdings in den Sternen.

»Das ist mir klar, trotzdem werden Sie nach diesem Fall für eine Weile aus der Schusslinie verschwinden. Washington kann es sich vielleicht nicht leisten, Sie rauszuwerfen, aber fürs Erste will sie auch niemand hier haben, deswegen schicke ich Sie ins Hinterland, wie wir immer so schön sagen. Special Agent Rory Delgado sitzt draußen, er wird Ihr neuer Partner. Da er den Fall leitet, was übrigens eine Anweisung von ganz oben ist, werden Sie gefälligst tun, was er befiehlt, ihm helfen, so gut Sie können, und dabei möglichst unter dem Radar bleiben.«

»Worum geht es?«

»Sie sollen Christopher Charleston wieder einfangen.«

»Der sitzt doch im ADX«, erklärte Frey hörbar verblüfft und ich zog unwillkürlich eine Grimasse, obwohl ich gar nichts für den Ausbruch dieses Serienmörders konnte.

Aber es waren Kollegen gestorben. Junge Kollegen, die ihre Leben noch vor sich und zum Teil bereits Familie gehabt hatten. Und als wäre ihr Tod nicht schon schlimm genug, deutete alles darauf hin, dass sie intern verraten worden waren, genauso wie es mir damals ergangen war, und das nahm ich persönlich. Ein Agent sollte sich auf seine Kollegen verlassen können und sich nicht ständig fragen müssen, ob möglicherweise irgendjemand im Büro wichtige Informationen, so wie die Route zum Gericht, auf der die Truppe aus dem Hinterhalt überfallen worden war, an den Meistbietenden verkauft hatte.

»Nicht mehr. Er ist den ortsansässigen FBI-Agents während einer Überführung zu einer kurzfristig anberaumten Anhörung vor Gericht entwischt, die sich hinterher als Fake herausstellte. Als man das herausfand, waren allerdings bereits drei Agenten tot, zwei weitere schwer verletzt und der sechste liegt im Koma. Das war vor zwei Tagen und wie lange es gelingt, auf der Sache einen Deckel zu halten, weiß nur der liebe Gott.«

»Eine erfundene Gerichtsverhandlung und das fällt keinem auf? Was für Stümper arbeiten in Colorado bitteschön?«

Ich presste die Zähne zusammen, denn ich mochte es nicht, dass er unser beider Kollegen als »Stümper« bezeichnete. Falls sich herausstellte, dass sie korrupt waren und den Tod von drei Agenten zu verantworten hatten, war »Stümper« wahrlich nicht das richtige Wort für diese Agenten. Und wenn Frey damit das Team meinte, das auf offener Straße überfallen und in einer Art Wild-West-Manier zusammengeschossen worden war, würde ich ihm eine reinhauen.

»Das gilt es herauszufinden. Delgado ist ein harter Hund. Er hat vor vielen Jahren zwei korrupte Agenten hochgehen lassen und ist seither bei den hiesigen Strafverfolgungsbehörden über die Maßen beliebt, wie Sie sich sicher vorstellen können. Daher werden Sie ihm an die Seite gestellt, denn Ihr Name ist jedem Bullen von der Ost- bis rüber zur Westküste bekannt, seit Sie im Alleingang Martin Summers dingfest haben. Nichtsdestotrotz wird man Sie misstrauisch beäugen und Ihnen garantiert Steine in den Weg legen. Wie immer, wenn es um korrupte Cops geht, denn alles deutet darauf hin, dass Charleston bei seiner Flucht die Hilfe eines oder mehrerer Insider hatte. Halten Sie Ihre Waffe daher stets griffbereit, Frey.«

»Werden wir es mit korrupten Agenten zu tun bekommen?«

»Eine sehr gute Frage. Delgado stellt sie sich ebenfalls. Also passen Sie auf Ihren Rücken und Ihren Partner auf, während sie herausfinden, was in Colorado los ist. Ich erwarte, dass Sie dort nicht anecken, wie Sie es sonst mit Begeisterung tun. Was Ihren Partner angeht, mache ich mir diesbezüglich keine Sorgen.«

»Oh mein Gott, ein Paragrafenreiter. Ernsthaft, Tom?«

Tom? Frey nannte seinen Supervisor beim Vornamen? Diese Geschichte wurde immer besser, und dass er mich offenbar für einen Korinthenkacker hielt, der streng nach Vorschrift vorging – nun, er würde schnell feststellen, dass er damit falsch lag. Ich rieb mir mit einem leisen Aufstöhnen die Augen, was mir einen mitleidigen Blick der Sekretärin einbrachte, bevor sie ungerührt weiter auf die Tastatur ihres Computers einhämmerte.

»Ich erwarte, dass du dich von deiner besten Seite zeigst, ist das klar? Und jetzt raus hier! Ich will mit Agent Delgado alleine sprechen. Er holt dich morgen früh zu Hause ab, damit ihr euch auf dem Weg zum Flughafen beschnuppern könnt, während er dir alle weiteren Informationen zu dem Fall gibt, soweit wir sie in der knappen Zeit zusammentragen konnten. Ein Mietwagen für euch, Flüge, zwei Hotelzimmer – alles ist bereits gebucht. Pack deinen Koffer und nimm deine Winterausstattung mit. Sie haben schon seit vorletzter Woche Nachtfrost und tagsüber nur noch einstellige Temperaturen.«

Anderson hatte nicht übertrieben. Ich hatte mich ebenfalls über das Wetter informiert und es sah im Moment ganz danach aus, als stünde Colorado ein früher Wintereinbruch bevor, denn hier in Washington herrschte für Anfang Oktober weiterhin ein perfekter Indian Summer, was die Halloweendekoration an, vor und in den Häusern erst so richtig zur Geltung brachte.

»Jawohl, Sir!«

Es hätte bloß noch gefehlt, dass ich ein Geräusch hörte, wie Schuhe hart an den Hacken zusammengeschlagen wurden. Ich musste über meinen albernen Gedanken grinsen und natürlich öffnete Frey in genau der Sekunde die Tür von Andersons Büro und trat ins Vorzimmer. Unsere Blicke trafen sich.

»Na toll, ein schwarzer Indianer. Ich fasse es nicht.«

»Liam!«, rief der Supervisor im Zimmer verärgert und Freys grüne Augen verdrehten sich, während er mir gleichzeitig ein freches Grinsen zuwarf, das mir verriet, dass seine Worte zuvor nur gefallen waren, um Anderson damit zu ärgern.

Gut für ihn. Unter den Tisch fallen lassen würde ich diesen Spruch trotzdem nicht, denn ich hatte nicht vor, diesen Fall mit einem Idioten zu bearbeiten, der mir am Ende mehr Probleme machte, als seine Mitarbeit wert war. Mit solchen Leuten hatte ich im Laufe der vergangenen Jahre einfach schon zu oft zu tun gehabt, und gerade bei diesen Ermittlungen hatte ich keinerlei Interesse daran, einen Stümper an die Seite gestellt zu kriegen, Profiler-Legende hin oder her.

»Ja, ja, ja«, grollte mein zukünftiger Partner übertrieben und gab mit einer Verbeugung die Tür frei. »Sie sind dran, Delgado. Wir sehen uns dann morgen früh.«

»Passen Sie gut auf Ihren Rücken auf, Agent Frey. Schwarze Indianer sind bekannt dafür, sich still anzuschleichen und dann hinterrücks zuzuschlagen«, erklärte ich ruhig und erntete einen erstaunten Blick. Mit deutlichen Widerworten hatte mein neuer Partner offenbar nicht gerechnet.

»Da hat jemand Krallen … Gut. Die wirst du auch brauchen, um mit mir mithalten zu können, Delgado«, murmelte Frey mit einem spöttischen Grinsen und trat außer Reichweite, bevor ich ihm kräftig gegen das Schienbein treten konnte.

Was für ein arroganter Arsch.

»Kommen Sie rein, Agent Delgado!«

Ich erhob mich und betrat das Büro des Supervisors, der für diesen Fall mein erster Ansprechpartner sein würde, auch wenn diese Zuteilung von weiter oben gekommen war. Eine Tatsache, die mir Hawkins mit verkniffener Miene mitgeteilt hatte, bevor er mir Flugtickets und alles an Unterlagen gereicht hatte, die ich brauchen würde.

Warum man Hawkins übergangen und Anderson als Leiter eingesetzt hatte, wusste ich nicht, aber ich hatte natürlich eine gewisse Ahnung, denn obwohl Hawkins mich meine Arbeit in der Regel kommentarlos machen ließ, wusste ich, dass er mich nicht ausstehen konnte, weil ich mit Achtunddreißig beruflich bereits mehr erreicht hatte, als Hawkins mit Mitte Fünfzig, und er mich deshalb lieber früher als später straucheln sehen würde. Wie viele andere im Büro auch, doch diesen Gefallen würde ich weder ihm noch den übrigen FBI-Agenten tun, die insgeheim nur darauf warteten, den »rothäutigen Nigger« fallen zu sehen.

»Setzen Sie sich.«

»Sir.« Ich nickte ihm zu und nahm Platz.

»Kommen wir gleich zur Sache. Sie wissen, dass Hawkins in dem Fall übergangen worden ist, und Sie wissen ebenfalls, dass er das nicht sehr gut aufgenommen hat. Das soll zwar nicht Ihre Sorge sein, Delgado, dennoch rede ich Klartext mit Ihnen, denn wie auch immer dieser Fall ausgeht, Sie sind ab sofort mir und meinem Büro unterstellt, und zwar dauerhaft.«

»Warum, Sir?«

Thomas Anderson legte seine Ellbogen auf dem Schreibtisch ab und verschränkte die Finger. »Lassen Sie es mich einmal so formulieren … Senior Special Agent Hawkins wird bis Ende der Woche entscheiden, in seinen vorzeitigen Ruhestand zu gehen, und da niemand sonst bereit ist, die Verantwortung für Sie und Ihre Arbeit zu übernehmen, werde ich das tun.«

Das war unmissverständlich und ich würde mich fürs Erste hüten, Anderson nach Details zu fragen. Offenbar hatte jemand in der oberen Etage entschieden, aufzuräumen, und Hawkins, der sich seit Jahren seinen Arsch platt saß, gehörte mit zu jenen, die gehen durften. Wenn auch mit vollen Bezügen, damit alles möglichst ohne Aufsehen über die Bühne ging.

Eines interessierte mich allerdings. »Ist Agent Hawkins der einzige, der in seinen wohl verdienten Ruhestand geht?«

Anderson grinste überheblich. »Nein.«

»Gibt es etwas, das ich zu meinem Fall und meinem neuen Partner wissen sollte, Sir?«, ging ich ohne weiteren Kommentar zum eigentlichen Grund meines Besuches über und Anderson nickte, bevor er sich erhob und ans Fenster seines Büros trat, um hinauszusehen.

»Soweit ich weiß, wurden Ihnen alle bisherigen Ergebnisse zu den ersten Ermittlungen zugestellt. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie Agent Frey vollumfänglich informieren. Stellen Sie sich darauf ein, dass man Ihnen in Colorado diverse Türen vor der Nase zuwerfen wird, aber da ich Ihre Akte gelesen habe, ist so ein Verhalten für Sie keine Neuigkeit, Delgado, und ich mag es, wie Sie solche Probleme zuletzt gelöst haben. Sie haben meine Freigabe, das auch weiterhin zu tun. Ebenfalls gestatte ich, dass Sie und Frey alles tun, um schnellsten herauszufinden, wer den Tod dieser Agenten zu verantworten hat. Anders ausgedrückt, tun Sie, was immer nötig ist.«

»Gilt die Devise 'nett sein' nicht mehr?«, fragte ich, denn im Normalfall wurde ich immer dazu angehalten, anfangs höflich und freundlich zu sein und erst, sofern das nicht fruchtete, mit Anzeigen bis ganz nach oben zu drohen.

»Nicht in diesem Fall.« Anderson wandte sich mir zu. »Uns läuft nämlich die Zeit davon. Christopher Charleston ist einer der schlimmsten Serienmörder der aktuellen Zeit, das wissen Sie, und sobald die Presse erfährt, dass er ausgebrochen ist, ist in diesem Land die Hölle los. Man wird das FBI in der Luft zerreißen, und das zu recht. Ganz zu schweigen von den neuen Leichen, die bald auftauchen dürften, denn Charleston wird die Gelegenheit zu weiteren Morden kaum ungenutzt lassen.«

»Er wollte die einhundert vollmachen«, murmelte ich, denn den Satz würde wohl niemand jemals vergessen. Hätte vor acht Jahren nicht ein Streifenpolizist dafür gesorgt, dass ein kaputtes Rücklicht Charleston zum Verhängnis wurde, gäbe es heute mit Sicherheit schon bedeutend mehr Leichen als die, die wir ihm dank unwiderlegbarer Beweise zuordnen konnten.

»Sorgen Sie dafür, dass er keine Gelegenheit dazu bekommt, habe ich mich klar ausgedrückt, Delgado?«

»Ja, Sir.«

Mein neuer Boss setzte sich wieder, schürzte die Lippen und schwieg einige Zeit, bis er am Ende durchatmete und nickte, so als würde er sich selbst Mut zusprechen. Ein etwas sonderbares Verhalten, fand ich, würde aber kein Wort dazu sagen. Erst mal wollte ich meinen neuen Vorgesetzten besser kennenlernen und herausfinden, wie er tickte und wie weit ich bei Ermittlungen in Zukunft gehen konnte, ohne es mir mit ihm zu verscherzen. Bei Hawkins war dazu nicht viel nötig gewesen, andererseits war der Mann ein fauler Bürohengst mit Halbglatze und Bauch.

Anderson hingegen war sichtbar durchtrainiert und sah aus, als hätte er keinerlei Schwierigkeiten damit, einen Verbrecher in der Mitte durchzuknicken – mit seinen bloßen Händen. Einen Vorgesetzten wie ihn auf meiner Seite zu wissen, könnte sich in Zukunft als verdammt nützlich erweisen. Liam Frey war dafür das beste Beispiel.

»Was Ihren neuen Partner angeht, habe ich einen guten Rat für und eine große Bitte an Sie.«

»Sir?«, fragte ich verblüfft und da grinste Anderson.

»Mein Rat lautet – fangen Sie nicht an zu saufen, so wie der letzte Partner, den wir ihm zugeteilt hatten. So was macht sich nicht gut in den Akten. Und meine Bitte lautet – erschießen Sie ihn nicht, wenn er Sie zur Weißglut treibt, was er sehr bald tun wird, verlassen Sie sich darauf. Ich mag den Mistkerl nämlich, auch wenn sich das vorhin vermutlich nicht so angehört hat.«

»Sie kennen sich, persönlich, Sir?«

Anderson schmunzelte. »Das tun wir in der Tat, Delgado … Vielleicht erzählt er es ihnen irgendwann. Fürs Erste brauchen Sie nur zu wissen, dass Liam ein sehr guter Agent ist, sieht man mal von seinen zum Teil fragwürdigen Methoden und seiner zu großen Klappe ab. Dennoch können Sie sich auf ihn verlassen. Liam wird Ihnen jederzeit den Rücken decken und ich erwarte dasselbe von Ihrer Seite.«

Der Supervisor wartete, bis ich zustimmend nickte, weil ich definitiv nicht vorhatte, einen Partner zu verlieren, egal, ob ich ihn leiden konnte oder nicht, dann lehnte er sich gemütlich in seinem Stuhl zurück und lächelte mich im nächsten Moment in einer Art und Weise an, wie wahrscheinlich ein Hai sein Opfer anlächelte, ehe er zuschnappte. Ich richtete mich unwillkürlich etwas auf, was Anderson zufrieden nicken ließ.

»Liam ist mir wichtig und ich werde niemals zulassen, dass er unter die Räder gerät. Dasselbe gilt für Sie, da ich Ihre Arbeit für wichtig und schützenswert halte. Sie können sich auf mich verlassen, solange Sie Ihren Job gut machen, denn ich bin nicht Hawkins, dem es immer nur darum ging, nach außen hin vor seinen Chefs gut dazustehen. Ich stehe für meine Agenten ein und dazu gehören jetzt auch Sie. Schnappen sie Charleston und tun Sie, was dafür nötig ist. Notfalls über die Grenzen unserer Gesetze und jeder Moral hinweg, haben Sie mich verstanden?« Ich nickte ein weiteres Mal und Andersons Blick wurde tödlich. »Und damit wir uns hier von Anfang richtig verstehen, Agent Delgado … Ich werde Sie erschießen, sofern Sie nicht dafür sorgen, dass Liam gesund und munter nach Hause kommt.«

Die Drohung nahm ich besser ernst. »Verstehe, Sir.«

»Nein, tun Sie nicht. Aber das müssen Sie auch nicht. Und jetzt raus hier!«

Na das konnte ja heiter werden.


Kapitel 2

Was auch immer Supervisor Thomas Anderson und Profiler Liam Frey verband, war mehr als nur etwas persönlich, und ich tat lieber gut daran, wenn ich diesen Umstand während unserer gemeinsamen Ermittlungen nicht eine Sekunde vergaß.

Vielleicht hätte ich bei Anderson nachhaken sollen, um mich besser darauf einstellen zu können, was mich erwarten könnte, aber man bedrängte einen Supervisor – der zugleich auch mein zukünftiger Vorgesetzter war, was ebenfalls eine Menge Fragen aufwarf, die ich weder beantworten wollte noch konnte – nun mal nicht. Ich konnte mir so einiges erlauben, aber es gab auch für mich Grenzen, und da ich diesen Fall nicht verlieren wollte, bevor ich überhaupt anfangen hatte, in ihm zu ermitteln, war es besser, den Mund zu halten. Zumindest für die ersten Tage.

»Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«

»Dad ...« Weiter kam ich nicht.

»Fang nicht so an, Junge. Du weißt, dass ich mir Sorgen um dich mache, sobald du wieder auf Mörderjagd gehst«, konterte mein Vater am Telefon brummig und ich musste unwillkürlich grinsen, da ich den alten Sturkopf vermisste. Sobald dieser Fall hinter mir lag, musste ich unbedingt ein paar Tage nach Hause fahren und mich verwöhnen lassen. »Da läuft so vieles mit, von dem du nichts weißt, sonst hätten sie dir diesen Anderson nicht ohne Vorwarnung als neuen Boss vor die Nase gesetzt. Solche Geheimniskrämerei behagt mir gar nicht, obwohl ich froh bin, dass du Hawkins los bist. Der Mann ist ein Idiot.«

Ich lachte heiter, während ich Unterwäsche, Socken und T-Shirts für mindestens eine Woche zusammensuchte. In Florence gab es hoffentlich irgendwo einen Waschsalon, denn das kleine, gemütlich wirkende Bed & Breakfast – von wegen Hotel –, in dem man für Frey und mich nebeneinanderliegende Zimmer für eine Nacht gebucht hatte, bot seinen Gästen keinen eigenen Wäscheservice an. Jedenfalls hatte ich auf der Homepage nichts dergleichen finden können.

Andererseits war Florence nun mal keine Großstadt und wir mussten nehmen, was wir kriegen konnten, und da es ohnehin nur darum ging, im ADX mit allen Wärtern zu sprechen, die für Charleston zuständig gewesen waren, würden wir kaum mehr als eine Nacht in der Stadt verbringen, und danach galt es, dem Weg der Agenten zu folgen, bis hin zum Tatort, wo man sie mit viel Feuerkraft überfallen hatte.

Laut der ersten Untersuchungen waren die FBI-Fahrzeuge förmlich von Kugeln durchsiebt worden, was bei mir die Frage aufwarf, ob es tatsächlich darum gegangen war, Charleston zu befreien oder ob vielleicht etwas ganz Anderes hinter der Sache steckte. Wer schoss denn zwei offizielle Staatsfahrzeuge, besetzt mit sechs FBI-Agenten und einem Serienmörder, zusammen, wenn er Letzteren befreien wollte? Die Chance, dass Charleston von einer Kugel getroffen wurde, war riesig gewesen, und aus dem Grund wurden derzeit alle gefundenen Blutspuren in und außerhalb der Fahrzeuge akribisch untersucht.

Ich war nämlich nicht der einzige Agent, der sich die Frage stellte, was dieser Überfall wirklich zu bedeuten hatte, aber so lange Christopher Charleston nicht zu finden war, hatte er den Status »Auf der Flucht« bekommen und den würde er behalten, bis wir ihn schnappten oder seine Leiche irgendwo auftauchte. Oder auch andere Leichen, die seine Handschrift trugen.

Aus dem Grund stand auch ein Besuch beim ortsansässigen Polizeirevier an, denn die waren die ersten am Tatort gewesen, und konnten uns sagen, was sie gesehen und welchen Eindruck sie davon bekommen hatten. Anschließend würden wir wieder nach Colorado Springs zurückfahren, wo die beiden verletzten Agenten immer noch im Krankenhaus lagen, um zu hören, ob ihnen in den letzten Tagen noch irgendetwas eingefallen war, das sie ihren Aussagen hinzufügen wollten. Vielleicht gab es ja auch gute Nachrichten von dem Agenten im Koma, ich würde mich auf jeden Fall nach ihm erkundigen.

»Was? Der Mann ist ein Idiot, das weißt du. Aber lassen wir das. Mit diesem Anderson dürftest du besser dran sein, schätze ich, obwohl ich dir diese Jagd am liebsten verbieten würde. Der Mann beschert mir eine Gänsehaut«, murrte mein Vater und ich nickte, denn den Gedanken konnte ich gut nachvollziehen.

»Christopher Charleston beschert jedem Gänsehaut.«

»Nicht der. Dein neuer Partner.«

Ich hielt überrascht darin inne, einen zweiten Anzug in eine Schutzhülle zu packen. »Frey? Was weißt du denn über den?«

Mein Vater schnaubte empört. »Offenbar mehr als du, sonst würdest du dich mit Händen und Füßen dagegen wehren, mit diesem Bleichgesicht zusammenarbeiten zu müssen.«

Ich lachte. »Dad!«

»Ja, ja, wir sind alle Menschen, ich weiß. Deine Mutter zieht mir wieder eins mit der Pfanne über, sobald sie vom Einkaufen heimkommt und mich so reden hört.«

»Was du verdient hast, Rothaut.«

»Rory!«

Ich lachte erneut. »Ich liebe dich, Dad, und ich werde so gut auf mich aufpassen, wie ich es kann. Das mache ich immer, das weißt du … Nein, wir reden jetzt nicht über Dave und Trevor, das war die berühmt-berüchtigte Ausnahme, ist ewig her und seit damals ist mir so ein Fehler nie mehr passiert.«

Chayton Delgado, seines Zeichens ein Spokane-Indianer mit Wurzeln in aller Welt und darauf mächtig stolz, seufzte, wie es nur leidgeprüfte Väter tun konnten. »Es war nicht dein Fehler, Rory. Du hast damals das Richtige getan und Dave sitzt für den Rest seines Lebens hinter Gitter. Da, wo er hingehört.«

»Er hat Trevor erschossen.«

»Zu dem Zeitpunkt hattest du wie viele Kugeln im Körper, Junge?«, konterte er beißend und ich stöhnte, denn das Thema fingen wir besser nicht an. Dass ich bei diesem Einsatz beinahe gestorben war, nahmen meine Eltern dem FBI immer noch übel, da meine Verstärkung wirklich erst im allerletzten Moment auf der Bildfläche erschienen war. »Ja, ja … Sturkopf. Willst du nun wissen, was ich über Frey ausgegraben habe?«

Wollte ich? Normalerweise machte ich mir lieber selbst ein Bild, aber irgendwie hatte ich das ungute Gefühl, dass ich bei diesem Fall eine Ausnahme machen sollte, denn Liam Frey war ein so unkonventioneller Partner, wie ich noch nie zuvor einen gehabt hatte. Ich bekam ohnehin selten Partner zugeteilt, doch ab und zu war es schon aus Sicherheitsgründen nötig, und die Jagd nach Christopher Charleston war mehr als nur ein kleines Risiko. Dieser Mörder würde vor nichts zurückschrecken, um nicht wieder ins ADX zurückzumüssen, immerhin hatte er noch eine Menge Arbeit zu erledigen.

»Will ich wissen, wie du an deine Informationen gekommen bist?«, hakte ich misstrauisch nach und mein Vater schwieg. Ich hatte es ja geahnt. »Dad!«

Jetzt lachte er und ich beließ es dabei, denn mein Vater war genauso ein Sturkopf, wie er mir immer vorwarf, einer zu sein. Tja, von wem hatte ich das wohl? Aber egal. Jedenfalls hatte er, obwohl er seit fast fünf Jahren im Ruhestand war, immer noch genug Kontakte in die Polizei, um problemlos herumschnüffeln zu können, und als ich Dad erzählt hatte, welchen Fall man mir übertragen und wen man mir für diese Ermittlungen als neuen Partner zugeteilt hatte, war er natürlich hellhörig geworden.

Er war immer ein guter Polizist gewesen. Im Reservat genau wie später in der Stadt, und er vermisste seinen Job, auch wenn er sein Leben als Pensionär sichtlich genoss. Genauso genoss er es, seit über vierzig Jahren glücklich verheiratet zu sein.

Eine Bilderbuchehe, der damals niemand eine echte Chance eingeräumt hatte, aber meine Eltern hatten allen gezeigt, dass Liebe keinerlei Grenzen kannte, weder in Form von Hautfarben noch Herkunft oder eingebildet, denn dass mein Vater Indianer war und meine Mutter schwarz – egal. Sie liebten einander und sie hatten drei, laut eigener Aussage, umwerfende Kinder in die Welt gesetzt, die, bis auf mich, weil ich mich für diesen Schritt noch nicht bereit fühlte, bereits für umwerfende Enkel gesorgt hatten, die den Fortbestand der Familie sicherten.

Ja, wir hatten es durch unsere gemischte Herkunft als kleine Kinder wahrlich nicht einfach gehabt, aber wir hatten immer gewusst, dass wir von unseren Eltern geliebt wurden, und am Ende kam es auf nichts anderes an. Solange ein Kind beschützt und geliebt wurde, konnte es alles schaffen und alles erreichen. Ich war das beste Beispiel dafür.

»Es gibt eine Menge Gerüchte über Liam Frey und ich halte das meiste davon für Blödsinn«, sagte mein Vater, während ich zwei Pullover in den Koffer räumte. Wo waren eigentlich meine Winterstiefel abgeblieben?

»Angeblich ist er das Kind zweier Serienmörder.« Das hatte ich jedenfalls im Büro gehört, kurz bevor ich aufgebrochen war, um mich Anderson vorzustellen.

»Ja, das habe ich auch gelesen.« Mein Vater murmelte einen Fluch. »Totaler Unsinn, wenn du mich fragst. Außerdem gibt es offizielle Unterlagen, die beweisen, dass seine leiblichen Eltern bei einem Autounfall starben, als er sieben Jahre alt war, und er ein halbes Jahr später von einem Freund seines Vaters adoptiert wurde, weil es keine weitere Familie gab.«

Ich horchte auf, denn da war etwas in der Stimme meines Vaters … »Du hältst die Unterlagen für gefälscht?«

»Teils, teils«, gab mein Vater zu. »Dieser Autounfall ist echt, ich habe entsprechende Zeitungsberichte darüber gefunden. Es gibt allerdings nirgends Unterlagen in Bezug auf die Adoption. Welches Jugendamt lässt eine Adoption zu, ohne vorher genaue Nachforschungen über die Adoptanten anzustellen? Er wurde adoptiert, das ist ebenfalls echt, aber der Weg dahin ist ein sehr tiefes und schwarzes Loch ohne weiterführende Informationen über seine neuen Eltern und das macht mich misstrauisch. Mit diesem Mann stimmt irgendwas nicht, Rory. Ich sage nicht, dass er gefährlich für dich werden könnte, aber …«

Mein Vater verstummte und ich stellte die mittlerweile im Flur gefundenen Winterschuhe vor meinem Bett ab. »Ich werde auf meinen Rücken achten, versprochen.«

»Gut. Also … Frey ist tatsächlich ein kleines Wunderkind, wenn es um die menschliche Psyche geht. Er hat studiert, einen Stapel beachteter Arbeiten über Serienmörder publiziert und er ist ein Doktor irgendwas in Psychologie und Psychiatrie. Er war bei der US-Army, hat sich dort auf Verhörpraktiken spezialisiert und laut einiger unbestätigter Gerüchte, war er für drei Jahre in Guantanamo und galt dort als eiskalter Hund. Dazu gibt es wie erwartet keine Unterlagen, daher kann ich bloß mutmaßen, ob an dem Gerücht was dran ist. Andererseits hat er in den letzten Jahren mehrere Serienmörder gefasst, ich traue ihm solche Jobs also definitiv zu.«

»Kann er mit mir mithalten?«, fragte ich, ohne es eingebildet zu meinen, aber ich brauchte einen Partner, auf den ich mich im Notfall blind verlassen konnte, und wenn Dad sagte, dass Frey so ein Partner war, würde ich das glauben.

»Ja, das kann er. Fitness, Schießtraining, Informationssuche – er ist großartig in seinem Job. Das einzige, was immer wieder bemängelt wird, sind seine große Klappe und seine eindeutig zu kurze Zündschnur. Er macht sich einen Spaß daraus, kleine Psychospielchen zu spielen und bei seinem Background kann ihm da niemand das Wasser reichen. Und genau das lässt er die Leute spüren, deshalb ist er auch so beliebt, wenn du verstehst, was ich meine. Fachlich ist er über jeden Zweifel erhaben, doch menschlich gilt er als arrogant, überheblich und noch so einiges mehr, das ich hier nicht wiederholen werde, weil ich das meiste davon ohne für übertrieben beziehungsweise puren Neid halte. Kurz gesagt, keiner beim FBI will mehr als unbedingt nötig mit Liam Frey zu tun haben, weil er sie in Ermittlungen meistens alt aussehen lässt, während die Cops ihn lieben, seitdem er Martin Summers von der Straße geholt hat. Wenn ich du wäre, Junge, würde ich bei wichtigen Gesprächen mit den Cops immer ihm das Wort überlassen.«

»Das kann ja heiter werden«, seufzte ich und Dad gluckste, was mich wiederum lächeln ließ. »Mach dir bitte keinen Kopf, wir kommen schon klar. Und wenn er mit den Cops redet, habe ich weniger, das mich Nerven kostet, weil ich die wohl für Frey brauchen werde.« Als Dad über meine Worte lachte, fiel mir etwas ein. »Anderson hat mich gebeten, ihn nicht zu erschießen, wenn er mich auf die Palme treibt. Die Gefahr besteht natürlich nicht, ich habe immerhin Moms ausgeglichenes Gemüt geerbt.« Was ein Scherz war, denn Mom warf gerne mit Pfannen, sobald ihr etwas nicht in den Kram passte. Deshalb lachte Dad erneut und ich sah mich nach einem Beutel für die Schuhe um. »Sollte ich sonst noch etwas über ihn wissen?«

»Liam Frey ist schwul wie ein Gänseblümchen.«

Ich erstarrte förmlich. »Was?«

Dad kicherte heiter. »Einer der Jungs auf meinem Revier hat ihn mal in einem Schwulenclub gesehen. Er war privat dort und hat mir davon erzählt, weil ich weiß, dass er Männer und auch Frauen mag, und er überrascht war, da er bei Frey einfach nicht damit gerechnet hatte. Offiziell weiß niemand davon.«

»Warum erzählst du es mir dann?«, fragte ich, denn so eine Aussage machte mein Vater nicht ohne Grund.

»Weil du mittlerweile schon so lange Single bist, dass deine Mom Angst hat, du wirst es bleiben, und du weißt wie sie über die einzig wahre Liebe denkt, nicht wahr?«

Dass ich daraufhin laut aufstöhnte, brachte meinen Vater ein weiteres Mal zum Lachen, aber zumindest ließ er das Thema im Anschluss fallen, weil er wusste, dass es mir unangenehm war. Ich hatte nichts gegen Beziehungen oder gegen die Institution der Ehe an sich, und vielleicht würde ich irgendwann beides in meinem Leben haben und sogar über Kinder nachdenken, weil ich meine Nichten und Neffen liebte, doch noch war mir meine Arbeit wichtiger. Und außerdem war es als FBI-Agent nicht so leicht, einen Partner zu finden, der hinter meinen Arbeitszeiten zurückstecken konnte, und der außerdem mit der anhaltenden Gefahr klarkam, in der ich bei Ermittlungen oft schwebte.

Dad kannte diese Probleme selbst, denn als ehemaliger Cop mit mehreren Schussnarben am Körper wusste er, wie schnell in der heutigen Zeit, wo jeder Idiot eine geladene Waffe bei sich trug, aus einem harmlosen Einsatz die Hölle auf Erden werden konnte. Wir hatten ihn in meinen Jugendjahren zweimal knapp verloren, und das hatte ihre Ehe bloß überstanden, weil meine Eltern sich mehr liebten als alles andere.

Ich kannte es nicht anders. Für mich waren sie das perfekte Paar. Schon immer. Und ich beneidete sie auch ein wenig, denn ich wurde in zwei Jahren Vierzig und hatte nicht mal eine feste Partnerschaft aufzuweisen. Mit Vierzig waren sie seit zwanzig Jahre verheiratet gewesen und hatten drei Kinder gehabt.

Solche lang haltenden Ehen gab es heutzutage fast gar nicht mehr. Dafür gab es immer mehr Scheidungen. Beziehungen, die so jung begannen, wie die meiner Eltern – für mich waren beide etwas Besonderes, und vielleicht würde ich eines Tages ja auch noch den einen Partner finden, der zu mir passte, wie er Deckel zum Topf. Und dann würde ich alles tun, um ihn zu halten und unsere Liebe zu bewahren, bis wir alt und runzlig waren.

So wie Dad und Mom es getan hatten und weiterhin taten, denn ihre Liebe hatte unter keinem guten Stern gestanden, als Dad sich als vorlauter Teenager bei einem Tagesausflug mit der Schule nach Spokane in Maliya Perrineau verliebte, die an dem Tag mit ihrer Klasse im gleichen Museum gewesen war. Diese Geschichte erzählten meine Eltern heute noch gern, obwohl ihre junge Liebe im Reservat meines Vaters als unmöglich und auch als riesiger Skandal gegolten hatte.

Ein Indianer und eine schwarze Frau aus gutem Hause. Das würde niemals gutgehen. Und, oh Gott, die armen Kinder – wie monatelang, zuerst zögernd hinter ihrem Rücken und am Ende offen, getratscht wurde, als Mom mit Roman, dem Ältesten von uns Jungs, schwanger geworden war.

Dabei waren sie zu dem Zeitpunkt bereits verheiratet, denn meine Mutter hatte gleich nach ihrer Ausbildung ihre Familie in Spokane hinter sich gelassen und war ins Reservat gezogen, um dort als Lehrerin zu arbeiten, während mein Vater zu jener Zeit als Stammespolizist tätig gewesen war.

Niemand hatte an ihre Liebe geglaubt – außer sie selbst.

Aber das war lange her, denn die wachsenden Probleme im Reservat, mit Alkoholismus, Arbeitslosigkeit, Gewalt und auch Drogen, sowie die fehlenden Möglichkeiten, um ihren Kindern eine vernünftige Bildung zu ermöglichen, hatten am Ende dafür gesorgt, dass ich als ihr dritter und jüngster Sohn zwar noch im Reservat geboren worden war, mich aber kaum an die Zeit dort erinnern konnte, denn groß geworden waren meine Brüder und ich in Spokane, wo meine Familie heute noch lebte.

Ich war von den Delgados der einzige Weltenbummler, wie Mom es immer liebevoll ausdrückte, denn sie waren alle, meine Eltern so wie meine Brüder, mächtig stolz auf mich, auch wenn sie sich immerzu Sorgen machten.

Apropos Brüder …

»Wie geht’s Devon und Gimli?«

Dad stöhnte resigniert. »Musst du ihn immer so nennen?«

Ich grinste. »Wenn sich mein lieber Bruder als bekennender Herr der Ringe – Fan Zöpfe in seinen Bart flechtet ...«

»Ja, ja, sag es nicht.« Mein Vater gluckste amüsiert. »Ihr seid furchtbar, ihr drei, aber wir lieben euch trotzdem. Und Roman hat sich erst letzte Woche darüber beschwert, dass du schon seit Weihnachten nicht mehr zu Hause warst.«

Was sehr gute Gründe hatte, denn erstens war der Weg nach Hause recht lang und wenn ich erst einmal dort war, wollte ich zweitens auch meist nicht mehr weg, während ich gleichzeitig Washington DC, meinen Job und mein freies Leben in der Stadt vermisste. Es war nicht so, dass ich zu Hause nicht frei war, im Gegenteil. Aber in Spokane kannten mich leider zu viele Leute, vor allem nahe meines Elternhauses, und jeder begrüßte mich, wenn er mich sah, beglückwünschte mich zu neuen Erfolgen in der Arbeit und fragte im nächsten Atemzug, ob ich denn schon jemanden kennengelernt hätte, um bald zu heiraten und Kinder großzuziehen, so wie meine Brüder.

Dass ich schwul war, störte in Spokane keinen, aber dass ich mit fast Vierzig noch Single war, wurde langsam aber sicher zu einem kleinen Skandal, denn in unserem Viertel heiratete man und setzte Kinder in die Welt. Mindestens zwei.

»Und?«, fragte Dad auf einmal. »Wann kommst du endlich wieder für ein paar Tage nach Hause und stellst ihn uns vor?«

»Wen soll ich euch vorstellen?«, wunderte ich mich, denn es gab niemandem in meinem Leben. Es gab nicht mal eine kleine Affäre oder einen One-Night-Stand. Schon ziemlich lange nicht mehr. Das hatte ich zwar Weihnachten behauptet, um endlich wieder meine Ruhe zu haben, aber ich war davon ausgegangen, dass meine Familie mir diese kleine Notlüge nicht abgekauft hatte, weil sie mich viel zu gut kannte, um zu wissen, dass mein Liebesleben eine trostlose Wüste war.

»Liam Frey.«

Wie kam Dad denn jetzt ausgerechnet auf Frey? »Wieso soll ich euch meinen neuen Partner vorstellen?«

»Weil du uns Dave damals auch vorgestellt hast«, konterte er ungerührt und ich schnaubte abfällig.

»Oh ja, und wir wissen alle, was am Ende daraus geworden ist.« Als Dad gedehnt »Rory.« murmelte, zog ich eine Grimasse. »Entschuldige. Es gibt im Augenblick niemanden, Dad, und ich dachte eigentlich, das wäre euch längst klar, obwohl ich letztes Weihnachten etwas anderes behauptet habe.«

Dad lachte leise. »Das wissen wir, Rory, und um mal direkt und ehrlich zu sein, wenn du lieber Single bleiben willst, ist das deine Sache. Niemand von uns wird dir da reinreden. Aber ich gebe zu, dass deine Mom und ich in den letzten paar Jahren ab und zu den Eindruck hatten, dass es dir fehlt, jemandem in der Nähe zu haben. Jemanden, der dich festhält und für dich da ist, wenn du von einem Einsatz nach Hause kommst.«

Eltern. Vor allem meine. Es gab keine Geheimnisse zwischen uns, das hatte es nie getan. Ich verdrehte die Augen. »Es stimmt auch, mir fehlt jemand in meinem Leben. Aber mein Job ist kein Männermagnet, wenn du verstehst, was ich meine, und ich will einfach nicht vor die Wahl gestellt werden, denn dabei würde jeder Mann, Liebe hin oder her, am Ende immer den Kürzeren ziehen. In einigen Jahren ändert sich das vielleicht, aber noch ist es nicht soweit.«

Noch war ich nicht bereit für etwas Festes, und mit weniger würde ich mich nicht zufriedengeben. Ich wollte das, was Mom und Dad hatten. Was meine Brüder hatten. Ich wollte die große Liebe, nicht mehr und nicht weniger.

»Du liebst deine Arbeit, das war schon immer so. Nur frage ich dich, ob sie alles im Leben sein kann?«, fragte Dad leise und ich stieß die Luft aus, denn das war eine sehr gute Frage. »Alles wäre so einfach, gäbe es in deinem Büro einen Mann, der dein Herz und deinen Verstand anspricht. Der versteht, wie wichtig dir dein Job ist, und den es nicht stört, dass du viel arbeitest, da es ihm nicht anders geht.«

Ich schauderte, denn unter meinen Kollegen im Büro gab es absolut keinen, der mich in irgendeiner Weise ansprach. Selbst wenn es anders gewesen wäre, hätte ich mich tunlichst von ihm ferngehalten, denn Hawkins war zwar nicht homophob, er hielt aber die »Keine Beziehungen unter Kollegen«-Regal des Bureau penibel ein. Wie Anderson das handhabte, würde ich schon mit der Zeit herausfinden, doch im Moment gab es Wichtigeres, als mein nicht vorhandenes Liebesleben.

»Eines Tages«, sagte ich leise und warf dabei einen Blick in meinen Koffer, um festzustellen, dass mir noch ein paar Hosen zum wechseln fehlten, »treffe ich einen Mann, so wie du damals Mom. Unsere Blicke werden sich finden und Bumm. Das war´s. Ich werde ihn heiraten und mit ihm ein Haus kaufen. Vielleicht werde ich mit ihm sogar Kinder haben. Und noch mal vielleicht wird er zum FBI gehören. Aber dieser Mann wird mit Sicherheit nicht Liam Frey heißen.«

Dad lachte losgelöst. »Das hast du über Dave damals auch gesagt, erinnerst du dich? Und mal abgesehen davon, was dann aus ihm wurde, war er anfangs ein sehr netter Mann, der dich wirklich gern hatte, Rory.«

Das stimmte. Dave war ein verdammt netter Kerl gewesen, der meine Familie gemocht und sich in ihr genauso zu Hause gefühlt hatte, wie ich in seiner, bevor sie mich verstoßen hatten, weil ihr einziger Sohn durch mich jetzt im Gefängnis saß und selbiges erst in einem Sarg wieder verlassen würde.

Blut war nun mal dicker als Wasser und ich nahm es ihnen nicht übel. Ihr Verhalten hatte trotzdem wehgetan, denn wo sie ihr Kind verloren hatten, hatte ich einen sehr guten Freund und meinen Ex-Partner verloren. Verloren an seine eigene Gier. Und dass er mich für Geld beinahe ermordet hatte – diesen Verrat hatte ich bis heute nicht vollständig verdaut.

Aber egal.

Es war vorbei und Dave für immer begraben.

So hatte seine Mutter es nach der Urteilsverkündung unter Tränen ausgedrückt und mir hinterher ins Gesicht geschlagen, wofür sie zu einer Geldstrafe verurteilt worden war. Dave hatte Unmengen verbrannter Erde hinter sich zurückgelassen, und er gab mir noch immer die Schuld daran, auch wenn ich die Briefe nicht mehr las, die er mir seit Jahren schrieb.

Jeden Monat einen.

Plus Karten zu Weihnachten und meinem Geburtstag.

»Er schreibt mir immer noch«, sagte ich, schob den Koffer ein Stück zur Seite und setzte mich aufs Bett. Mein Blick richtete sich auf den Spiegel an der Tür und was ich sah, gefiel mir nicht wirklich. Ich sah müde aus. Abgekämpft. Einsam. Ob Frey und Anderson das vor ein paar Stunden auch gesehen hatten? Mein neuer Boss bestimmt, seinen wachen Augen schien nicht viel zu entgehen. Bei Frey war ich mir da nicht so sicher. Aber zurück zu Dave. »Ich lese seine Briefe schon seit über einem Jahr nicht mehr, aber er hört nicht damit auf.«

»Du hattest überlegt, es Hawkins zu sagen«, erinnerte mich mein Vater an ein Gespräch, das ich darüber mit Mom und ihm geführt und mich am Ende dagegen entschieden hatte, weil ich Hawkins nicht traute. »Wäre Anderson in dieser Hinsicht eine bessere Wahl?«

Eine sehr gute Frage. Ich würde es herausfinden müssen. In einer Woche oder einem Monat oder noch später, je nachdem, wie lange Frey und ich brauchten, um den Fall abzuschließen und Christopher Charleston in seine Zelle zurückzubringen.

»Erst der Fall, dann entscheide ich darüber.«

»Gut. Rory? Dieser Fall macht mich nervös. Ruf bitte ab und zu an, wenn du kannst, oder schreib eine Nachricht, damit wir wissen, dass es dir und deinem Partner gut geht.«

Ich nickte. »Das werde ich. Versprochen, Dad.«

»Ich liebe dich, Junge.«

»Ich liebe euch auch.«


Kapitel 3

Er treibt mich zum Wahnsinn.

So schnell?

Du hast ja keine Vorstellung.

Du darfst ihn trotzdem nicht erschießen, Junge.

Danke, Dad. Seine Antwort bestand aus lachenden Smileys, die mich die Augen verdrehen ließen, bevor ich ihm antwortete, da dieser Wahnsinnige, den sie mir als Partner zugeteilt hatten, gerade auf der Toilette war. Küss Mom von mir.

Mache ich.

Ich steckte mein Handy wieder weg und lehnte mich etwas zurück, was zwar dank der harten Schalensitze auch nicht viel bequemer war, aber jetzt hatte ich wenigstens den Eingang zu den Toilettenräumen im Blick, aus denen der Arsch hoffentlich bald wieder seinen Weg zu mir fand, denn wir mussten in ein paar Minuten zum Flieger.

Am liebsten wäre ich ohne Liam Frey rüber nach Colorado Springs geflogen, wo schon ein Mietwagen für uns bereit stand, mit dem wir nach Florence weiterfahren und dort mit unseren Ermittlungen beginnen sollten. Möglicherweise konnte ich ihn auf dem Weg dorthin zufällig an einer Tankstelle »verlieren«. Er würde schon einen Weg nach Hause finden, dessen war ich mir sicher. Wer aussah wie ein Sonnyboy, mit blonden, halblangen Haaren, tiefgrünen Augen und einem Körper, der offenbar dem Fitnessstudio entstammte, würde garantiert nicht auf der Straße verloren gehen.

Es sei denn, er quatschte die arme Person, die so freundlich war, ihn mitzunehmen, auch von Beginn an zu, so wie er es auf dem Weg hierher mit mir getan hatte. Nicht zu vergessen, die ständigen Sticheleien. Allein in den zwei Stunden, die wir von seiner Haustür bis in den abgesicherten Bereich des Flughafens gebraucht hatten, hatte er sich zuerst mit einem seiner seiner eigenen Nachbarn, danach mit einem Security-Mitarbeiter auf dem hiesigen Parkdeck und zum Schluss mit einem penetrant schreienden Kleinkind vor dem Getränkeautomaten angelegt, und jedes Mal das letzte Wort behalten.

Ich hätte ihn am liebsten erwürgt, nachdem er das Kind und dessen Mutter zum Heulen gebracht hatte, aber wenigstens war danach endlich Ruhe eingekehrt und wir hatten uns etwas zu trinken holen können.

Was stimmte mit diesem Kerl bloß nicht?

Dabei hatte ich von einem Mann, der in einem großen, teuer aussehenden Apartmentblock mit Concierge lebte, ein besseres Benehmen erwartet. Andererseits fragte ich mich, wie man sich mit dem Gehalt eines einfachen Profilers ein Apartment leisten konnte, das mit Sicherheit der gehobenen Einkommensschicht von Washington DC vorbehalten war.

Für einen langen Moment war mir vorhin das Wort korrupt durch den Kopf geschossen, als ich vor seiner Adresse gehalten hatte, die er mir am gestrigen Abend per Handy geschickt hatte. Inklusive einer knappen Nachricht, dass er mein Handy zwar lieber gern gehackt hätte, Anderson aber der Meinung gewesen war, dass es klüger wäre, es sich mit seinem neuen Partner nicht vor dem ersten gemeinsamen Kaffee zu verscherzen.

Aber dann hatte ich tief durchgeatmet und mir klargemacht, dass man mir dank meiner Vorgeschichte garantiert nie wieder einen korrupten Cop vor die Nase setzte, geschweige denn, ihn mir als Partner in einem so bedeutenden Fall zuteilte.

»Was ist mit der Fallakte?« Ich zuckte zusammen, als Frey sich neben mich fallen ließ und mir einen Muffin hinhielt. »Das Zeug im Flieger wollen Sie nicht essen, glauben Sie mir.«

»Danke«, murmelte ich überrumpelt, weil ich ihn nicht hatte kommen sehen, und nahm den Muffin. Schokolade mit Creme und Kaffeebohnen obendrauf. Lecker, entschied ich nach dem ersten Bissen, wobei mir auffiel, dass ich ihm noch eine Antwort schuldig war. »Sie können die Akte nachher im Flugzeug lesen. Wir müssen gleich los.«

»Okay.« Kurzes Schweigen. Dann … »Und? Schon überlegt, wen ich bestochen habe, um mir als unbedeutender Profiler so ein teures Apartment leisten zu können?«

Hätte ich den Mund voll gehabt, wäre ich jetzt garantiert an einem Stück Muffin erstickt. So aber musste ich nur einmal tief durchatmen, um mir erneut zu sagen, dass ich ihn nicht einfach erschießen durfte, obwohl er mir schwer auf die Nerven ging, bevor ich ihn ansah und nickte.

»Wahrscheinlich haben Sie Ihren Körper verkauft.«

So einen unverschämten Konter hatte er nicht erwartet, ich erkannte es daran, wie sich seine Augen kurz weiteten, aber er hatte sich so schnell wieder unter Kontrolle, dass ich mir nicht ganz sicher war, mir Freys Reaktion nicht doch nur eingebildet zu haben.

Jetzt sah er betont langsam an sich herunter. »Würde denn jemand für diesen zugegeben tollen Körper bezahlen?«

Falls er die Frage ernst meinte, würde ich ihm eine … Nein, ich durfte den Mann auch nicht schlagen. Nicht erschießen und nicht verhauen – Basta! Liam Frey war mein Partner, also hatte ich ihn entsprechend zu behandeln. Und mein Spruch war nun mal eine Steilvorlage gewesen. Dass er sich die nicht entgehen lassen würde, hatte ich mir selbst zuzuschreiben, darum würde ich seine Frage einfach ignorieren, in aller Ruhe diesen wirklich köstlichen Muffin essen, den er mir freundlicherweise spendiert hatte und ihm außerdem für selbigen danken.

»Danke für den Muffin.«

»Oh nein, mach das nicht, Delgado. Ich musste schon mit so vielen Langweilern zusammenarbeiten, die nicht in den Arsch in der Hose hatten, mir Widerworte zu geben. Wenn du auch so anfängst, lasse ich dich auf dem Weg nach Florence einfach bei der erstbesten Tankstelle stehen.«

Na sieh mal einer an. Wir dachten in manchen Dingen wohl gleicher, als ich erwartet hatte. Ich verkniff mir ein Grinsen und entschied, es noch mal zu versuchen. Dafür betrachtete ich ihn einmal ausführlich von Kopf bis Fuß und wiegte anschließend überlegend den Kopf, bevor ich mich mit dem letzten Stück des Muffins beschäftigte. Die atemlose Stille neben mir hielt gefühlt nicht mal eine Sekunde an.

»Was?«

Jetzt grinste ich doch. »Vielleicht zehn Dollar.«

Frey war so verblüfft, dass er nach Luft schnappte, bevor er plötzlich anfing zu lachen, worauf sich mehrere Menschen, vor allem Frauen, zu uns umdrehten, was mir seltsamerweise nicht gefiel. Vor allem gefiel mir nicht, wie sie ihn anstarrten. Gierig. Als gehörte er ihnen oder zumindest schienen sie sich das von ihm zu wünschen, und als eine Brünette gegenüber sich dann die dunkelrot geschminkten Lippen leckte, reichte es. Ich warf ihr einen finsteren Blick zu, der sie, als sie ihn bemerkte, hastig zur Seite blicken ließ. Gut so. Dasselbe wiederholte ich bei einer Blonden und einem muskulösen Kerl im Anzug und mit Glatze, und erst als alle wegsahen, entspannte ich mich wieder.

Meine Güte, als wäre Frey ein Steak. Unglaublich. Passierte ihm so was etwa öfter? Wenn ja, hatte er mein Mitgefühl, denn solche Blicke kannte ich nicht. Mit meinem Aussehen wurde ich nicht so angesehen. Im Gegenteil. Mir ging man spätestens mit Blick auf die FBI-Marke und meine Waffe weiträumig aus dem Weg, war mir im Allgemeinen auch am liebsten war.

»Wow, so deutlich hat noch nie jemand sein Revier markiert. Fehlt nur noch, dass du mir ans Bein pinkelst«, erklärte Frey im nächsten Moment grinsend und tat unschuldig, als ich nun ihn verärgert ansah. »Was? Du hättest sie am liebsten erschossen.«

»Ich erschieße dich, wenn du mich weiter so nervst, Frey«, erklärte ich gereizt und erhob mich, um meinen Rucksack mit den Unterlagen zu nehmen. Ich wollte das Muffin-Papier in den Mülleimer werfen, und da gerade unser Flug zum zweiten Mal aufgerufen wurde, mussten wir ohnehin los.

»Ich bin diese Art von Blicken gewöhnt, Delgado. Du musst meine Ehre nicht verteidigen.«

»Deine Ehre interessiert mich nicht. Wer andere Menschen anstarrt, als wären sie ein Stück Fleisch, über das man jederzeit verfügen kann ...« Ich brach ab und schüttelte angewidert den Kopf. »Das hat nichts mit Ehre zu tun, sondern mit eindeutig nicht vorhandenem guten Benehmen und fehlendem Anstand«, sprach ich weiter und hörte seine Schritte hinter mir, während ich einen der überall verteilten Mülleimer ansteuerte. »Nur weil du gut aussiehst, müssen sie sich nicht benehmen, als wärst du zu kaufen.«

***

Bis der Flieger in der Luft war, beschränkten wir uns auf das Nötigste, und als ich Frey schließlich alles an Unterlagen in die Hand gab, das man bislang zum Fall zusammengetragen hatte, nickte er nur und vertiefte sich darin, was mir die Gelegenheit gab, das Tablet einzuschalten und meine E-Mails abzurufen, ob es etwas Neues gab, was nicht der Fall war. Danach checkte ich meinen offiziellen FBI-Zugang, doch auch intern gab es keine neue Benachrichtigungen, also schaltete ich das Tablet wieder ab und zog stattdessen mein Handy hervor, um ein bisschen zu spielen, denn für private Nachrichten war mir das Internet im Flieger zu teuer, also würde Dad warten müssen.

»Wie sicher sind wir eigentlich, dass dieser Überfall darauf abzielte, Charleston zu befreien?«, fragte Frey nach einiger Zeit und sprach damit offen an, was mir ebenfalls Kopfzerbrechen bereitete, je länger ich darüber nachdachte.

»Null«, antwortete ich daher ehrlich und nahm ihm eins der Tatortfotos aus der Hand. Es war eine Frontalaufnahme des vorderen Fahrzeugs, ein blauer SUV, und er sah aus, als wäre er als Zielscheibe benutzt worden. »Ein Wunder, dass überhaupt jemand da lebend rausgekommen ist.«

»Wurden die an der Überführung beteiligten Agenten schon überprüft?«, wollte Frey wissen und sprach betont leise, was ich gut verstehen konnte, denn niemand tat so einen Verdacht gern und für jedermann hörbar kund, obwohl es mittlerweile zum Standardverfahren in solchen Fällen gehörte.

»Ja. Sie sind sauber. Sofern es wirklich um Charleston ging, waren sie nur Kollateralschäden.«

»Du glaubst nicht daran«, zog Frey umgehend die richtigen Schlüsse und nickte, als ich auf das Foto deutete. »Der sieht aus, als wäre er mal eine Zielscheibe auf dem Schießplatz gewesen. Dieser ganze Überfall stinkt zum Himmel.«

Ich dachte dasselbe. »Anderson lässt jede noch so kleine am Tatort gefundene Blutspur untersuchen. Wenn es dabei wirklich um Charleston ging, stehen die Chancen gut, dass er verletzt ist und in der nächsten Klinik behandelt werden muss. Falls nicht, sollten wir uns die Umgebung des Tatorts genauer ansehen. Es würde mich nicht großartig wundern, wenn wir dabei auf seine Leiche stoßen.«

»Womit sich die Frage stellen würde, wenn nicht Charleston das Ziel war, wenn es nicht um eine reine Befreiungsaktion ging … Worum ging es dann?«

Und das war eine Frage, auf die wir besser schnellstens eine Antwort fanden, sofern sich die Vermutung, dass Christopher Charlestons Befreiung bloß ein Vorwand gewesen war, als wahr herausstellte. Die FBI-Agenten waren allesamt sauber, sowohl die Überlebenden als auch die Toten. Es gab keine mysteriösen Konten, keine merkwürdigen Geldbewegungen und keiner der Männer hatte in den letzten Wochen und Monaten über seine Verhältnisse gelebt oder seinen Kindern spontan ein Vermögen vererbt, dessen Herkunft fragwürdig war.

Für mich waren die Männer damit fürs Erste aus dem Spiel, aber leider gab es noch genügend weitere auf dem Spielfeld, die wir befragen und überprüfen lassen mussten. Die wechselnden Wärter im ADX, jeder im Gericht, der in irgendeiner Form mit dem Fall zu tun haben konnte, der Gefängnisleiter. Das waren eine Menge Namen, die bereits auf einer Liste standen, und wir mussten sie eingrenzen, damit Anderson genauer hinschauen lassen konnte, während wir weiter ermittelten.

Mir fiel etwas ein. »Anderson hat mir freundlich geraten, dir die Befragungen der ortsansässigen Cops zu überlassen.«

Frey stöhnte auf. »Wieso wundert mich das nicht? Er meint immer, ich könnte einem Beduinen Sand verkaufen, weil ich zu viel quatsche. Schön, von mir aus. Ich rede mit diesen Deppen. Dafür übernimmst du den gesamten Papierkram und schreibst am Ende alle Berichte, ich hasse das nämlich.«

Damit konnte ich leben. »Einverstanden.«

»Wir sollten uns auf die Liste setzen«, sagte Frey auf einmal und ließ damit eine sprichwörtliche Bombe platzen, denn damit hätte ich nicht mal im Traum gerechnet. Und das sah er mir an, als sich unsere Blicke trafen. »Es ist logisch. Du wirst angerufen, sobald es um korrupte Cops geht, mich ziehen sie hinzu, sobald es um die schlimmsten Serienmörder geht, zu denen Charleston definitiv zählt.«

»Das mag schon sein, wir haben aber keinen korrupten Cop, der in diesen Fall involviert wäre.«

»Noch nicht«, konterte Frey und blickte zurück auf das Foto des zerschossenen SUVs. »An dem Fall hängen so viele Namen dran, dass die Liste länger ist als mein Arm. Falls da nicht noch ein korrupter Bulle auftaucht, fresse ich einen Besen. Und dank Charleston haben wir bereits einen Serienmörder.«

»Mit dem du nichts zu tun hattest. Seine Ergreifung war nur ein Zufall«, erinnerte ich ihn und erstarrte im selben Moment, als mir ein Gedanke kam, der auf den ersten Blick vollkommen abwegig schien, aber eigentlich auch wieder nicht. »Was, wenn es um uns geht. Wenn das alles inszeniert war, damit genau wir beide auf diesen Fall angesetzt werden?«

So verrückt ich die Idee selbst noch fand, Frey schürzte die Lippen und begann zu überlegen, statt meine Worte mit einem spöttischen Lachen zur Seite zu schieben und mir zu erklären, dass ich Unsinn redete.

»Wie viele korrupte Bullen würden dir gerne an den Kragen gehen?«, fragte er schließlich und ich grinste humorlos, da diese Liste wohl genauso lang sein dürfte, wie seine eigene, nur dass auf seiner ein paar der schlimmsten Serienmörder standen, die die Menschheit jemals hervorgebracht hatte. Mein toller Partner lachte kurz, dann nickte er. »Ja, so etwas dachte ich mir schon, und es macht das Ganze glaubwürdiger, als mir lieb ist, wenn ich ehrlich bin. Erzählen wir Anderson davon?«

»Noch nicht. Lass uns vorher alles andere ausschließen, ehe wir uns wichtig machen. Selbst wenn wir recht haben, fällt mir im Augenblick niemand ein, dem ich so einen Aufwand zutraue und der nicht aktuell im Gefängnis säße oder tot wäre.«

So wie Trevor.

Dave hingegen – rein theoretisch könnte ich es mir bei ihm vorstellen. Er gab mir die Schuld an allem, hatte mit Sicherheit noch Kontakte nach draußen und wäre vielleicht auch bereit, so viel Zeit, Arbeit und vor allem Geld in so einen ausgeklügelten Plan zu investieren. Daran dürfte es allerdings scheitern, denn er hatte kein Geld mehr. Auf seine Eltern traf das jedoch nicht zu. Andererseits hatten sie noch nie etwas mit Liam Frey zu tun gehabt. Jedenfalls nicht, das ich wüsste.

»Welcher Name schwirrt dir gerade durch den Kopf?« Frey sah mich forschend an.

»Dave Townsend.«

»Dein früherer FBI-Partner?« Dass Frey über Dave Bescheid wusste, überraschte mich nicht. »Hätte er genug Verstand plus ausreichende finanzielle Mittel, um so etwas aufzuziehen?«

»Nein. Seine Familie hingegen schon. Wer wäre es bei dir?«

»Martin Summers.« Frey schürzte die Lippen. »Der sitzt seit letztem Jahr übrigens ebenfalls im ADX.«

Das war mir neu und es war eine erste Verbindung, von der ich nicht sicher war, wie ich sie finden sollte. Möglicherweise spannen wir uns hier gerade irgendetwas zusammen, was vorn bis hinten keinen Bestand haben würde, aber wenn doch, dann steckten Frey und ich mitten in irgendeinem Komplott, das wir noch nicht mal ansatzweise durchschauten. Das ließ sich aber ziemlich schnell ändern, sofern wir uns die Vorgehensweise bei FBI-Ermittlungen ein bisschen zurechtbogen und dabei auf die Worte Freundlichkeit und Höflichkeit schissen. Wenn wir falsch lagen, konnten wir ja hinterher alles wieder geradebiegen.

»Was hältst du davon, Anderson bis spätestens heute Abend so richtig wütend zu machen?«, fragte ich, während in meinem Kopf ein Plan reifte, der mich am Ende möglicherweise den Job kostete, aber falls wir richtig lagen und Charleston irgendwo tot im Wald vor sich hin moderte …

»Das klingt spannend. Sprich weiter.«

»Wir lassen unseren Termin im Gefängnis heute Nachmittag ohne Ankündigung sausen und fahren stattdessen gleich raus an den Tatort, um uns dort gründlich umzusehen und auch, um eine mögliche Leiche zu suchen.«

»Wenn wir dort draußen nichts finden, sind wir am Arsch«, konterte Frey als Stimme der Vernunft, obwohl mir sein breites Grinsen und der folgende überhebliche Blick verrieten, dass er mitmachen würde, und sei es nur, um damit Anderson auf die Palme zu treiben, was er offenbar verdammt gern und bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit tat.

Und dabei war ich ihm natürlich zu gern behilflich, deshalb grinste ich. »Das müsste dir doch eigentlich gefallen. Immerhin bietest du selbigen dauernd fremden Leuten an, um dein ach so tolles Apartment in der Innenstadt zu finanzieren.«

Das meinte ich nicht ernst, was Frey auch so verstand, denn er lachte und schlug dabei die Aktenmappe zu. Außerdem war es komplett übertrieben, denn wenn wir im Wald keine Leiche fanden, würden wir unsere Ermittlungen einfach dort am Tatort anfangen und uns hinterher bei dem mit Sicherheit beleidigten Gefängnisleiter für unser spätes Auftauchen mit einem sehr höflichen Lächeln entschuldigen, womit das Thema vom Tisch wäre. Und falls wir am Tatort tatsächlich auf einen toten oder verletzten Christopher Charleston stießen – tja, das würden wir dann sehen. So weit ging meine Planung noch nicht.

»Wie viele Schuss Munition hast du eingepackt?«, wollte ich von Frey wissen, denn wenn wir ohne jede Rückendeckung, die uns eigentlich von der hiesigen Polizei gestellt werden sollte, da rausgingen, waren wir besser auf alle möglichen und vor allem auf alle unmöglichen Eventualitäten vorbereitet.

Frey runzelte nachdenklich die Stirn. »Auf einen möglichen Mordanschlag auf mich bin ich definitiv nicht vorbereitet, falls du das wissen willst. Gibt es in Florence ein Waffengeschäft?«

Woher sollte ich das wissen? Schulterzuckend griff ich nach dem Tablet, um ins Internet zu gehen. »Florence könnte dafür zu klein sein. Colorado Springs ist es aber nicht. Wir sollten auf der Fahrt nach Florence einen Zwischenstopp einlegen. Nur für alle Fälle.«

»Einverstanden.«