Am Ende bleibt nur ein Wir


Leseprobe

(Achtung: unkorrigierte Leseprobe)


Prolog

Es fühlte sich so wunderbar an, endlich wieder die Wärme der Sonne auf seiner Haut zu spüren, dass er, obwohl es besser und sicherer gewesen wäre, weiter zu laufen und einen Platz zu finden, an dem er sich nachts vor der Kälte verstecken konnte, stoppte und sein schmerzendes Gesicht in den Himmel reckte, um möglichst viele der warmen Strahlen für seinen Körper und seine geschundene Haut aufzufangen, denn seine Verletzungen würden nur vollständig verheilen, wenn er genug Energie der Sonne in sich aufnahm.

Dieses Sonnensystem war ein Wunder an Möglichkeiten für die Menschen und auch für seine eigene Spezies. Wenn sie ihn doch bloß verstehen würden. Er hatte alles versucht, um ihnen begreiflich zu machen, dass er nicht ihr Feind war. Dass er kein Vorbote einer Invasion war. Es ging ihm nur um Forschung, um Wissenschaft, um Neugierde. Er war nicht einmal für die Erde eingeteilt, sondern auf dem Weg zum Mars gewesen.

Er konnte von Glück reden, dass jeder Forschende mit der von ihnen extra dafür entwickelten Menschenhaut ausgestattet wurde, sonst hätte er seinen Absturz niemals überlebt, weil die Soldaten ihn sofort getötet hätten, statt ihn gefangenzunehmen. Andererseits wäre das vielleicht besser gewesen, als die elendig lange Zeit in Kälte und Dunkelheit, die darauf gefolgt war und die ihn an den Rand des Hungertodes gebracht hatte.

Sein Volk erforschte das riesige Universum bereits so lange und hier, in diesem kleinen Teil mit einer Sonne, um die acht Planten und unzählige Monde kreisten, hatten sie das erste Mal Intelligenz entdeckt, die ihrer eigenen ähnlich war.

Wenn auch um einiges primitiver, denn über die Zeiten der Lautsprache, wie die Menschen sie noch nutzten, war sein Volk lange hinweg. Was ein Teil seines jetzigen Problems war, denn er hatte es einfach nicht geschafft, sich mit seinen Wärtern zu verständigen. Dabei verstand er jedes Wort, jede ihrer Fragen, jeden Ausdruck – nun, fast jeden – und auch jede Beleidigung, mit denen sie ihn zum Schluss betitelt hatten. Ihre Sprache zu erlernen, war leicht und unkompliziert gewesen, nur wie sollte er ihnen verständlich machen, dass er nur mit seinem Kopf und verschiedenen Lauten kommunizierte, wenn diesen Menschen dafür das geistige Verständnis, die nötige Reife, fehlte?

Stattdessen hatten sie in ihm einen Eindringling gesehen, an dem sie experimentieren wollten. Darum war er am Ende auch vor ihnen geflüchtet. Als er erkannte, dass er mit Vernunft nicht weiterkam, und gleichzeitig immer schwächer geworden war, war er geflohen, weil sie ihn sonst getötet hätten.

Doch auch seine Flucht hatte seine Probleme nicht gelöst. Er saß weiter auf der Erde fest, denn sein Raumschiff war erstens beschädigt und zweitens in ihrer Hand. Wenigstens war es ihm gelungen, während seines Absturzes einen Notruf abzusetzen, was allerdings ein weiteres Problem werden dürfte, denn jener Ort, zu dem längst ein Schiff unterwegs war, um ihn abzuholen, war weit weg und er wusste im Augenblick nicht einmal genau, wo er sich überhaupt befand.

Sein Kopf war müde und schwer.

Er konnte kaum noch klar denken und schon bald würde die herrliche Hitze der Sonne hinter den großen, harten Bergen überall um ihn herum verschwinden und sein Körper in der aufziehenden Kälte der Dunkelheit starr und taub werden.

Er musste ganz dringend trinken, um wieder zu Kräften zu kommen. Um seinen Verstand wieder so nutzen zu können, wie es bei seinem Volk üblich war. Er hatte noch nie so lange ohne Nahrung auskommen müssen. Eigentlich war es erstaunlich für ihn, dass sein Körper überhaupt noch funktionierte und dass er genug Energie hatte aufbringen können, um seine Wächter mit ihren primitiven Waffen und Intelligenzen zu überwältigen und anschließend hinaus ins Freie zu flüchten.

Sein Magen knurrte so laut und durchdringend, dass er eine Hand auf seinen Bauch legte, da er große Schmerzen verspürte. Er hatte derart unbändigen Hunger, weil sie ihm einfach nichts gegeben hatten, das sein echter Körper vertragen konnte, dass er mittlerweile sogar bereit war, sich dazu herabzulassen, ohne Widerwillen etwas von der weniger sättigenden Flüssigkeit zu sich zu nehmen, die die Menschen durchströmte. In all der Zeit, die er in dem dunklen, kalten Raum eingesperrt gewesen war, hatten sie ihn hungern lassen, und er war an der Grenze dessen angelangt, was sein junger Körper aushalten konnte.

Er musste trinken. Unbedingt.

Es würde nicht dasselbe sein, wie die kräftigen Säfte, die sie selbst auf all ihren Schiffen herstellten, um den Platz für Vorräte möglichst klein zu halten, aber es würde ihn hoffentlich lange genug am Leben erhalten und ausreichend stärken, damit er zu dem Treffpunkt gelangen und gerettet werden konnte. Und nur darauf kam es an, denn er wollte nicht zurück in die Hände der Menschen fallen, die ihn gequält und die ihm wehgetan hatten, weil er nicht mit ihnen sprechen konnte.

Sie hatten das als Weigerung angesehen, als Unwillen, dabei war es ihm schlicht unmöglich.

Er konnte nicht sprechen, denn er war kein Mensch.

Er war anders.

Reptil.

Blutsauger.

Vampir.

Und vieles mehr hatten sie ihn genannt, ihn schlussendlich unverhohlen beschimpft.

Er hatte anfangs etwas Zeit gebraucht, um diese Begriffe zu verstehen und um zu erkennen, was sie in ihm sahen, obwohl er weder das Eine noch das Andere war. Er war zwar ein Reptil, zumindest konnte er sich mit diesem Begriff identifizieren, aber er war kein Monster, das den Menschen ihr Blut aussaugte und sie aus Vergnügen tötete. Im Gegenteil, er empfand sogar eine deutliche Abneigung bei der Vorstellung, von ihnen trinken zu müssen, aber wenn die Alternative sein Tod war, würde er seine Gefühle zur Seite schieben und es tun.

Andererseits verstand er nun, woher sie ihre Legenden rund um Vampire hatten. Offenbar waren ihre früheren Forscher, die schon einige Male die Erde besucht hatten, um ihre Neugier auf die Menschen zu befriedigen, nicht so zurückhaltend gewesen, wie ihre Königin es immer von ihnen forderte, um die anderen Spezies im Universum mit Respekt zu behandeln.

Seine Königin.

Wie stolz er gewesen war, als sie ihn für die Aufgabe, einen ersten Blick auf den Planeten zu werfen, den die Menschen als »Mars« betitelten, auserwählt hatte. In seinem jungen Alter war das nicht üblich und er hatte sich so sehr darauf gefreut, diesen Planeten zu umrunden, Proben zu sammeln und in einer nahen oder fernen Zukunft vielleicht in Erfahrung zu bringen, was in diesen toten Welt geschehen war, dass sie auf den ersten Blick kein Leben mehr in sich barg.

Stattdessen war er in einer Welt voller Wunder, aber leider auch voller Grausamkeiten, abgestürzt, weshalb bislang immer nur sehr erfahrene Krieger und Forscher auf die Erde geschickt worden waren. Er war weder ein Krieger noch erfahren, und er würde in der kommenden Zeit wohl auch keine Forschungen in anderen Welten mehr führen, aber damit kam er zurecht, wenn er nur am Leben blieb und nach Hause zurückkehren konnte.

In die Sicherheit seines Volkes und zu seiner Königin.


Kapitel 1

Selbst wenn man die Hitze von Arizona gewohnt war, sagte kaum jemand Nein zu einem klimatisierten Gebäude, gerade in den heißen Sommermonaten, die in diesem Jahr noch nicht mal ansatzweise ihren Höhepunkt erreicht hatten.

Jonas Mitchell hätte derzeit alles für eine kleine Abkühlung gegeben, denn für Juni war es schon seit Tagen erstaunlich heiß. Aber da er weder eine Wohnung besaß, noch das Geld, um sich vorübergehend ein Motelzimmer mit Ventilator oder auch einer Klimaanlage zu mieten, waren Schwitzen und viel trinken seine einzigen Optionen, denn von einem klimatisierten Auto wagte er nicht einmal zu träumen.

Dazu hätte es einen Job und ein regelmäßiges Einkommen bedurft. Er hatte weder das Eine noch das Andere. Im Moment belief sich sein gesamtes Vermögen auf läppische zwölf Dollar, die er noch heute Abend in neues Wasser und ein bisschen Sprit investieren musste. Auf etwas zu essen konnte er noch für eine Weile verzichten, denn nach den ersten Wochen auf der Straße war er es mittlerweile gewohnt, mit leerem Magen zu arbeiten, unterwegs zu sein oder zu schlafen. Aber Jonas musste trinken, und zwar regelmäßig, sonst würde er völlig pleite sein, wenn er morgen früh den Anfang der Woche ergatterten Wochenendjob als Entrümpler nicht antrat.

Die Räumung einer Rinderfarm stand an, da der Besitzer tot war und die erbenden Söhne lieber weiterhin in der Stadt leben wollten. Gut für Jonas, auch wenn es ihm drei Tage verdammt harter Arbeit bescherte. Doch das Geld, das ihm und mehreren anderen Männern am Montag in einer nach zu altem Fett und schalem Bier stinkenden Spelunke angeboten worden war, um den Job schnell und unkompliziert zu erledigen, würde die zu erwartende Schufterei definitiv wert sein, denn es müsste Jonas, falls nichts Unvorhergesehenes dazwischenkam, über den Juni bringen, da er außer Benzin für seinen Truck, Essen und Wasser nicht viel benötigte.

Er besaß kein Handy, hatte keinen Computer und der letzte feste Wohnsitz, sofern man ein Zimmer über eine Garage denn so nennen konnte, lag Monate hinter ihm. Seither lebte Jonas in seinem Pick-up, weil das erstens billiger war und ihn zweitens schneller zu den Gelegenheitsjobs brachte, mit denen er sich in den letzten fünf Jahren über Wasser gehalten hatte und die ihm auch weiter sein Leben finanzieren würden, denn keiner stellte einen schwulen Ex-Marine ein, für den der nächste Schuss über Jahre hinweg das tägliche Lebensziel gewesen war.

Die Drogensucht war dabei noch das geringste Problem, da seine Einstichstellen an Armen und Füßen lange verheilt waren, aber dass er schwul war und damit nicht hinter dem Berg hielt, war in einem konservativen Staat wie Arizona ein Problem. Er hätte ein Serienmörder sein können, das wäre den allermeisten Leuten wahrscheinlich egal gewesen. Aber schwul zu sein ging vor allem für die traditionsverbundene Landbevölkerung meist gar nicht, und da Jonas zu stolz und auch zu stur war, um sich kurzerhand als heterosexueller Ex-Marine auf der Suche nach dem Sinn des Lebens auszugeben – ein gut gemeinter Ratschlag seines letzten Arbeitgebers, der es nicht böse gemeint hatte –, würde er eben weiterhin von der sprichwörtlichen Hand in den Mund und in seinem Auto leben.

Andererseits hätte er es weitaus schlechter treffen können, denn immerhin war er noch am Leben und nicht an den Drogen krepiert, obwohl er sich große Mühe gegeben hatte, genau das in Rekordzeit zu schaffen. Doch irgendwo in seinem von vielen Drogen vernebelten Verstand musste ein Rest Intelligenz gegen diesen Wunsch gekämpft haben, denn Jonas war schlussendlich der Absprung gelungen.

Nach drei Tagen kalten Entzug, weil er nicht genug Geld für einen neuen Schuss hatte zusammenkratzen können, und dem Versuch eines reichen Arschlochs seinen Zustand auszunutzen und Jonas zu vergewaltigen – was der Typ beinahe mit seinem Leben bezahlt hatte –, war er schließlich in einer Notaufnahme zu sich gekommen, einen alten, resigniert dreinblickenden Arzt über sich, der ihn einige Minuten stumm angesehen und ihm dann erklärt hatte, dass er auf dem besten Weg wäre, es seinem toten Sohn nachzutun und beim zweiten Mal garantiert nicht so viel Glück haben würde, falls er sich nicht zusammenriss und ein zweites, drogenfreies Leben begann.

Es war nicht der Arzt selbst gewesen, der in Jonas am Ende ein Umdenken bewirkt hatte. Es war auch nicht die Geschichte gewesen, die der alte Mann ihm am selben Tag nach Feierabend an seinem Bett sitzend erzählt hatte. Über seinen einzigen Sohn, einen hoch dekorierten Veteran, der nie verkraftet hatte, was er im Irak hatte erleben müssen, und sein Heil irgendwann zuerst in Drogen und schließlich im Tod gesucht hatte. Es war der Tod dieses Arztes gewesen, der, nachdem er bei ihm gesessen hatte, auf dem Weg nach Hause überfallen, ausgeraubt und für eine goldene Uhr und vierzig Dollar Bargeld mit drei Kugeln eiskalt ermordet worden war.

Ein unnötiger und vor allem vermeidbarer Tod, den allein er zu verantworten hatte, denn nur seinetwegen war der Mann an dem Tag nach Feierabend noch in der Notaufnahme geblieben, um mit ihm zu reden.

Danach hatte Jonas gekämpft.

Gegen sich selbst, gegen die Drogen, die Sucht, die immer noch Tag für Tag in seinem Kopf war und dort auch für immer bleiben würde.

Und er hatte tatsächlich gewonnen. Zuerst nur für den Arzt, der gestorben war, um ihm ein zweites Leben zu ermöglichen. Aber eines Tages auch für sich selbst, als er begriff, dass Drogen niemals eine Lösung waren. Und da er hier draußen weder an Drogen herankam, noch Geld dafür hatte, war dieses Leben im Moment auch das sicherste für ihn. Was im Grunde eine billige Ausrede war, das wusste Jonas, denn andere Süchtige schafften es auch drogenfrei zu bleiben, ohne dabei obdachlos zu sein.

»Einmal Versager, immer Versager«, murmelte Jonas zu sich selbst und fuhr an einer einsam gelegenen Tankstelle raus. Er lag gut in der Zeit und konnte sich eine Pause gönnen, denn die Farm war nicht mehr weit und er hatte Durst.

Jonas tankte, besorgte sich ausreichend Wasser für den Rest des Abends und morgen früh, denn während des Jobs würden ihnen Getränke und Essen gestellt werden, und gönnte sich, als sein Magen wieder einmal vernehmlich knurrte, ein Sandwich, das er sich eigentlich nicht leisten konnte. Aber scheiß drauf. Er aß es im Laden und hielt dabei den Blick auf den Fernseher an der Wand gerichtet, um sich die aktuellen Nachrichten und den Wetterbericht für die nächsten Tage anzusehen, denn das Radio im Truck funktionierte bestenfalls unzuverlässig und er würde keinen Cent mehr in die Reparatur investieren.

»Wird brütend heiß, was?«, fragte der junge Kerl, der hinter der Kasse stand, und Jonas grinste in sich hinein, weil ihm der folgende, musternde Blick nicht entging.

Hier draußen, am Arsch der Welt, dürfte es für einen Typen wie den fast unmöglich sein, jemanden zu finden, mit dem er sich ein bisschen vergnügen konnte, denn in den umliegenden Orten kannte wahrscheinlich jeder jeden. Wobei Jonas das lieber nicht beschwor, denn er hatte seit Tagen keinen Blick mehr auf die Karte in seinem Handschuhfach geworfen und wusste nicht mal genau, wo in Arizona er gerade war.

Irgendwo in der Mitte.

Über Phoenix, aber noch vor dem Grand Canyon, den Jonas sich irgendwann ansehen wollte. Vielleicht in ein paar Jahren, sofern er es je schaffte, sich wieder einen festen Wohnsitz samt festem Job anzuschaffen. Oder zumindest so viel Geld mit Jobs zu verdienen, dass er es sich leisten konnte, in die Hochburgen für die Touristen zu fahren, denn hier draußen war das Leben weitaus billiger, als in Städtchen wie Flagstaff oder Prescott.

Jonas hielt sich von Ortschaften fern, denn dort fiel man auf. Besonders wenn man kein Tourist war und nicht in einem Hotel oder woanders einkehrte. Und er wollte nicht auffallen. Weder den immer zu neugierigen Cops noch sonst wem. Er wollte nur sein Leben leben und dabei in Ruhe gelassen werden.

Was nicht hieß, dass er einem kleinen Spaß von vornherein abgeneigt gewesen wäre, darum wandte er sich vom Fernseher ab und ließ den Blick in einer unmissverständlichen Geste über den Kerl hinter dem Verkaufstresen gleiten, bis der grinste und dabei mit dem Kopf nach links deutete. Auf eine geschlossene Tür, die wahrscheinlich in ein Büro führte.

»Kondom?«, fragte er und gluckste leise, als sein Gegenüber schnaubte und sich vielsagend gegen die Stirn tippte, ehe er in seine Hosentasche griff und eine Dreierpackung hervorkramte, dicht gefolgt von einem Tütchen Gleitgel.

»Ich bin jung, nicht dämlich. Und um die Zeit kommt hier kaum einer vorbei. Ist noch zu heiß.«

»Da drinnen wird uns noch heißer werden«, warnte Jonas und dankte nebenbei stumm allen Göttern, dass er sich heute früh auf einem Rastplatz die Zeit genommen hatte, mit kaltem Wasser, einem Lappen und Seife der Staub- und Schweißschicht auf seinem Körper zu Leibe zu rücken und sich von Kopf bis Fuß zu waschen. Das würde ihm gleich zugutekommen, denn obwohl er nicht oft die Gelegenheit für Sex bekam, er hatte gern welchen, und sobald es dazu kam, wollte er ihn auch genießen und sich nicht hetzen müssen, aus Angst, dass sein Gegenüber wegen seines Körpergeruchs in Ohnmacht fiel.

Der Kassierer zwinkerte ihm zu. »Ich könnte ja nett sein und die Klimaanlage höher stellen.«

Nicht, dass Jonas noch eine extra Überzeugung gebraucht hätte, aber gegen einen kühlenden Luftzug würde er garantiert keinen Einspruch erheben. Zudem war sein letztes Mal gefühlt schon eine Ewigkeit her und hatte hinter einer Bar neben einem Müllcontainer stattgefunden, was das Geruchsproblem zu einer wahren Herausforderung gemacht hatte, und das nicht, weil er oder sein damaliger Sexpartner gestunken hätten. Selbst wenn, hätten sie es wegen der Mülltonnen gar nicht wahrgenommen. Aber das waren Erinnerungen, die kein Mensch brauchte, fand Jonas und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt, denn Sex in einem klimatisierten Büro war eine deutliche Verbesserung.

Er warf die Verpackung des Sandwichs in einen Mülleimer, der neben dem Verkaufstresen stand, und leckte sich über die Lippen. »Geh vor.«

***

Sie tauschten keine Namen, keine Höflichkeiten und keinen einzigen Kuss aus. Jedenfalls nicht auf den Mund. Dafür wusste sein namenloser Sexpartner seine Lippen auf diversen anderen Körperstellen recht gut zu nutzen, und da Jonas nicht hintenan stehen wollte, gab er die Höflichkeiten ausgiebig zurück, bis sie am Ende verklebt, verschwitzt und keuchend auf einem kleinen und gefährlich wackligen Schreibtisch endeten, wobei er immer noch tief im Körper des Mannes vergraben war.

»Mann«, murmelte der junge Namenlose und grinste frech, als Jonas ihn ansah. »Du hattest es echt nötig, was?«

»Und du bist offenbar gut in Übung«, konterte er, denn ihm war sehr wohl aufgefallen, dass er kaum Vorbereitung in Form von Fingern und Gleitgel gebraucht hatte.

Sein Gegenüber kicherte. »Hey, nur weil ich diesen Sommer hier draußen über am Arsch der Welt arbeite, heißt das nicht, dass ich nicht wüsste, wie man in der Gegend ein bisschen Spaß haben kann.«

Bei dem frechen Tonfall musste Jonas einfach lachen, bevor er sich aus einer Laune heraus vorbeugte und eine feuchte Stirn küsste, um sich anschließend zurückzuziehen, das Kondom im Mülleimer zu entsorgen und die zwei Feuchttücher zu greifen, die ihm anschließend gereicht wurden. Er sah zu, wie auch sein Sexpartner sich notdürftig säuberte und dann mit dem Kopf in Richtung einer weiteren Tür deutete, die Jonas vorher gar nicht aufgefallen war.

»Da drin ist ein kleines Bad mit Dusche. Wenn du willst ...«

Ein Angebot, das Jonas als die Freundlichkeit verstand, die sie war, denn er kam nicht oft in den Genuss einer Dusche und seine Klamotten anständig zu waschen, konnte er sich auch nur alle paar Wochen leisten.

»Danke«, murmelte er und verkniff sich die Frage, wieso es in dieser abgelegenen Tankstelle ein Badezimmer gab, als locker abgewunken wurde, denn erstens würde der Besitzer sich dabei schon etwas gedacht haben und zweitens ging es ihn nichts an. Außerdem wollte er nicht riskieren, dass das Angebot für eine Dusche zurückgezogen wurde, denn die letzten beiden Wochen hatte er mit sich meist mit schnellen Katzenwäschen bei kaltem Wasser in dreckigen Raststätten zufriedengeben müssen. »Ist es so offensichtlich?«, fragte er und spielte damit auf seine aktuelle Obdachlosigkeit an, was sein Gegenüber verstand, ohne dass er es aussprechen musste.

»Du bist nicht der erste, der hier anhält, um zu tanken, eine Kleinigkeit zu essen und manchmal ein bisschen zu reden, weil er kein Zuhause hat. Ich habe in Phoenix fast drei Jahre auf der Straße gelebt, bis ich die Kurve bekommen habe und zurück zur Schule gegangen bin. Ich weiß daher ziemlich gut, woran es Menschen wie dir am häufigsten mangelt.« Grüne Augen sahen ihn für einen Moment ernst an, aber dann wurde er angelächelt. »Sofern du noch ein bisschen Zeit hast, die Waschmaschine und der Trockner im Bad funktionieren tadellos.«

Jonas schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht bezahlen.«

»Habe ich Geld von dir verlangt?«, wurde er gefragt und als Jonas verdutzt den Kopf schüttelte, bekam er ein verschmitztes Grinsen zugeworfen. »Eben. Aber mach, was du willst. Ist deine Entscheidung.«

Nach den Worten, denen ein weiteres Lächeln folgte, wurde er alleine gelassen und Jonas überlegte nicht lange, bevor er in seine Jeans und seine alten Stiefel schlüpfte und raus zu seinem Pick-up ging, um sein ganzes Zeug zu holen. Er würde sich die Zeit nehmen, seine ganze Kleidung durch die Waschmaschine und den Trockner zu jagen, und währenddessen duschen, sich rasieren, gründlich die Zähne putzen – einfach all das tun, was ganz normale Leute täglich, oft sogar mehrmals pro Tag, taten, da es für sie selbstverständlich war, ein komplett ausgestattetes Badezimmer und vor allem heißes Wasser im Überfluss zu ihrer Verfügung zu haben.

Alles Dinge, die für ihn schon lange nicht mehr zum Alltag gehörten und die Jonas meist auch nicht vermisste. Man konnte sich mit einem Lappen und Seife genauso waschen, wie unter einer Dusche, aber lügen würde er ganz sicher nicht, denn das heiße Wasser war eine wahre Wohltat und wärmte ihn auf eine Art und Weise, an die Jonas sich kaum noch erinnern konnte. Darum zählte er stumm bis sechzig, während das Wasser über ihn strömte, bevor er es abstellte und nach dem Rasierer griff, um seinem Bart, dem er zuletzt nur noch spartanisch zu Leibe gerückt war, den Garaus zu machen.

Als er endlich wieder richtig sauber war, zog er seine letzte saubere Jeans an und räumte die erste Ladung Hosen, Hemden und T-Shirts rüber in den Trockner. Und während anschließend seine Unterwäsche, Unterhemden und Socken in der Trommel der Waschmaschine ihre Runden zu drehen begannen, machte Jonas sich nützlich, putzte das der Tankstelle zugehörige Gäste-WC, half beim Einräumen von Waren in die Kühlschränke und vernaschte den Kassierer danach ein weiteres Mal.

Als er sich schließlich auf den Weg zur Farm machte, wusste er immer noch nicht, wie die freundliche Seele in der Tankstelle hieß, aber da sie sich kaum wiedersehen würden, war das auch nicht von Belang. Jonas würde trotzdem nicht vergessen, was dieser Unbekannte heute für ihn getan hatte, und er würde die Freundlichkeit, die ihm zuteil worden war, bei der nächstbesten Gelegenheit zurückgeben, schwor er sich, während er Meile um Meile hinter sich ließ und irgendwann in der Nacht beinahe an dem alten Schild, das zu seiner Rechten an einer Abzweigung zu einem unbefestigten Weg stand, vorbeifuhr.

Den Fuß auf der Bremse fluchte er und setzte ein paar Meter zurück, um sich das Schild genauer anzusehen, während er im Seitenfach der Fahrertür nach der Visitenkarte kramte, die er in der Spelunke bekommen hatte. Er verglich den Namen auf dem Schild mit dem auf der Karte und bog danach auf den Weg ein, der ihn in einiger Entfernung zu seinem morgigen Arbeitsplatz bringen würde.

Da es mitten in der Nacht war, war natürlich noch niemand hier und das Farmhaus, das größer war, als er erwartet hatte, verschlossen. Es war zweistöckig und von einer umlaufenden Veranda eingefasst, auf der mehrere Blumenampeln hingen, in denen die Blumen allerdings vertrocknet und tot waren. Ob die drei veranschlagten Tage reichen würden, das Haus zu räumen, fragte sich Jonas und warf einen Blick auf die leeren Container, in die dann wohl der Hausrat geräumt werden sollte. Ein Stück vom Haupthaus entfernt gab es eine Scheune und eine Koppel, doch Tiere konnte er weder sehen noch hören. Wahrscheinlich waren sie längst verkauft worden.

Jonas umrundete neugierig das Haus, wobei er auf einen Gemüsegarten stieß, in dem tatsächlich Tomatenpflanzen voller reifer Früchte standen. Er konnte sein Glück kaum fassen und bediente sich hemmungslos, um am Ende ein paar Tomaten ins Auto zu bringen, die er später essen wollte.

Anschließend suchte er sich eine dunkle Ecke, um rasch ein menschliches Bedürfnis zu erledigen, und holte dann aus seiner abschließbaren Truhe auf der Ladefläche, die er sich vor einigen Monaten geleistet hatte, nachdem er beklaut worden war, einen alten Armeeschlafsack, den er in einer Obdachlosenunterkunft für einen obligatorischen Dollar bekommen hatte. Er rollte ihn auf der Ladefläche aus, um wenigstens noch ein paar Stunden zu schlafen, da er nicht wusste, wann die anderen am Morgen eintrudeln würden. Das war zwar nicht sehr bequem, aber die einzige Alternative waren der sandige Boden oder die Veranda, und beides kam für ihn nicht infrage.

In seinen ersten Wochen als Obdachloser hatte er ein paar Mal auf dem harten Erdboden geschlafen, bis man ihm in einer Unterkunft für Obdachlose, wo er duschen und seine Kleidung waschen durfte, deshalb den Kopf geradegerückt hatte. Es gab zu viele gefährliche und giftige Tiere in Arizona, und eigentlich hätte er das selbst wissen müssen. Aber wenn man ständig über die Frage nachdachte, wo man die nächste Mahlzeit und etwas zu trinken herbekam, fielen solche Details häufiger hintenüber, weshalb er auch von Glück reden konnte, dass er morgens nie mit einem giftigen Gast im Schlafsack aufgewacht war.

Draußen auf den Straßen waren ein Schlangenbiss oder der Stich eines Skorpions tödlich, und das nicht, weil er obdachlos und arm war, sondern schlicht, weil die nächste Notaufnahme mit dem rettenden Gegengift zu weit weg war und er außerdem nicht die Möglichkeit hatte, rechtzeitig Hilfe zu rufen, da er nun mal kein Handy besaß.

Jonas hatte sich den Ratschlag des Leiters der Einrichtung zu Herzen genommen und schaute jetzt jeden Abend und auch am nächsten Morgen genauer hin, ob sich ein gefährliches Tier in seine Nähe gewagt hatte.

Nein, kein unerwünschter Besucher zu sehen, stellte er fest und lag kurz darauf, den Blick in den Himmel hinauf zu den Sternen gerichtet, im warmen Schlafsack. Und das gehörte mit zu den Dingen, die er an seinem Leben derzeit wirklich liebte – die Sterne, die er hier draußen, ungetrübt vom vielen Licht in den Städten bewundern konnte. Beinahe jede Nacht verlor er sich für einige Zeit in dem funkelnden Leuchten von Millionen oder Milliarden von Planeten, die teils so weit entfernt waren, dass er es sich kaum vorstellen konnte.

Trotzdem fragte sich Jonas manchmal, ob es da draußen im Weltall vielleicht doch mehr gab, als die unendlich scheinende Schwärze des Raums und die ungezählten Planeten – bewohnt oder auch tot, so wie der Mars.

Wobei tot in seinen Augen ein relativer Begriff war, denn er konnte sich gut vorstellen, dass selbst auf dem roten Planeten noch irgendetwas unter der Oberfläche lebte, und seien es bloß Bakterien. Die Menschen hielten sich schon so lange Zeit für die über alles herrschende Spezies – dabei waren sie das Gegenteil davon –, dass sie kaum mehr fähig waren, über ihren mitunter doch recht beschränkten Tellerrand hinauszuschauen. Das war der Lieblingsspruch seiner Mutter gewesen, die in seiner Schule Biologie unterrichtet und ihm die Faszination für alle Arten und Formen von Leben vererbt hatte.

Jonas lächelte unwillkürlich, als er an sie dachte. Ihre langen blonden Haare, über die sie immer halbherzig geschimpft hatte, weil sie sich nur schwer bändigen ließen. Ihre grünen Augen, die er von ihr geerbt hatte, und die immer positiv und mit jeder Menge Freude in die Welt geblickt hatten.

Selbst als der Krebs begann, sie langsam von innen heraus zu zerfressen, war sie niemals müde geworden, Jonas zu sagen, dass das Schicksal sich garantiert etwas dabei gedacht hatte, sie krank werden zu lassen, und das man dennoch alles im Leben positiv sehen solle, weil man sonst nicht vorankam. Wer immer nur negativ dachte, der verkümmerte irgendwann an Geist und Seele, und dafür war das Leben viel zu kurz, hatte sie ihm, dem damals elfjährigen, schlaksigen Jungen, gesagt, der die meiste Zeit nur wütend und panisch gewesen war, während der Krebs wuchs und wuchs und sie nie genug Geld für die unglaublich teuren Therapien hatten.

Am Ende hatte es kaum noch für die Schmerzmedikamente gereicht, die seiner Mutter den nahenden Tod zumindest etwas erleichtert hatten.

Und das mitzuerleben – Jonas würde ihren ausgemergelten Anblick niemals vergessen, und er hatte es auch nicht geschafft, weder damals noch heute, immer positiv zu denken. Wie sollte man auch an das Gute auf der Welt glauben, wenn einem diese teuflische Krankheit zuerst die Mutter und hinterher auch noch den Vater nahm, der ihren Verlust nicht verkraftet hatte und am Ende auf trockener und gerader Fahrbahn frontal gegen einen Strommast gerast war.

Selbstmord, stand später im offiziellen Bericht der Polizei, aber Jonas wusste es besser. Sein Vater, dieser sanfte Riese, der es so sehr geliebt hatte, seine Familie mit süßen Köstlichkeiten zu verwöhnen, die er als Bäcker tagtäglich zubereitet hatte, war an gebrochenem Herzen gestorben und hatte ihn in dieser Welt zurückgelassen, kaum dass Jonas alt genug war, um sich bei der Armee einzuschreiben und allein zurechtzukommen.

Andererseits war es gut, dass beide nicht mehr mitbekamen, was für ein Leben er heute führte. Sie wären mit Sicherheit stolz auf ihn gewesen, hätte er bei den Marines Karriere gemacht. Sie wären auch damit zurechtgekommen, dass er niemals eine Frau geheiratet und ihnen Enkel geschenkt hätte. In dieser Hinsicht waren seine Eltern immer tolerant und offen gewesen. Und sie hätten auch mit ihm gekämpft, als er endlich den Kampf gegen die Drogen aufnahm.

Doch in einem Auto zu leben, häufig hungrig zu sein, kaum Geld und keine richtige Perspektive für die Zukunft zu haben – nein, darauf wären sie nicht stolz gewesen, und sie hätten mit Sicherheit alles versucht, ihm zu helfen.

»Ich vermisse euch«, flüsterte Jonas in die nächtliche Stille und schloss die Augen, in dem Wissen, weder sie noch ihr Grab jemals wiederzusehen, denn es gab keins, weil sein Vater nicht genug Geld für eine Beisetzung seiner Mutter gehabt hatte, und er hatte später keines für die Beerdigung seines Vaters gehabt.

Daher hatte die Stadt sie auf einem Armenfriedhof beerdigt, so wie es gängige Praxis war, wenn Hinterbliebene nicht in der Lage oder willens waren, einen Toten zu beerdigen, und Jonas war nicht fähig gewesen. Selbst in der Armee, als er sich einmal erkundigt hatte, ob es möglich war, sie vielleicht umzubetten, wenn er genug Geld dafür gespart hatte.

Es war jedoch nie dazu gekommen, denn sein unfreiwilliges Outing und die darauf folgende Drogensucht hatten ihn zuerst völlig aus der Bahn geworfen und sein Leben hinterher in eine Richtung gedrängt, die er so nicht erwartet hatte. Doch es war müßig, sich deshalb weiterhin Vorwürfe zu machen oder gar zu grämen. Er kam zurecht. Irgendwie. Das tat er schließlich schon seit Jahren. Und mit Ende Dreißig war er auch noch nicht zu alt, um früher oder später die Kurve zu kriegen.

Mit den fernen Rufen eines Kojoten im Ohr dämmerte Jonas schließlich weg und wachte am Morgen auf, als die wärmende Sonne seine Wange kitzelte. Er genoss die kühle, dezent feuchte Luft des beginnenden Tages ein paar Minuten, wobei er sich im Schlafsack ausgiebig reckte und streckte, und stellte hinterher fest, dass er sich besser schnell eine ungestörte Ecke suchte, da seine Blase voll und in der Ferne ein Auto zu hören war, das mit Sicherheit in seine Richtung kam, denn außer der Farm gab es hier draußen absolut nichts.

Jonas kletterte von der Ladefläche, rollte seinen Schlafsack zusammen und räumte ihn weg, bevor er mit einer halbvollen Wasserflasche und einem Lappen schnell hinter der Scheune in ein schattiges Plätzchen verschwand, um zu pinkeln und sich notdürftig zu waschen.

Danach aß er die Tomaten, die er aus dem Garten gestohlen hatte, und machte es sich auf der Ladefläche gemütlich, weil er mittlerweile mehrere Wagen auf dem staubigen Weg entdeckt hatte, die hierher unterwegs waren. Und der schicke SUV, der die kleine Kolonne anführte, war mit Sicherheit der Verwalter, dem er diesen Job verdankte. Dahinter folgten ein uralter Ford mit Ladefläche und ein Lincoln Continental, der älter aussah als sein eigener Pick-up Truck.

Jonas wartete ab, bis die Wagen geparkt waren und das ihm bekannte Gesicht des Nachlassverwalters in seinem Blickfeld auftauchte. Der Mann war etwa Fünfzig, hatte eine untersetzte Statur, die darauf hindeutete, dass er viel Zeit auf einem Stuhl hinter einem Schreibtisch verbracht, aber er lächelte und er tat das sogar offen und ehrlich.
»Guten Morgen. Haben Sie etwa hier übernachtet?«, rief der Mann ihm zu und sah kurz zu den anderen beiden Männern, die ebenfalls ausgestiegen waren. »Guten Morgen.« Es folgten kurzes Gemurmel und ein freundschaftliches Tippen an einen imaginären Hut, dann suchte der Verwalter wieder seinen Blick und Jonas zuckte die Schultern.

»Ich war früh dran und schlafe gern draußen.«

»Na dann«, war alles, was dem Mann dazu einfiel, dann zog er ein Schlüsselbund aus der Tasche und wandte sich mit einem »Bin gleich wieder bei ihnen.« dem Haus zu. Er schloss die Tür auf, ließ das Schlüsselbund stecken und kam nach einem eiligen Blick über die zugestaubte Veranda zu ihnen zurück. »Hm, ein Mann fehlt noch. Ich hoffe, dass er nicht im letzten ...«

Der Rest seiner Worte ging im Dröhnen eines Motors unter und sie schauten alle den Weg entlang, wo jetzt ein grüner Ford Pinto in Richtung Farm unterwegs war.

»Ah, das wird Mister Miller sein. Schön, dann wären wir ja vollzählig.« Der Nachlassverwalter lockerte seine Schultern und nickte dem letzten Mann kurz zu, der sich ihnen wenig später anschloss. »Ich halte es kurz. Noch mal zur Erinnerung, ich bin Ed Winchester, der in diesem Fall von der Familie beauftragte Nachlassverwalter, und damit für alles zuständig, was sie die nächsten Tage natürlich mit einschließt. Da ein Mann leider im letzten Moment abgesprungen ist, werde ich seinen geplanten Anteil unter ihnen aufteilen und ihnen auch einen zusätzlichen Tag einräumen, falls er nötig werden sollte.« Er deutete auf das Haus. »Die Erben haben alles, was sie behalten wollten, bereits aus dem Haus geholt, wenn sie also etwas entdecken, das ihnen zusagt, gehört es ihnen. Das umfasst sowohl Kleidung als auch Einrichtungsgegenstände und Mobiliar.« Winchester schaute sie nacheinander an und sein Blick blieb dabei ein wenig länger an Jonas hängen, was ihn nicht verwunderte, denn er war zu dünn für seine Größe. »Wie versprochen, ist für Getränke und Essen gesorgt. Strom und Wasser funktionieren ebenfalls, sie können kochen, duschen oder den Fernseher einschalten – ganz wie sie wollen. In einem der oberen Zimmer habe ich zudem Bettzeug und Liegen organisiert, damit sie nicht in ihren Autos schlafen müssen.« Er blickte zu den drei leeren Containern. »Ich bin mir nicht sicher, ob die Container vom Umfang her reichen, da der Hausherr sich nur selten von Dingen trennen konnte. Rufen sie mich bitte an, falls sie mehr Stauraum brauchen, ich kümmere mich dann sofort darum, okay?«

Jonas nickte gemeinsam mit den anderen Männern und war erleichtert, als Winchester im nächsten Moment einen gerollten Stapel Bargeld aus der Tasche zog.

»Eine Hälfte jetzt, die andere bei Übergabe, so wie wir es in der Bar ausgemacht haben. Ich erwarte keine Wunder, aber das Haus sollte besenrein übergeben werden. Besagte Besen finden sie in der Kammer direkt neben der Küche. Ach ja, wer meint, dass ihm die Hälfte als Bezahlung ausreicht, kann sich jederzeit verdrücken. Ich verteile den Rest des Geldes Montag- oder auch Dienstagmorgen auf alle, die noch hier sind und die ihre Arbeit erledigt haben. Noch irgendwelche Fragen?«

Jonas verneinte und auch von den anderen drei Männern, kam keine Nachfrage, woraufhin Winchester die Anzahlung an sie verteilte – immerhin zweihundert Dollar – und sich danach auf den Heimweg machte.

Einige Minuten standen sie wie bestellt und nicht abgeholt vor dem riesigen Farmhaus und sahen dem Verwalter nach, bis der Älteste in der Runde sich räusperte und schief grinsend die Schultern zuckte, weil ihn daraufhin jeder ansah.

»Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich hoffe, dass die Hütte eine Klimaanlage hat. Die Hitze bringt uns sonst um.«

Damit war das Eis gebrochen und sie lachten alle, während sie ins Haus gingen, wo sie dann erst mal sprachlos dastanden, denn es gab zwar die von ihnen erhoffte Klimaanlage – Gott sei Dank –, aber es wartete auch verflucht viel Arbeit auf sie, weil schon der weitläufige Eingangsbereich mit wuchtigen, dunklen Möbeln bis zur Treppe nach oben hin zugestellt war. Und das würde dann wohl ebenso für den Rest des Hauses gelten.

»Scheiße. Das sollen wir in nur drei Tagen alles raus in die Container schaffen?«, fragte der rothaarige Schönling, der mit dem Pinto gekommen war und der in etwa sein Alter hatte, und Jonas nickte stumm, denn er hatte gerade dasselbe gedacht.

»Ich hoffe, wir finden irgendwo passendes Werkzeug, damit wir die Möbel auseinandernehmen können«, murmelte er und traf damit auf einhellige Zustimmung. Ihm fiel die Kammer ein, von der der Nachlassverwalter gesprochen hatte. »Winchester hat doch eine Kammer erwähnt. In die sollten wir auf jeden Fall einen genaueren Blick werfen.«

»Gute Idee. Also sehen wir uns erst mal ein bisschen um?«, fragte der Älteste in der Runde, ein blonder Riese – Jonas tippte auf mindestens 1,90m – mit beiden Armen voller Tattoos, wobei Jonas das Abzeichen der Navy Seals schon draußen am Wagen förmlich ins Auge gestochen war. Der Mann kratzte sich an der Nase, die zu schief war, um nicht mehrfach gebrochen gewesen zu sein. »Ich bin übrigens Karl.«

»Jonas«, sagte er und nickte dem ehemaligen Seal zu, als der mit dem Kopf auf seinen Oberarm deutete, auf dem der Adler über der Weltkugel thronte, was ihn als ehemaligen US-Marine auswies. Damals hatte er es cool gefunden, sich das Abzeichen der Truppe stechen zu lassen, weil das gefühlt jeder Soldat tat, der stolz darauf war, seinem eigenen Land dienen zu können. Heute hätte er es am liebsten wegmachen lassen.

»Ich bin Dennis«, sagte der rothaarige Schönling mit einem Gesicht voll Sommersprossen und unzähligen Lachfältchen, die darauf hindeuteten, dass er ein gutes Leben führte. Nun ja, oder geführt hatte. Solche Jobs nahm eigentlich keiner an, in dessen Leben alles perfekt lief. Und niemand, der etwas auf sich hielt, fuhr heutzutage freiwillig einen Ford Pinto.

»Miguel«, stellte sich der letzte ihrer Runde vor, ein kleiner Mexikaner, der aussah, als könne er gut zupacken. »Ich habe bis Anfang des Jahres in der Fabrik gearbeitet, aber die haben dicht gemacht und es schwer, einen neuen Job zu finden.«

Nicht nur Jonas nickte nach den Worten, denn nicht bloß in Arizona lief es wirtschaftlich seit Jahren schlecht. Selbst auf die sonst immer in Scharen einfallenden Touristen konnte man sich seit ein paar Jahren nicht mehr verlassen, und wo das hinführte – tja, das würde sich wohl bald zeigen.

Aber jetzt hatten sie erst mal einen Job zu erledigen und als Jonas den Eingangsbereich hinter sich ließ, folgten ihm Miguel und Dennis, während Karl sich nach links wandte, wo es durch einen halbrunden offenen Durchgang in eine große Küche mit einem Essbereich ging. Da irgendwo würde auch die Kammer sein, aber die lief ihnen nicht weg.

»Die würde meiner Kleinen gefallen«, murmelte Dennis mit Blick auf eine bunte Stoffpuppe, die auf einer durchgesessenen Couch lag, und Jonas zuckte die Schultern.

»Nimm sie mit. Der Verwalter hat es doch erlaubt.«

Der Rotschopf zögerte, aber am Ende überwog dann doch die zu erwartende Freude bei seiner Tochter und er nahm die Puppe an sich, bevor er Miguel und ihn fragend ansah. »Wollen wir uns erst mal gründlich umsehen, ob es noch etwas gibt, das wir mitnehmen können? Ich meine, wenn der Verwalter es uns schon erlaubt ...«

»Gute Idee«, stimmte Miguel zu und sah sich um. »Suchen wir uns aus, was wir wollen, und bringen es zu unseren Autos. So geht später nichts Wichtiges kaputt.«

Karl fanden sie in der Küche, eine geöffnete Wasserflasche in der Hand, mit der er ihnen zuprostete, bevor er grinsend auf den vollen Kühlschrank deutete und verkündete, dass sie hier über das Wochenende mit Sicherheit nicht verhungern würden und er sich heute Abend an den Herd stellen wollte.

Lachend bediente sich nicht nur Jonas an den Getränken, zu denen sogar ein paar Sechserpacks Bier zählten, bevor sie sich aufteilten, um das Haus gründlich zu durchforsten. Jonas nahm sich das Obergeschoss vor, bestehend aus drei Schlafzimmern, einem weiteren Raum, der voller Bücherregalen stand, in denen er später in Ruhe nach Lesestoff suchen würde, denn die langen Abende im Pick-up konnten ziemlich langweilig werden, wenn man nichts weiter zu tun hatte, als auf die Nacht zu warten, und einem großen Badezimmer, in dem er eine Wanne fand, die auf Klauenfüßen stand.

Wann hatte er das letzte Mal so richtig in warmen Wasser, mit einem duftenden Zusatz, einem Badesalz oder Schaumbad gebadet? Jonas konnte sich nicht erinnern, denn seine letzten Bäder hatten allesamt in eisigen Flussbetten stattgefunden und kaum mehr als fünf Minuten gedauert, weil er weder erwischt werden noch gefühlt erfrieren wollte.

»Wow, tolle Wanne.« Karl trat neben ihn und deutete hinter sich. »Die haben sogar eine Bibliothek. Da werde ich mich heute Abend gut bedienen.«

Jonas nickte. »Habe ich auch vor.«

Karl machte ein zustimmendes Geräusch, dann wandte er sich dem Spiegelschrank zu, während Jonas das Badezimmer verließ, um in den Raum gegenüber zu gehen. Es war das dritte Schlafzimmer und hier hatte jemand Sachen weggenommen, da helle Stellen an den Wänden darauf hindeuteten, dass da früher Bilder gehangen hatten. Dasselbe zeigte ein dünner staubfreier Streifen auf dem einzigen Nachttisch links vom Doppelbett, wo ebenfalls ein Bilderrahmen oder etwas Ähnliches gestanden haben musste.

Das Bett selbst war bis auf eine fleckige Matratze leer, daher ging er zu dem wuchtigen Kleiderschrank hinüber, der hübsche Verzierungen hatte – vielleicht handgemacht – und zog an einer der beiden Türen. Sie quietschte, ließ sich aber widerstandslos öffnen, und im Inneren lagen saubere Laken, Bettzeug, ein paar Handtücher und am Boden ein geschlossener Karton.

Jonas hielt inne, denn der Karton stand auf zwei offenbar selbst genähten Steppdecken. Sie waren verbleicht, wohl schon sehr alt, aber sie würden auf seiner Ladefläche als Unterlage zum Schlafen und für kalte Nächte perfekt sein. Er hockte sich vor den Schrank und hob den Karton heraus, um die Decken genauer anzusehen, doch sie waren heil und rochen sogar noch einigermaßen nach einem blumigen Waschmittel.

Die Decken gehörten ihm, entschied er und zog sie aus dem Schrank, um hinterher einen Blick in den Karton zu werfen, der voller Schuhe war. Leider, stellte er kurz darauf fest, waren sie nicht in seiner Größe. Egal. Den Karton würde er sich trotzdem unter den Nagel reißen. Er kippte die Schuhe aus dem Karton, schüttelte ihn gründlich aus und stopfte die Decken hinein, um sie zum Auto zu bringen. Und später würde er den Karton mit in die Bibliothek nehmen, um sich so viele Bücher auszusuchen, wie im Karton Platz fanden, denn den konnte er sowohl hinten auf der Ladefläche als auch im Fußraum auf seiner Rückbank lagern, falls schlechtes Wetter aufzog.

»Hey, Jungs, kommt mal her. Hier stehen Unmengen Schuhe in verschiedenen Größen«, rief Miguel plötzlich aus einem der anderen Zimmer, und Jonas verließ mit den Decken im Karton den Raum. Er brauchte nicht lange, um Miguel zu finden, der nach einem raschen Blick auf ihn grinste. »Du bist schon fündig geworden? Ich auch.« Er deutete zum Bett, wo zwei Bettdecken, eine Reihe Handtücher in verschiedenen Größen und Bettzeug lagen. »Für meine Maria. Wir konnten uns lange nicht mehr so etwas Gutes leisten.«

Dennis kam ins Zimmer, dicht gefolgt von Karl, der ein paar Flaschen mit Duschgel und Haarwäsche auf den Armen trug. »Ich habe die Kammer gefunden. Voll mit Dosen und haltbaren Lebensmitteln. Die sollten wir besser unter uns aufteilen, bevor Winchester einfällt, sie vielleicht selbst behalten zu wollen.«

Miguel räusperte sich. »So sehr es mir missfällt, einen Toten in gewisser Weise zu bestehlen, ich bin dafür. Maria und ich … Na ja ...«

Karl seufzte leise. »Ihr seid arm. Sag es ruhig, Miguel, denn ich schätze, das gilt für uns alle. Oder wann hat einer von euch das letzte Mal was richtig Gesundes und Gutes gegessen?«

Jonas dachte an den Garten und die Tomaten. »Ich. Gestern Nacht. Hinter dem Haus ist ein Gemüsegarten. Voller Tomaten. Reif und süß. Ich habe nur mit dem Essen aufgehört, weil ich Angst hatte, mich zu überfressen und zu kotzen.«

Dennis gluckste. »Kann ich verstehen. Meine letzte richtige Mahlzeit, falls man es denn so nennen kann, war ein Sandwich mit Hackbraten, Gurken und Salat im Obdachlosenasyl. Das ist fast drei Wochen her.«

Und damit war es beschlossen. Sie würden mitnehmen, was sie brauchen konnten, und sie würden ihren Job erledigen, weil jeder von ihnen das Geld dringend brauchte, und vierhundert Dollar, nein fünfhundert Dollar, weil der fünfte Mann vorhin ja nicht aufgetaucht war, eine Menge war, wenn man Rechnungen zu bezahlen und Mäuler zu stopfen hatte, so wie in Dennis Fall, denn Jonas erfuhr im Laufe der kommenden Stunde, die sie von Zimmer zu Zimmer zogen, um alles herauszusuchen, was sie für sich selbst behalten wollten, dass Dennis gleich drei Kinder hatte, Miguel zwei Jungs und seine Frau versorgen musste und selbst Karl, bei dem er irgendwie davon ausgegangen war, dass der keine Frau oder ein Kind zu Hause hatte, mit einem Sohn aufwarten konnte, der das Wochenende bei den Großeltern war, da er den Jungen alleine aufzog.

Karl sagte nicht, warum das so war, und Jonas fragte nicht, weil das nur weitere Fragen heraufbeschworen hätte, die er den Männern nicht beantworten wollte. Dass er Single war, konnten sie wissen, aber warum und wie lange, ging sie nichts an, denn spätestens Anfang nächster Woche würden sie alle wieder ihrer Wege gehen und sich wahrscheinlich nie wiedersehen.

»Danke«, sagte er, als Karl die schwere Bücherkiste auf seine Ladefläche wuchtete, wo er gerade damit beschäftigt war, seine neuen Steppdecken vernünftig zu verstauen. Die Dosen mit den haltbaren Lebensmittel lagerten bereits in drei großen Kartons auf der Rückbank.

»Klar, Mann. Die Kiste ist klasse. Woher hast du sie?«

»Militärbedarf. Aus zweiter Hand«, antwortete er und schob die Erste-Hilfe-Tasche etwas zur Seite, damit sie nicht von den Decken gequetscht wurde.  »So. Das müsste gehen.« Jonas warf dem ehemaligen Seal einen Blick zu. »Bitte sag mir, dass du in der Kammer Werkzeug gefunden hast.«

Karl lachte und nickte. »Hab ich, keine Sorge. Komm schon. Wir haben einen Arsch voller Arbeit vor uns.«

Dem war nichts hinzuzufügen.


Kapitel 2

Halte durch. Wir kommen.

Die Sonne war achtmal auf- und wieder untergegangen, als er ihre Stimme zum ersten Mal in seinem Kopf wahrnahm. Weil er zu jung und noch nicht ausgereift war, besaß er nicht genug geistige Kraft, um ihr zu antworten, aber allein das Wissen um ihre Nähe, ließ ihn sofort ruhiger atmen und weniger stolpern, während er, so schnell es ihm in seinem geschwächten Zustand möglich war, auf dem staubigen Sandboden Schritt um Schritt tat, weil er einen fernen Ort erreichen musste.

Er war zu langsam, das wusste er, aber seine Verletzungen von den Fesseln heilten bei Weitem nicht so gut, wie er sich das anfangs erhofft hatte, und da hier draußen in der Ödnis kaum Menschen unterwegs waren, konnte er leider auch nicht in der Menge Nahrung zu sich nehmen, wie er sie für seinen Körper eigentlich gebraucht hätte.

Aber er war am Leben und daran würde sich nichts ändern, denn er hatte ein Ziel vor Augen, für das sich jeder neue Schritt durch die flimmernde Hitze lohnte.

Seine Königin war auf dem Weg zur Erde.

Niemals würde sie jemanden in Not zurücklassen. Niemals würde sie aufgeben, um eines ihrer Kinder zu kämpfen. Es gab andere Königinnen in ihrer Heimatwelt, die das anders sahen, aber in seinem Volk war ein jeder wichtig und niemand wurde als selbstverständlich angesehen oder im Falle eines Notfalls in einer fremden Welt sich selbst überlassen.

Sei stark. Für mich. Für uns.
Kämpfe, wenn es nötig sein sollte.
Halte dich zurück, wann immer es möglich ist.
Wir kommen, Inurias.
Schon bald bist du in Sicherheit.

Lächelnd machte er Halt und ließ sich nach einem schnellen Rundumblick, um sicherzugehen, dass er immer noch alleine in dieser Einöde war, auf einen hüfthohen Felsen sinken, damit er einige Zeit verschnaufen konnte. Er war müde und hatte wieder oder eher immer noch großen Hunger, aber vorerst würde ihm das Wasser reichen müssen, dass er kurz nach Sonnenaufgang an diesem Ort namens Tankstelle von einem Mann bekommen hatte. Der Fremde hatte ihm auch ein eingepacktes Sandwich angeboten, aber da sein Körper derart verarbeitetes Essen, wie es die Menschen bevorzugten, nicht vertrug, hatte er abgelehnt und sich stattdessen an dem warmen, roten Saft bedient, als der Mann ihm den Rücken zugedreht hatte.

Es tat ihm immer noch leid, das tun zu müssen, um nicht zu verhungern, aber es ging dem Mann wieder gut und er hatte an seine Tat keinerlei Erinnerung, darauf hatte er geachtet, ehe er gegangen war, und das machte ihm das Trinken von Menschen zumindest ein wenig leichter.

Blutsauger.

Der Begriff gefiel ihm immer noch nicht, aber er war genau das für die Menschen. Ein Blutsauger. Kein Vampir, da er nicht tötete, aber diesen Unterschied würde wohl niemand verstehen, denn immerhin biss er sie und trank ihr Blut. Dass sie hinterher nichts mehr davon wussten und auch keine sichtbaren Wunden zurückbehielten, änderte nichts an der Tatsache, dass seine Art der Ernährung für sich etwas Monströses an sich hatte.

Kein Wunder, dass diese Soldaten so entschlossen auf der Jagd nach ihm waren. Und wie gut, dass er ein schneller Läufer war, denn sonst hätten sie ihn vor drei Monden mit Sicherheit zwischen den hohen Steinen erwischt. Stattdessen hatte er sie in der Schwärze der Nacht und dank seiner besseren Sicht lautlos von hinten umgehen und flüchten können, denn von den zwei Männern zu trinken hatte er nicht über sich gebracht.

Obwohl es dringend nötig gewesen wäre, denn das Land war auf seine karge Art zwar wunderschön anzusehen, bot aber kaum etwas, das er anderweitig als Nahrung benutzen konnte. Diese großen, stechenden Pflanzen, die überall wuchsen, waren für seinen Organismus leider ungenießbar, und die vielen Tiere, die ihm als Frischfleisch- und vor allem als Flüssigkeitslieferant hätten dienen können, waren in seinem momentanen Zustand entweder viel zu schnell für ihn, trugen ein Gift, dessen Stärke er weder einschätzen noch die Gefahr für sich selbst beurteilen konnte, in sich oder zogen gerade Nachwuchs auf.

Hunger hin oder her, er würde keine Mutter töten.

Nicht mal, um sein eigenes Leben zu retten. Seine Königin wäre so enttäuscht von ihm, wenn er das täte. Da trank er lieber weiter von Menschen, denn sie nahmen dabei keinen Schaden und sie vermissten das bisschen Blut nicht, das er ihnen stahl, um am Leben zu bleiben.

Er hingegen vermisste ihre künstlich hergestellten Säfte, die so nahrhaft und sattmachend waren. Er vermisste ebenfalls die Welt, aus der er kam. Sie war der Erde ähnlich, wenn auch viel grüner und wilder. Er vermisste es, zu jagen. Nicht für Essen, sondern aus Spaß und reiner Freude. Die Tiere in seiner Heimat wurden nicht mehr gebraucht, um ihre Völker zu ernähren. Es war zwar nicht verboten, sie zu jagen und zu essen, doch als er aus dem Ei geschlüpft war, hatte es nur noch wenige seiner Art gegeben, die es taten. Im Allgemeinen erlegten sie Tiere heute nur noch zu besonderen Anlässen.

Sein Volk war mit der Natur im Reinen, ganz das Gegenteil dessen, was hier auf der Erde geschah. Aber er war nicht in die Ferne geschickt worden, um zu urteilen, sondern um das Neue zu erforschen. Obwohl es mit Sicherheit faszinierend gewesen wäre, mit einem Menschen zu kommunizieren und genau diese grundlegenden Fragen zu diskutieren.

Die Wasserflasche war fest leer und dem jetzigen Stand der Sonne nach zu urteilen, würde er heute noch einige Zeit mit ihr verbringen, bevor sie wieder hinter den Felsen verschwand und ihm somit eine weitere, eiskalte Nacht bevorstand.

Und das war für ihn mit das Schlimmste. Die Kälte. In dem Bunker war er zwar auch Kälte ausgesetzt gewesen, aber dort hatte es immerhin keinen Wind, keinen Staub und kein Blitzen am Himmel, kein lautes, vom Himmel stürzendes Wasser und kein bedrohlich klingendes Grollen gegeben, wie in der letzten Dunkelheit.

Er kannte Wasser, das vom Himmel fiel, denn das gab es in seiner Heimat ebenfalls. Nur fiel es dort sanft und ohne Grollen und Leuchten und Wind. Manchmal fiel es über eine sehr lange Zeit und danach erwachte die Natur in einer Art und Weise, mit so vielen Farben und Formen – ein unglaublicher Anblick und mit der Grund, wieso er sich entschieden hatte, ein Forscher zu werden und andere Welten zu erkunden.

So wie diese hier, deren Hitze langsam unangenehm wurde, obwohl er mit Wärme an sich gut vertraut war, denn sie war für sein Volk überlebenswichtig. Doch diese extremen Wechsel, wie sie auf der Erde stattfanden, sobald die Sonne den Himmel für einige Zeit wieder verließ, kannte er nicht.

Und er hatte auch dieses furchtbare Grollen nicht gekannt, das ihn sich noch mehr hatte fürchten lassen, wie vor der Kälte, die für ihn tödlich war, falls er ihr dauerhaft ausgesetzt wurde. Die Männer im Bunker hatten das nicht gewusst, was wohl sein Glück war, und dasselbe Glück hatte ihn in der Dunkelheit vor dem ersten Blitzen in einer kleinen Höhle Schutz suchen lassen, bis er wieder die Sterne sehen konnte.

Gewitter, vor denen du dich vorsehen musst, hatte der Mann an der Tankstelle gesagt.

Die kamen hier schnell, brachten manchmal viel oder auch gar keinen Regen mit sich, aber durch die starken Blitze, die tief in die Erde eindrangen, war es für jeden besser, ihnen aus dem Weg zu gehen.

Ein freundlicher Ratschlag, den er gern angenommen hatte, bevor er sich wieder auf den Weg machte. Weg von der Straße, die der Mann ihm geraten hatte zu meiden, weil er zu jung und zu schön wäre, um nicht den Falschen aufzufallen. Er verstand nicht, was der Fremde damit gemeint hatte, aber die Sorge im Blick des Mannes war echt gewesen, also hielt er sich von dieser Straße fern. Der unbefestigte Weg, dem er folgte, seit die Sonne hoch am Himmel stand, war ihm ohnehin lieber, denn er hatte mittlerweile in der Ferne ein erstaunlich großes Haus entdeckt, vor dem drei große Kästen und vier Fahrzeuge standen. Und er konnte immer wieder Menschen zwischen den Wagen und dem Haus hin- und hergehen sehen, die Dinge aus dem Haus trugen und in diese Kästen räumten.

Er würde warten, bis die Sonne tiefer stand und sich näher heranschleichen, um zu sehen, ob er vielleicht irgendwo etwas frisches Wasser oder noch ein bisschen Blut nehmen konnte. Er würde jedes Quäntchen Kraft brauchen, um eine weitere, kalte Nacht zu überstehen, denn er musste vorankommen.

Seine Königin würde ihn niemals zurücklassen, falls er den Treffpunkt zu spät erreichte, zu dem sein Geist ihn mittlerweile mit aller Macht zog, aber es würde seine Rettung erschweren und unnötig verlängern. Noch dazu bestand dann für sein Volk die nicht zu unterschätzende Gefahr, von den Menschen im All entdeckt und gefangengenommen zu werden. Genauso wie es ihm ergangen war, nachdem er aus Versehen mit einem von diesen faszinierenden Gerätschaften, die sie Satelliten nannten, kollidiert und abgestürzt war.

Und wenn die Menschen sein kleines Raumschiff entdecken konnten, würde ihnen das große Schiff seiner Königin auf gar keinen Fall entgehen.

Nein, er musste rechtzeitig dort sein.

An diesem Ort, für den er zwar keinen Namen hatte, den er jedoch bereits in seinem Geist sehen konnte. Er wusste, wohin er gehen musste. Er durfte seine geliebte Königin nicht in Gefahr bringen, nur weil er zu schwach und zu langsam war. Er musste sich anstrengen, mehr trinken, länger und viel schneller laufen. Er musste kämpfen und seine Königin stolz machen.

Wir kommen, Inurias.
Folge dem Licht der Sonne auf ihrem Weg.
Achte auf dich. Nähre dich.
Wir sind bald bei dir.

Seine Königin hatte seine Not erkannt und schon sehr bald würde sie ihn sicher in ihre beschützenden Arme schließen. So stolz er zu Beginn auf diesen Forschungsauftrag gewesen war, jetzt wollte er nur noch zurück nach Hause.


Nach einem tiefen Durchatmen trank er den letzten Rest des Wassers und machte sich wieder auf den Weg.


Kapitel 3

Jonas sah Karls Wagen nach, bis der in der Ferne nicht mehr zu sehen war, und stützte sich nach hinten auf seine Arme, um zufrieden zu seufzen. Endlich war er wieder allein. Und er war um fünfhundert Dollar und einen Pick-up voller Lebensmittel, Bücher und Decken reicher. Nicht zu vergessen die acht großen Flaschen Wasser, eine Tüte voll reifer Tomaten aus dem Garten und zwei guten Paar Wanderstiefeln.

Ed Winchester hatte sein Wort tatsächlich gehalten und ihm fünfzig Dollar extra angeboten, wenn er noch drei Nächte blieb und am Donnerstag die Abholung der bis zum Rand gefüllten Container beaufsichtigte, die sich durch irgendetwas verzögert hatte, Jonas hatte nicht gefragt. Aber so musste der Mann dafür nicht extra noch mal herkommen. Er hatte dafür sogar ein altes Handy bekommen, mit dem er Winchester nach der Abholung anrufen sollte, und für fünfzig Dollar mehr tat er sogar das.

Vom Entrümpler zum Haussitter, oder wie immer man das nannte, was er die nächsten Tage machte, denn zu tun hatte er ja nichts weiter, als zu warten und es sich gutgehen zu lassen, bis die Leute kamen, um die drei Container zu holen.

Und dass Winchester ihm erlaubt hatte, auch die folgenden Nächte noch im Haus zu verbringen und den Schlüssel und das Handy dann einfach in einen der Blumentöpfe auf der Veranda zu stecken, wo Winchester sie dann bei passender Gelegenheit abholen wollte – besser hätte dieses arbeitsreiche Wochenende für ihn nicht enden können, fand Jonas und grinste zufrieden in den in unzähligen Farben leuchtenden Himmel des nahenden Sonnenuntergangs hinauf.

Heute würde es kein Gewitter geben, zumindest hatte das der Wetterbericht im Fernsehen vorhin verkündet, obwohl sie der Regen in der Nacht nicht sonderlich gestört hatte. Sie waren im Haus in Sicherheit gewesen und außerdem hatte er dadurch endlich mal wieder ein sauberes Auto.

Und er hatte noch ein kaltes Steak im Kühlschrank, denn so gut wie die vergangenen drei Tage, hatte weder Jonas noch der Rest ihrer kleinen Truppe in letzter Zeit gegessen. Dass Karl so gut kochen konnte – Jonas hätte ihn am liebsten gebeten, heute Abend noch zu bleiben, doch da der Mann einen kleinen Sohn zu Hause hatte, hatte er natürlich nichts in der Richtung gesagt, sondern sich von Karl, Dennis und Miguel verabschiedet, die sich unverkennbar darauf gefreut hatten, mit vollen Autos und gefüllten Geldbörsen nach Hause zurückzukehren.

»Okay, ab zum Kühlschrank«, erklärte Jonas sich selbst und hüpfte mit einem Grinsen beschwingt von der Ladefläche, weil sein Magen sich über das Steak unter Garantie freuen würde. Er würde sogar den Salat essen, den Miguel aus den Tomaten vom Gemüsegarten gemacht hatte. »Vielleicht sollte ich mir so einen Campingkocher zulegen«, murmelte er nachdenklich, während er seinen Wagen umrundete. »Nichts gegen Fertigessen aus der Dose, aber heiß gemacht schmecken die Bohnen mit Fleisch und die Eintöpfe bestimmt um Längen besser.«

Und da er jetzt fast schon reich war, für seine Verhältnisse, war ein kleiner Campingkocher finanziell machbar. Er sollte die Gelegenheit nutzen und den Pick-up durchchecken lassen. Der Wagen war uralt, aber er fuhr. Auf das Radio kam es ihm dabei nicht an, aber er hatte die Bremsen schon ewig nicht überprüfen lassen und vielleicht konnte er wegen der möglichen Kosten ein bisschen handeln. Die ganzen fünfhundert Dollar würde Jonas nicht investieren, dafür brauchte er das Geld zu dringend, aber wenn er irgendwo in einer kleinen Werkstatt einen Mechaniker fand, der nach Feierabend einen Blick auf die Bremsen und den Rest warf – es war einen Versuch wert, entschied er, warf die Fahrertür zu und machte sich auf den Weg zum Haus.

Aus dem Augenwinkel sah Jonas einen Schatten hinter sich auftauchen, war aber nicht schnell genug, als er sich umdrehte, und plötzlich lag ein warmer Mund an seinem Hals, eine Zunge leckte über die Stelle, wo sein Puls dicht unter der Haut schlug, und dann drangen unerwartet scharfe Zähne durch seine Haut und er hörte saugende und schluckende Geräusche, während sein Blut getrunken wurde.

Was zum …?

Da trank eindeutig jemand sein Blut.

Was vollkommen unmöglich war, weil Menschen kein Blut tranken. Jedenfalls nicht, in dem sie sich auf anderen Menschen stürzten, als wären sie ein gottverdammter Vampir.

Verrückte taten das vielleicht, aber wenn so jemand hier in Arizona frei herumlief, hätte Winchester ihn bestimmt gewarnt, denn blutleere Leichen dürften selbst im kleinsten Nest mitten in einer Wüste auffallen.

Er lauschte auf das leise Schmatzen, das Schlucken – und es tat nicht mal weh, was Jonas verwunderte, bis ihm dann wieder einfiel, was hier gerade passierte.

Das konnte doch nur ein Albtraum sein.

Er musste auf dem Weg zum Haus irgendwie gestürzt sein, sich den Kopf angeschlagen haben, was auch immer. Er war zu lange clean, als dass er den Angriff auf eine Halluzination oder Einbildung durch Drogen schieben konnte, aber warum konnte er sich dann nicht bewegen? Warum stand er einfach so da und ließ widerstandslos über sich ergehen, dass ein kleiner Fremder mit braunen Haaren sein Blut trank?

Wobei klein relativ war, doch sein Angreifer war eindeutig ein Stück kleiner und auch schlanker als er, und das wollte was heißen, so dünn wie Jonas selbst bereits seit einer Weile war.

Und so schnell, wie der Angriff gekommen war, war er auch wieder vorbei. Der Fremde half ihm dabei, sich vorsichtig auf den Boden zu setzen und an seinen Pick-up lehnen. Dann leckte er sich die Finger und strich mit den Fingerspitzen über seinen Hals. Jonas spürte es nicht, obwohl er damit gerechnet hatte, immerhin war er gerade gebissen worden und dieser Kerl hatte sein Blut getrunken, doch auch an den Fingern des Mannes war kein Blut zu sehen, als der sie zurückzog und ihn dabei prüfend anschaute, so als würde er auf etwas warten.

Doch Jonas konnte sich noch immer nicht rühren, es schien ihm aber sonst gut zu gehen. Sein Angreifer erhob sich und lief um seinen Truck herum, öffnete die Türen und trat kurz darauf mit einer Wasserflasche zu ihm, deren Deckel er mit ziemlich ungelenken Bewegungen abschraubte und dann hektisch trank, wobei er sich zweimal verschluckte und husten musste. Doch er wurde erst ruhiger, als der erste Durst gestillt schien, während Jonas den Mann immer noch entgeistert anstarrte. Er träumte nicht, dessen war er sich mittlerweile sicher, bloß was war das dann hier gerade?

Der Unbekannte ließ seinen Blick langsam über den Pick-up wandern und Jonas hätte am liebsten die Augen verdreht, weil er ahnte, was sein Angreifer als nächstes vorhatte.

Toll, erst wird mir das Blut ausgesaugt und jetzt werde ich auch noch beklaut. Er hätte dem Fremden seinen Ärger gern verbal an den Kopf geworfen, aber sprechen funktionierte leider genauso wenig wie bewegen. Herrje, hatte er sich nicht gerade noch über diesen gelungenen Start in die neue Woche gefreut? Manchmal war das Schicksal eindeutig ein gehässiges Miststück.

Jonas sah dem Mann zu, wie er die Flasche zur Hälfte leerte, wobei ihm sehr schnell auffiel, wie krank sein Angreifer aussah. Er war zwar kein Arzt, sodass er das nicht wirklich beurteilen konnte, aber die blasse Haut, die rissigen Lippen und dazu war der Mann auffällig dünn – normal war das jedenfalls nicht. Und offensichtlich hatte er seit Stunden nichts mehr getrunken, denn die Flasche wurde immer leerer. Sein Angreifer musste ziemlich verzweifelt sein. Oder eher halb verdurstet.

Nur das mit dem Blut trinken passte für Jonas nicht in das Bild eines Typen, der sich hier draußen verirrt und gerade noch den Weg bis zu ihm geschafft hatte. Dabei hätte er sein Wasser ohne zu fragen freiwillig mit ihm geteilt. Nur weil er obdachlos und arm war, hieß das doch nicht, dass er einen Verdurstenden einfach so sterben ließ. Aber wer wusste schon, was dieser Kerl erlebt hatte. Allein die Kleidung, die er trug. Eine Hose nur mit Gummizug, dazu ein dreckiges T-Shirt. Und von Schuhen hatte der Mann offenbar noch nie etwas gehört.

War er etwa irgendwo ausgebrochen?

Eine Anstalt für Geisteskranke vielleicht, aber wo sollte hier in der Gegend so etwas sein? Ein Gefängnis gab es in der Nähe auch nicht, nur einen alten Armeestützpunkt. Aber der war seit Jahren verlassen, was Jonas nur wusste, weil Karl, Dennis und Miguel aus der Gegend stammten und ihm am Wochenende so einiges über die kleinen Ortschaften in der Umgebung erzählt hatten, wo der Aufschwung auf sich warten ließ und immer mehr junge Leute wegzogen, weil sie hier einfach keine guten Jobs fanden und immer mehr Läden schließen musste. Miguels Kinder mussten mittlerweile eine Stunde fahren, um weiter zur Schule gehen zu können, und bei Dennis war es ähnlich. Einzig Karl brauchte sich darüber noch keine Gedanken machen, weil sein Sohn erst in ein paar Jahren zur Schule kam und er hoffte, bis dahin in der Stadt neu anfangen zu können.

Aber zurück zu seinem kranken Angreifer, der jetzt von der Wasserflasche abließ, in der noch ein Rest verblieben war, und ihn in einer Mischung aus Ungeduld und Sorge musterte.

Jonas versuchte zu seufzen, es klappte. Davon ermutigt hob er eine Hand, zumindest stellte er sich vor, und als das ebenso klappte, runzelte er die Stirn und warf seinem Gegenüber einen unwirschen Blick zu, der daraufhin zu lächeln begann, was ihn dann wirklich ärgerte. Er schnaubte und auf einmal konnte er wieder reden und sich bewegen.

»Hast du mich eben ernsthaft gebissen und dann mein Blut getrunken?«, fragte er, vollkommen verdattert wegen dem, was er gerade erlebt hatte und trotzdem nicht glauben konnte, und noch während er den Fremden verärgert anschaute, fiel dessen Lächeln in sich zusammen und machte einem so entsetzen Blick Platz, dass Jonas zu dämmern begann, dass hier offenbar etwas ganz und gar nicht nach dem Plan seines Angreifers gelaufen war, und ob das für ihn und seine Gesundheit gut oder schlecht war – wenn er bedachte, was ihm zuvor angetan worden war –, würde sich wohl gleich zeigen. »Keine Ahnung, was du dir bei der Sache gedacht hast, aber ich war so lange ein Junkie, dass mein Körper offenbar etwas anders tickt, als der von normalen Leuten, die du sonst leer saugst.«

Nach den Worten wurde er angeknurrt und Jonas schnaubte angesäuert, denn sein Gegenüber klang irgendwie empört, was fast schon wieder lächerlich war, weil er hier derjenige war, der allen Grund gehabt hätte, sich zu empören, immerhin war sein Hals gerade – Jonas' Gedanken kamen abrupt zum Stillstand, er griff sich an den Hals und fand nichts. Keine Schmerzen. Keine Narbe. Keinerlei Spuren.

Wie konnte das sein? Er musste verletzt sein, denn er hatte sich diesen Angriff definitiv nicht eingebildet. Jonas strich über die Haut an seinem Hals, um wirklich sicherzugehen, und noch während er das tat, dämmerte es ihm.

»Augenblick mal«, murmelte er. »So machst du das immer, oder? Du machst deine Opfer wehrlos, hinterlässt keine Spuren an deinen Angriff und niemand erinnert sich hinterher an das, was passiert ist. Du löscht ihr Gedächtnis, hab ich recht?«

Es dauerte etwas, aber am Ende nickte der Fremde und sah dabei so schuldbewusst aus, dass Jonas zögerte, ihn dafür laut und verärgert anzuschreien. Vor allem weil ihm just der Mann an der Tankstelle einfiel, und die Freundlichkeit, die ihm zuteil geworden war und die er eigentlich hatte zurückgeben wollen.

Zwar nicht unbedingt an einen kleinen Möchtegernvampir, aber immerhin lebte er ja noch. Und um ehrlich zu sein, wurde Jonas von Sekunde zu Sekunde neugieriger, wieso dieser junge, blauäugige Kerl ihn angegriffen und sein Blut getrunken hatte. Und warum er sich, im Gegenzug zu dessen anderen Opfern, daran erinnern konnte.

Jonas zog die Beine an, um aufzustehen, und da sein Körper ihm sofort gehorchte, war die Wehrlosigkeit von zuvor offenbar Geschichte. Sehr gut. Nicht gut war, wie der Fremde sofort von ihm zurückwich und dabei ängstlich wirkte, so als rechnete er damit, geschlagen oder Schlimmeres zu werden.

»Ich tue dir nichts«, sagte Jonas, während er sich den Staub von der Hose klopfte. »Ich bin ziemlich verärgert, weil du mich angegriffen hast, und ich habe eine Mengen Fragen deswegen, aber ich werde dir nichts tun, verstanden?« Sein Sexpartner von der Tankstelle wäre wahrscheinlich stolz darauf, weil er ruhig blieb, obwohl er stinksauer war. »Aber vorher … Hast du noch Durst?«

Die Frage wurde mit einem leichten Kopfschütteln verneint und hinterher reichte der Fremde ihm die Wasserflasche. Jonas trank den Rest und warf die Flasche auf die Ladefläche, denn er würde sie nicht einfach wegwerfen. Es gab schon genug Müll in allen Ecken der Welt, da musste er seinen eigenen nicht auch noch überall verteilen. Sein Blick fiel auf die Container und hob die Flasche wieder von der Ladefläche, um sie hinter die Reste des dunklen Kleiderschranks zu werfen, in dem er seine neuen Decken gefunden hatte.

Er suchte den Blick des Fremden. »Hast du Hunger?« Jonas musste ungewollt grinsen, als die blauen Augen sich umgehend ein weiteres Mal auf seinen Hals hefteten. Vielleicht hätte er vor dem Mann Angst haben sollen, aber irgendwie wirkte der auf ihn nicht wie ein Meuchelmörder und das hätte er ohnehin vor ein paar Minuten noch weitaus einfacher haben können. »Das vergisst du lieber schnell. Mein Hals ist tabu.«

Eine Entschuldigung wäre nett gewesen, die kam allerdings nicht. Zumindest reichte es für einen verlegenen Blick, ehe sein Gegenüber tief durchatmete und ihn fragend anschaute. Dabei fiel Jonas dann auch endlich mal auf, dass der Fremde bislang kein Wort zu ihm gesagt hatte.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte er und runzelte die Stirn, als die einzige Antwort ein Kopfschütteln war. »Soll das heißen, dass du keinen Namen hast?« Schweigen. »Ich bin Jonas.« Kein Wort. Überhaupt keine Reaktion. Er wurde nur angesehen und das machte Jonas gleichermaßen misstrauisch, wie es ihn auch irritierte. Hinter dieser Geschichte musste mehr stecken, allein schon wegen dieser Bluttrinkerei, und Jonas würde den Teufel tun, sich dauerhaft mit Schweigen zufriedenzugeben. Er wollte Antworten, und zwar schnell. »Wo kommst du her?«

Der junge Mann deutete hinter sich, direkt in die Einöde, da es außer der Farm hier in der Nähe absolut nichts gab. Ohne ein Auto war man also definitiv aufgeschmissen. Jonas kratzte sich ratlos an der Nase, weil ihm die Antwort nicht weiterhalf. Aber so durstig, wie der Kerl gewesen war, musste er schon längere Zeit unterwegs gewesen sein. Und das ohne Wasser, ohne Hut, ohne Schuhe. Es war fast ein Wunder, dass er nicht mit einem Sonnenstich irgendwo umgekippt war.

»Okay, so kommen wir nicht weiter.« Er sah in die langsam aufziehende Dämmerung. »Es wird bald dunkel, also lass uns erst mal reingehen. Ich passe für ein paar Tage auf das Haus auf und falls du nicht was Besseres vorhast, kannst du bleiben, eine Dusche nehmen, etwas essen«, Jonas sah auf die nackten Füßen des Kerls, »und vielleicht finden wir in den Containern ja noch Socken und ein Paar Schuhe und andere Kleidung für dich.«

Er erinnerte sich daran, dass er mit Miguel aus einem der Kleiderschränke Sachen für Teenager geräumt hatte, die seinem namenlosen Gast ungefähr passen könnten. Sie sollten danach suchen, bevor es dunkel war, denn Jonas wollte nicht mit seiner Taschenlampe in dem Container herum klettern und er konnte kaum den jungen Mann darum bitten, solange der nicht einmal Schuhe an den Füßen hatte.

Wieder keine Reaktion und Jonas seufzte leise. »Weißt du, es wäre echt nett, wenn du wenigstens mal irgendetwas zu mir sagen würdest.«

Es dauerte einen Augenblick, aber dann gab der Mann sich einen Ruck, straffte die Schultern und trat vorsichtig auf ihn zu, ehe er sich an den Hals griff und den Kopf schüttelte. Und was sollte das nun heißen? Jonas runzelte die Stirn, dann öffnete der Unbekannte seinen Mund, doch es kam kein Ton heraus, bevor er wieder mit dem Kopf schüttelte und ihn ratlos ansah, bis bei Jonas plötzlich der Groschen fiel.

»Du kannst nicht sprechen?«

Endlich kam eine Reaktion, sogar eine recht enthusiastische, denn der junge Mann nickte hektisch und lächelte anschließend zögerlich, bevor er noch einen Schritt näher trat und eine Hand ausstreckte, als wollte er ihn begrüßen. Na immerhin hat er ein paar Manieren, dachte Jonas, und nahm das Angebot an, wobei er sich über die unerwartete Kälte der Finger seines Gegenübers doch ziemlich erschreckte.

»Ist dir kalt?«

Wieder ein Nicken, ehe der junge Mann über seine Schulter Richtung Sonne sah, die bald hinter den Bergen verschwunden sein würde. Jonas zögerte nicht länger.

»Okay, ich suche schnell in den Containern, ob ich dort was passendes zum Anziehen für dich finde, damit du heiß duschen kannst. Geh schon mal ins Haus. Wir haben zwar keine Möbel mehr, aber ich bringe gleich Decken und meinen Schlafsack mit rein. Für die nächsten paar Nächte wird das schon gehen.«

Und er würde eine weitere Flasche Wasser und die Tomaten mit rein nehmen, denn auch wenn er immer noch eine gefühlte Million Fragen hatte, deren Beantwortung allerdings schwierig werden dürfte, da sein »Gast« nicht sprechen konnte, der Mann sollte wirklich dringend etwas essen, das bitte nicht flüssig war und aus seinem Hals kam.

***

Am Ende aß er das Steak und den Rest Tomatensalat allein, weil der Unbekannte partout nichts essen wollte. Aber da er im ersten Container tatsächlich einen Sack Kleidung und mehrere Paar Schuhe entdeckt hatte, konnte er ihn danach zumindest zu einer langen Dusche überreden, auch wenn er ihm erst mal die Armaturen im Badezimmer erklären musste.

Jonas räumte ratlos das Geschirr zusammen, während oben die Dusche zu hören war. Wo hatte der Kerl bisher gelebt, dass er nicht mal wusste, wie eine normale Dusche funktionierte? In einem unterirdischen Bunker? Andererseits verstand er ihn sehr gut, musste also irgendwie Kontakt zu Menschen gehabt haben, sonst würde er nicht ihre Sprache sprechen, beziehungsweise er würde sie nicht verstehen, denn reden fiel ja leider aus. Er ging ins Wohnzimmer hinüber, wo er aus seinem Schlafsack und den Decken zwei Schlafplätze hergerichtet hatte. Dazwischen stand eine Wasserflasche und die Taschenlampe, die immer griffbereit in seiner Nähe lag. Jonas glaubte zwar nicht, dass er sie in der Nacht als Waffe benutzen musste, um sich den jungen Kerl vom sprichwörtlichen Hals zu halten, aber ein bisschen nervös war er dennoch, als er sich auf seinen Schlafsack setzte und nach einem der beiden Bücher griff, die er ebenfalls wieder mit ins Haus gebracht hatte.

Er wollte gar nicht lesen, aber er brauchte jetzt irgendetwas, um es in der Hand zu halten – und um es seinem Angreifer im Notfall an den Kopf werfen zu können. Jonas verdrehte über sich selbst die Augen. Er benahm sich wie ein Idiot. Dieser Kerl hätte ihn umbringen können, aber er hatte es nicht getan. Ganz im Gegenteil, er war bei ihm geblieben und hatte gewartet, bis er sich wieder bewegen konnte. Okay, was danach gekommen war, damit hatte er nicht gerechnet, aber trotzdem hatte er ihn nicht wieder angegriffen, sondern war immer noch hier.

»Er ist genauso allein wie ich«, murmelte Jonas, auch wenn er das nicht mit Sicherheit wusste, doch er konnte sich selbst mit sehr viel gutem Willen nicht vorstellen, dass jemand ohne Schuhe durch Arizona lief. Noch dazu seine Reaktion, als Jonas aufgestanden war. Der Mann hatte damit gerechnet, geschlagen zu werden und Jonas wollte wissen, warum.

»Geht es dir besser?«, fragte er, als der Mann wieder zu ihm nach unten kam, wobei er Hose, Pullover und die Socken trug, die er ihm vorhin rausgesucht hatte. Sie waren etwas weit, aber es würde schon gehen und für Hose konnten sie morgen in den Containern bestimmt noch einen Gürtel auftreiben. Nach einem Blick in das zufriedene Gesicht seines Gegenübers lachte er. »Ja, dir geht es eindeutig besser.«

Was, wo er jetzt genauer hinsah, auch kaum zu übersehen war, denn die zuvor blasse Haut war unverkennbar rosiger und sein Gast wirkte längst nicht mehr so verhärmt und verhungert. Oder eher verdurstet. Ungewöhnlich, fand er, aber andererseits trank dieser Mann menschliches Blut, an ihm dürfte also noch so einiges ungewöhnlich sein.

Unter anderem die tiefroten Schrammen, die er an seinem rechten Handgelenk hatte, und die Jonas erst auffielen, als der Mann den Ärmel seines Pullovers etwas höher schob, um sich zu kratzen, wobei seine Haut für eine Sekunde seltsam grünlich zu leuchten schien. Jonas blinzelte irritiert, sah genauer hin – es war weg. Das musste er sich eingebildet haben. Vielleicht lag es am diffusen Restlicht von draußen, weil es mittlerweile dunkel war und Jonas im Wohnzimmer kein Licht eingeschaltet hatte. Nur die Lampen oben im Flur und in der Küche brannten noch. Gott sei Dank hatte Winchester beschlossen, die Küche und die gut gepflegten Geräte im Haus zu lassen, falls ein Hauskäufer daran interessiert war, schnell einzuziehen.

»Bis auf die Küche, die Bäder und die Deckenlampen in den Räumen und Fluren will ich, dass ihr alles auseinander nehmt und raus reißt«, hat Winchester gesagt, und daran hatten Jonas und die anderen sich gehalten.

»Woher hast du diese Verletzung?«, fragte er und schüttelte den Kopf, als der Mann sofort den Ärmel herunterzog. »Vergiss es und komm her. Ich will mir das ansehen. Du hattest vorhin Angst vor mir, weil du dachtest, dass ich dich schlage, und das da sind Spuren von Fesseln, ich bin nicht blöd.« Und er hatte im Truck eine Erste-Hilfe-Tasche, die er gleich holen würde, doch erst mal musste er den verschreckten Ausdruck wieder aus dem Gesicht des Mannes bekommen. »Hör zu, deswegen bin ich mit Sicherheit nicht sauer auf dich, im Gegenteil. Also? Vertraust du mir genug, damit ich mir das genauer ansehen und es hinterher versorgen kann?«

Es dauerte eine Weile, bis der Unbekannte sich entschied, es mit ein wenig Vertrauen zu versuchen, denn er kam zu ihm und ließ sich auf die Decken in einen Schneidersitz sinken. Es folgte ein kurzer, prüfender Blick, dann schob er den Pulloverärmel hoch und hielt ihm sein Handgelenk hin. Jonas umfasste es sehr vorsichtig, da er den Mann nicht zusätzlich erschrecken wollte, und er musste seine vorherigen Aussage revidieren, denn diese Schrammen waren zu tief, um von einfachen Fesseln zu sein. Er hatte in der Armee genug Fesselspuren gesehen, um heute den Unterschied zwischen Ketten und Handschellen oder einfachen Seilen zu erkennen.

»Das waren Eisenfesseln, oder?«, fragte er leise und hob den Blick, als keine Antwort kam. »Wo warst du eingesperrt? Es gibt in der Nähe eine alte Militärbasis, aber die soll verlassen sein.« Jonas begriff, als sein Gegenüber sich auf die Lippe biss. »Sie ist nicht verlassen, oder? Und du warst nicht freiwillig dort.« Das Kopfschütteln, das folgte, war eindeutig. »Scheiße«, murmelte er, denn damit war ihm klar, dass dieser Mann ganz gewaltig in der Scheiße steckte. Und Jonas hätte sein gesamtes Geld darauf gewettet, dass das mit dieser Bluttrinkerei zu tun hatte. »Wenn die dich wieder in die Finger kriegen würden … Hey, hey ...« Er hielt das Handgelenk fest, als der Unbekannte fast panisch von ihm abrücken wollte. »Ich bringe dich garantiert nicht zurück«, versprach er, denn das wäre ihm im Traum nicht eingefallen. »Das war rein hypothetisch gedacht, hörst du? Die bringen dich um, falls sie dich wieder einfangen, nicht wahr?«

Er bekam keine Antwort, aber das war auch nicht wirklich nötig. Ein Blut trinkender Irgendwas, den das Militär auf einer Basis gefangengehalten hatte, die offiziell als verlassen galt – er konnte sich an drei Fingern abzählen, was aus dem Kerl wurde, wenn die Armee ihn wieder einfing.

»Sind sie hinter dir her? Sind wir hier im Haus sicher genug, um erst mal bleiben zu können?«, fragte er und darauf zuckte der Mann die Schultern und verzog die Lippen zu einer gequält wirkenden Grimasse, was Jonas nicht viel weiterhalf. Er musste es genau wissen. »Wann hast du das letzte Mal einen Soldaten gesehen? Ich meine, sie sind dir bestimmt gefolgt.« Die Antwort darauf war ein Nicken und dann hob der Fremde die Hand und streckte zwei Finger aus. Gut, er konnte also zählen. »Das heißt, du hast vor zwei Tagen ein paar Soldaten da draußen gesehen, die auf der Suche nach dir waren, konntest ihnen aber aus dem Weg gehen, richtig?«

Noch ein Nicken. Sehr gut. Das hieß, wenn sie Glück hatten, waren sie hier die nächsten Tage sicher. Na ja, so sicher wie man sein konnte, mit dem Militär am Arsch und einem Fremden auf der Decke neben sich, der Menschen das Blut aussaugte. Jonas starrte wieder auf die Verletzung. Er sollte sie desinfizieren und einen leichten Verband anlegen. Wenigstens für ein, zwei Tage, bis sich Schorf gebildet hatte.

»Das andere Handgelenk auch?«, fragte Jonas und war von dem nächsten Nicken nicht überrascht. »Fußgelenke?« Wieder ein Nicken, das ihn seufzen ließ. »Ich hole meine Erste-Hilfe-Tasche rein und kümmere mich darum. Warte kurz … Hey, was ist denn los?« wollte er wissen, denn plötzlich wurde er an den Händen festgehalten und verunsichert angesehen. Es dauerte einen Moment, bis Jonas begriff. »Ich bringe dich weder dahin zurück, noch lasse ich dich einfach hier allein. Darauf gebe ich dir mein Wort. Weißt du, was das bedeutet, ein Versprechen zu geben?« Wieder ein Nicken. »Gut, denn ich gebe dir hiermit ein Versprechen. Ich gehe nur raus zum Truck, um etwas zu uns ins Haus zu holen. Ich bin gleich wieder da. Ich haue nicht ab und ich verrate dich ganz sicher nicht an das Militär. Die kann ich nämlich genauso wenig leiden wie du.«

Nach den Worten wurde er zwar losgelassen, aber der junge Mann folgte ihm bis zur Haustür und behielt ihn die ganze Zeit im Blick, was Jonas so einiges darüber sagte, was diesem Mann angetan worden war. Was auch immer er war, deshalb musste man ihn nicht einsperren und festketten. Oder wie ein Monster behandeln. Andererseits war das auch nicht verwunderlich. Er selbst war ja schließlich verprügelt und entlassen worden, bloß weil er schwul war. Und dass die Menschheit sich noch niemals sonderlich damit hervorgetan hatte, dem Fremdem gegenüber aufgeschlossen und tolerant zu sein – im Endeffekt war es also keine allzu große Überraschung, dass sie einen stummen Mann, der kaum erwachsen war, kurzerhand weggesperrt hatten, weil er ein Vampir war. Oder irgendetwas in der Art.

Mit der Erste-Hilfe-Tasche in der Hand winkte er zum Haus hinüber. »Siehst du, ich bin immer noch hier.« Ein Lächeln, das, als Jonas näherkam, spitze Eckzähne sichtbar machte, auf die er amüsiert deutete. »Wie versteckst du die? Ich meine, sobald du lächelst, sieht man die spitzen Zähne.«

Ein verblüffter Laut folgte, dann griff sich der Mann hastig an die Zähne und schloss den Mund. Als er ihn kurz darauf ein weiteres Mal öffnete, sahen seine Zähne völlig normal aus und Jonas stutzte verblüfft.

»Wie machst du das?« Er bekam keine Antwort und winkte ab. »Entschuldige. Dass du nicht reden kannst, macht es nicht gerade leicht, mit dir zu kommunizieren. Du kannst die Zähne also bei Bedarf verschwinden lassen?« Sein Gegenüber nickte und ihm kam ein Gedanke. »Ich schätze mal, du brauchst mehr Blut. Zeigen sie sich, wenn du Hunger hast?« Noch ein Nicken, dem ein frustrierter Blick folgte. »Du hast keine gute Kontrolle darüber, wenn du Hunger hast?«, riet Jonas und traf erneut ins Schwarze. »Dann iss doch etwas.«

Der Vorschlag stieß allerdings auf wenig Gegenliebe und für die nächsten Minuten würde Jonas es dabei belassen, denn erst mal wollte er sich um die Wunden kümmern. Es wäre nicht gut, wenn sie sich entzündeten, denn der nächste Arzt war erstens weit weg und zweitens würde es zu viele Fragen aufwerfen, mit solchen Verletzungen überhaupt einen Arzt aufzusuchen. Dann hätten sie ruckzuck die Cops und anschließend vermutlich auch schnell wieder das Militär am Hals und das galt es tunlichst zu vermeiden.

Wie gut, dass er immer darauf achtete, genug Antiseptikum bei sich zu haben, denn Arztbesuche standen nicht auf der Liste jener Dinge, die Jonas sich in den letzten Jahren geleistet hatte. Es war billiger, Pflaster zu kaufen oder eine größere Wunde zu klammern. Notversorgung hatte er schließlich bei den Marines gelernt und solange er nicht ein Bein verlor, kam er klar.

Sie kehrten ins Wohnzimmer zurück und Jonas holte das kleine Fläschchen Antiseptikum aus der Erste-Hilfe-Tasche, was mit neugierigem Blick beobachtet wurde. Er grinste kurz, nahm die linke Hand des Mannes und schob den Pullover hoch. Mit einem »Vorsicht, das wird ziemlich brennen.« sprühte er etwas Desinfektionsmittel rund um das Gelenk und das schmerzhafte Zischen ließ ihn mitfühlend aufsehen. »Ich weiß. Keine Sorge, ist gleich vorbei«, sagte er und nahm eine Mullbinde aus seiner Tasche, die er vorsichtig um das Handgelenk wickelte. Dasselbe wiederholte er mit dem anderen Hand- und den Fußgelenken, um bei der letzten Mullbinde kurz zu stutzen, denn auf einmal veränderte sich die helle Hautfarbe seines geheimnisvollen Angreifers und schimmerte grünlich. Er hatte es sich also doch nicht eingebildet.

Sein Blick suchte den des Mannes. »Du wirst mir das nicht erklären, oder?« Ein Kopfschütteln folgte und so verunsichert, wie der Mann dabei aussah, entschied er, das auch diese Frage noch etwas warten konnte. »Gut, verschieben wir das fürs Erste, denn ich habe eine andere Frage an dich, die vermutlich mehr als lächerlich klingt, aber … Bist du ein Vampir?«

Der angewiderte Blick, mit dem er danach bedacht wurde, ehe der Mann seinen Fuß zurückzog und wieder in die Socken schlüpfte, war unmissverständlich, und Jonas schürzte kurz die Lippen. »Gut, halten wir also erst mal fest, du bist kein Vampir. Dann stellt sich mir die Frage: Was bist du? Ich meine, normale Menschen trinken kein Blut. Jedenfalls nicht, solange sie noch alle Tassen im Schrank haben.« Sein Gast sah ihn verständnislos an und Jonas schmunzelte. »Das ist ein Sprichwort. Erkläre ich dir ein anderes Mal. Ist auch nicht so wichtig. Wichtiger wäre, zu erfahren, aus welchem Grund du mich angegriffen und mein Blut getrunken hast?« Als der Fremde sich daraufhin mit einem unverkennbar hungrigen Blick über die Lippen leckte, kam ihm ein Gedanke, der eigentlich vollkommen abwegig war, aber das war diese Situation ohnehin und irgendwie musste er ja mal an Antworten kommen. »Ist Blut etwa deine Nahrung? Wolltest du deswegen vorhin nichts essen?«

Ein Nicken, wenn auch reichlich zögerlich, dicht gefolgt von einem bedächtigen Wiegen des Kopfes, was Ja oder auch Nein heißen konnte. Jonas entschied, weiter zu fragen. Etwas anderes hatten sie ohnehin nicht zu tun und er wollte definitiv wissen, was es mit diesem Mann auf sich hatte.

»Kannst du irgendetwas anderes essen?«

Ein Kopfschütteln, dann ein Nicken, dem ein unverkennbar frustriertes Schnauben folgte. Wahrscheinlich, weil er sich nicht vernünftig verständlich machen konnte. Jonas wäre in so einer Situation auch frustriert gewesen und er erkannte, dass er seine Fragen anders, deutlicher, formulieren musste, sonst würde das hier ewig dauern.

»Ich versuche mal was anderes … Gibt es etwas anderes in der näheren Umgebung, das du essen könntest?« Ein Nicken. Gut, das war ein Anfang. Jonas überlegte kurz. »Eine Pflanze?« Ein entschiedenes Kopfschütteln. »Ein Tier? Überhaupt Tiere?« Ein Nicken, samt angewidertem Blick. Jonas grinste. »Okay, ein Tier wäre möglich, aber wenn du die Wahl hast, beißt du lieber den nächsten Menschen, weil der das, also abgesehen von mir, ohnehin nicht merken würde?« Das nächste Nicken wurde von einer Art erleichtertem Seufzen begleitet, und Jonas begann zu dämmern, dass, wem auch immer er gerade gegenüber saß, auf keinen Fall ein normaler Mensch sein konnte. »Was bist du?« Diesmal kam keine Reaktion und daran war er selbst schuld, da sein Gegenüber nun mal nicht sprechen konnte. »Okay, anders … Woher kommst du?«

Dieses Mal dauerte es sehr lange, bis der Unbekannte seine Hand hob und an die Decke zeigte. Jonas blinzelte verdutzt, da ihm klar war, dass damit nicht die Zimmerdecke gemeint war. Und auch nicht das Haus oder das Dach. Er atmete tief durch, denn es gab nur eine Sache, die der Mann meinen konnte, und das überstieg seine Vorstellungskraft bei Weitem.

»Nein«, wehrte er deshalb automatisch ab, denn es war eine Sache, nachts die Sterne zu beobachten und sich zu fragen, was und ob da oben etwas war, es war jedoch es völlig anderes, mit einem jungen, brünetten Mann mit dunkelblauen Augen neben sich in einem leer geräumten Wohnzimmer zu sitzen, der mal eben behauptete, aus den unendlichen Weiten des Weltraums zu stammen. »Das ist nicht möglich. Du kannst kein Alien sein, weil es nämlich keine Aliens gibt.«

Er wurde angegrinst, ehe der Fremde seinen Kopf etwas zur Seite neigte und ihn mit einem Blick ansah, der zu sagen schien: »Sagt wer?«, und Jonas ließ sich mit einem Stöhnen nach hinten auf den Schlafsack sinken.

Im nächsten Moment musste er lachen, es ging einfach nicht anders. Ein Alien, na klar. Er, der schwule Obdachlose, der seit Jahren nichts Vernünftiges auf die Reihe bekam, traf mitten im Nirgendwo von Arizona auf eine außerirdische Lebensform, die ihn hinterrücks angriff, sein Blut trank und sich hinterher als netter Kerl entpuppte. Das Ganze war verrückt, aber irgendwie auch wieder nicht.

»So was kann auch nur mir passieren. Ein Alien, der mein Blut trinkt und vor dem Militär auf der Flucht ist, das ihn töten will. Vielleicht hätte ich doch lieber stürzen und mir den Kopf anschlagen sollen.« Jonas winkte ab, als sich der Außerirdische mit besorgtem Blick über ihn beugte. »Alles gut, ich drehe nur gerade ein bisschen durch. Man trifft ja schließlich nicht jeden Tag einen Außerirdischen.« Der Kerl gab einen fragenden Laut von sich und Jonas wurde das Gefühl nicht los, dass er von ihm wissen wollte, ob er ihm diese Geschichte wirklich glaubte, also nickte er. »Ja, ich glaube dir. Warum, weiß ich allerdings nicht. Andererseits ist das alles so irre, wer denkt sich denn so etwas bitteschön aus? Von deiner grünlich schimmernden Haut, den spitzen Zähnen und dem Blut trinken gar nicht zu reden.«

Der Alien setzte sich wieder auf die Decke und beobachtete ihn, während Jonas sich aufrichtete und nach der Wasserflasche griff, um etwas zu trinken. Hinterher erwiderte er den Blick des Außerirdischen, während er zu grübeln begann, weil sich damit noch mehr Fragen auftaten, deren Beantwortung mühsam und langwierig werden würde.

Jonas rieb sich die Augen, denn er war müde von der harten Arbeit der letzten Tage, aber ein paar Dinge wollte er unbedingt noch wissen. »Ist es richtig, wenn ich von dir als Mann denke? Gibt es Geschlechter bei dir, wie hier auf der Erde?« Der Alien nickte. Gott sei Dank. »Du brauchst einen Namen«, entschied er und beschloss gleichzeitig, dass alle anderen Fragen bis morgen warten konnten. »Ich kann dich ja schlecht Hey, du rufen, sobald ich was von dir will. Hier auf der Erde hat jeder einen Namen, also bekommst du auch einen, egal ob Alien oder nicht.«

Der Außerirdische lächelte zögerlich, als Jonas grübelnd die Lippen schürzte, denn welchen Namen sollte er ihm geben? Es musste etwas sein, das zu ihm passte, fand er, und weil dieser Alien ihm nicht sagen konnte, wie er in seiner Welt hieß – Jonas stutzte, als ihn der Gedanke auf eine Idee brachte. Er saß hier mit einem Alien auf der Flucht, der der erste fremde Besucher auf diesem Planeten war.

Genau wie Adam einst der erste Mensch gewesen war.

Nicht, dass Jonas viel mit der Kirche und dem Unsinn, den die seit Jahrtausenden verzapften am Hut hatte, aber in diesem Fall würde er sich der Geschichte um Adam und Eva bedienen, denn der Kerl brauchte einen Namen. Punkt.

»Adam!«, sagte er schließlich und der Alien legte den Kopf etwas schräg. Abwartend. Mehr wissen wollend. Jonas nickte. »Ich erzähle dir noch, wie ich darauf komme. Mir fallen gleich die Augen zu, ich muss unbedingt schlafen, und ich schätze, dir täten ein paar Stunden Ruhe auch ganz gut.«

Nach den Worten leckte sich Adam über die vollen Lippen, woraufhin Jonas das Gesicht verzog, denn er ahnte, was dem Außerirdischen gerade durch den Kopf ging. Der schien seine Mimik aber auch gut zu verstehen, denn er senkte verlegen den Kopf, was Jonas leise seufzen ließ, ehe er eine Hand auf Adams Arm legte und wartete, bis der wieder aufsah.

»Versteh mich bitte nicht falsch, ich muss das erst mal etwas verdauen. Dass du Blut trinkst, ist für mich, und überhaupt für uns Menschen, verdammt merkwürdig. Und dass du bald mehr brauchst … Darüber werden wir reden müssen, das ist dir doch klar, oder?« Adam nickte und rieb sich derweil über den Bauch. Eine Geste, die keiner weiteren Erklärung bedurfte. »Wie lange hältst du noch durch?«, fragte Jonas und war nicht überrascht, als Adam einen Finger hochhielt.

Der Alien musste tatsächlich fast vorm Verhungern stehen und da Jonas nicht vorhatte, die Farm hinter sich zu lassen, bis die Firma die Container abgeholt hatte, würde es leider an ihm hängenbleiben, zu verhindern, dass Adam praktisch vor seinen Augen verhungerte. Keine sehr erhebende Vorstellung, aber da die Alternative war, dass Adam ihn entweder aus Verzweiflung heraus wieder angriff oder dass er das nicht tat und deshalb tatsächlich starb – nein, es musste einen anderen Weg geben.

Und zwar möglichst einen, der nicht darin mündete, dass er blutleer in einer Ecke lag.