(Achtung: unkorrigierte Leseprobe)
Prolog
Paris, Frankreich
Anfang des 19. Jahrhunderts
»Diese Sterblichen sind so widerwärtig.«
»Was hast du erwartet? Sie leben ihr unbedeutendes Leben in der Zeitspanne eines Wimpernschlags, während wir sorglos durch die Jahrhunderte gleiten, ohne Furcht haben zu müssen, vor dem
körperlichen Verfall, der sie so rasch ereilt.«
»Sauberkeit, Bildung, Moral – ein wenig mehr Selbstliebe in ihr ungestümes Wesen und ihr äußeres Erscheinungsbild wäre für den Anfang aber wohl ausreichend. Das würde es uns sehr erleichtern,
eine geeignete Mahlzeit zu finden. Möglichst eine, das nicht sturzbetrunken und mit offenem Hosenstall vornüber gebeugt an einer Mauer lehnt.«
Ein vorbeieilender Mann, der einen für die Jahreszeit viel zu dünnen Mantel trug, warf uns einen überraschten Blick zu, als er Etiennes tiefe Stimme hörte, denn wir sprachen eine andere Sprache
als die Bewohner von Paris, auch wenn wir selbige sehr gut verstanden.
»Paris, die Stadt der Sünde«, fiel mir ein, was ich neulich in einer alten Zeitung gelesen hatte, die Etienne und mir über die mit Dreck, Urin und Scheiße besudelten Schuhe geweht worden war,
nachdem wir unsere erste Mahlzeit in einer einigermaßen sauberen Seitengasse eingenommen hatten.
»Eher die Stadt des Gestanks und des Drecks.«
»Du bist zu pedantisch«, warf ich ihm nicht zum ersten Mal in unserem langen Leben vor, dabei fand ich es recht amüsant, wie viel Wert Etienne auf saubere Kleidung, dezentes Parfum und polierte
Schuhe legte.
Er hatte auch mir diese Werte nach meiner Auferstehung als Vampir beigebracht, doch hier in dieser Stadt fielen wir damit zu sehr auf und das würde im schlimmsten Fall unsere Mission gefährden,
herauszufinden, ob sich das stetig wachsende Paris des frühen 19. Jahrhunderts als zukünftiges Hauptquartier für die ebenso wachsende Population von Vampiren eignete.
»Was an einem heißen Vollbad jede Woche pedantisch sein soll, erschließt sich mir nicht. Ich ziehe es vor, nicht zu stinken, wie der arme Pöbel, der jedem Misthaufen Konkurrenz machen könnte.
Meine empfindliche Nase wird jede Nacht aufs Neue beleidigt, sobald wir unser Quartier verlassen, und ich fürchte, das wird sich nicht ändern. Wir sollten baldigst nach Rumänien zurückkehren und
ihm sagen, dass diese Stadt eine stinkende Lastergrube unter unserer Würde ist.«
Guichon würde sich bedanken, wenn wir das täten. Unserer Ältester wollte endlich weg von der Einfältigkeit auf dem Land. Er strebte nach Höherem, nach Wissenschaft, nach allgemeinem Wissen über
die Wunder der Welt. Er hatte Kundschafter in die Welt hinausgeschickt und sie hatten ihm von unzähligen Orten berichtet, an die er zu reisen wünschte. Paris war einer davon. Aus diesem Grund
waren Etienne und ich hier, vorausgeschickt um noch mehr in Erfahrung zu bringen, denn wir waren seine Getreuen, ein Teil seiner innersten Leibgarde, die ihr Leben für ihn geben würde, auch wenn
ich hoffte, dass es nie dazu kam, denn ich genoss es ebenso sehr, ein Vampir zu sein, wie ich die vielfältige Auswahl an Menschen genoss, deren warmes, immer so köstliches Blut unser Überleben
sicherte.
»Dort ist die Auswahl an frischem Blut auch nicht besser«, wandte ich ein, obwohl ich insgeheim anders dachte. Ich liebte Guichon von ganzem Herzen, doch ich gehörte zu den Wenigen in seinem
persönlichen Umfeld, die seine in meinen Augen viel zu blutrünstige Vision für eine Herrschaft der Vampire über die Sterblichen nicht teilte.
»Aber die Bauern sind sauberer«, konterte Etienne und dem konnte ich nicht widersprechen, denn das waren sie.
»Wahrlich, das sind sie. Es ist gleichwohl erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sich Paris als die moderne Welt ansieht.« Ein Rätsel in meinen Augen, wie es sie so viele in dieser Welt voller
Wunder gab. »Was findet Guichon bloß an der Vorstellung, in dieser lasterhaften Stadt ein Hauptquartier für uns Vampire zu errichten zu wollen? Die Schlösser in Rumänien sind bedeutend leichter
zu verteidigen.«
»Wir werden uns nicht mehr verteidigen müssen, wenn wir erst Herrscher über alle Sterblichen sind.«
Etienne war ein glühender Befürworter von Guichons Plan, was uns in den letzten Jahren spürbar entzweit hatte, und auch diese gemeinsame Reise würde daran leider nichts ändern. Wir mieden das
Thema, wann immer es uns möglich war, doch mir war bewusst, dass er meine Argumente nicht verstand. Ihm war die Menschheit vollkommen gleichgültig geworden. Sterbliche waren nur noch Nahrung für
ihn, und so wie die Menschen ihr Nutzvieh einsperrten, so teilte er Guichons irrsinnigen Traum, mit den Sterblichen dasselbe zu tun, um über ihr Blut verfügen zu können, wann und wo immer wir
Vampire das wollten.
Keine Jagd auf sich wehrende Nahrung mehr.
Ein Verstecken von Leichen.
Kein weiteres leben im Verborgenen.
Guichon wollte der Herrscher über alle Menschen werden, bevor die schwachen Sterblichen sich zu weit entwickelten und zu wehrhaft wurden.
Und schon sehr bald würde es ausreichend Vampire geben, um eine Stadt wie Paris unter unsere Knechtschaft zu zwingen, denn wir waren stärker, schneller und bedeutend schwieriger zu töten als
jeder Mensch. Eine Armee Blut trinkender Untoter gegen einfältige Bauern und den reichen Adel, der sich über das Fußvolk erhob, ohne zu wissen, dass sie alle bereits heute von einer furchtlosen,
grausamen Macht bedroht wurden, gegen die sämtliche Reichtümer der Welt nicht helfen konnte.
Es würde ein Gemetzel werden.
Eine Herrschaft, errichtet auf Bergen von Leichen – und das war etwas, woran ich keinen Anteil haben wollte.
»Wir werden dich verlieren, nicht wahr?«, fragte Etienne auf einmal und in seinen Augen erkannte ich den Moment völliger Klarheit, als ich ihn ansah. Er wusste, für welche Seite ich mich in
meinem Herzen bereits entschieden hatte, und ich würde ihn nicht anlügen.
»Ja, das werdet ihr.«
»Warum, Alexandre? Warum faszinieren sie dich nur so?«
Damit spielte er auf die Sterblichen an, und er kannte meine Antwort darauf, denn ich hatte sie ihm vor langer Zeit gegeben – mehr als einmal sogar. »Wir sind ein Volk, Etienne.«
»Wir sind keine Menschen. Wir sind mehr.«
Und das sah ich anders. Ich hatte es immer anders gesehen, denn wir stammten alle von ihnen ab. Jeder einzelne Vampir in dieser Welt, war einst ein Sterblicher gewesen. Wie konnten wir uns also
anmaßen, über ihnen stehen zu wollen? Das machte uns nicht besser als den Adel, der sich über seinen Pöbel erhob und hinter dicken Mauern in Saus und Braus lebte, während Männer, Frauen und
Kinder auf den Straßen verhungerten oder an Krankheiten elend zugrunde gingen.
»Wir maßen uns an, über ihnen zu stehen. Dabei sollten wir an ihrer Seite stehen, statt sie zu Sklaven machen zu wollen, wie du es als Kind warst.«
Etienne winkte mit einem abfälligen Schnauben ab. »Diese Zeiten sind lange vergangen.«
»Dennoch willst du ihnen dasselbe Schicksal aufbürden, das man einst dir selbst aufbürdete, weil deine Haut nicht hell wie die Sonne, sondern dunkel wie die edelste Schokolade ist.«
»Ein Umstand, der dich nicht davon abhielt, mir dein Herz zu schenken.«
Jetzt schnaubte ich. »Warum hätte mich die köstliche Farbe deiner Haut daran hindern sollen, dein zu sein? Ich habe vom ersten Tag an dir gehört.« Und das tat ich immer noch, obwohl der Riss
zwischen uns tiefer und tiefer wurde. »Ich werde tief in meinem Herzen für alle Ewigkeit dir gehören.«
Etienne trat auf mich zu, das tiefe Braun seiner Augen, das mich früher so sehr in seinen Bann gezogen hatte, empfand ich auch heute noch als anziehend und wunderschön. Aber meine Seele und mein
Verstand gehörten nicht mehr nur ihm, und seit Guichon die Pläne seiner Alleinherrschaft über die Menschheit vorantrieb, spürte ich unmissverständlich, wie sich meine Liebe zu den beiden Männern
mit jedem weiteren Tag veränderte.
»Ich werde für alle Zeiten dir gehören, Alexandre.« Etienne küsste mich sanft, doch sein Blick war ernst, als wir uns wieder in die Augen schauten. »Selbst wenn das bedeutet, dass wir uns eines
Tages auf dem Schlachtfeld auf unterschiedlichen Seiten wiederfinden werden.«
Und genau das würde passieren – schon sehr bald.
Kapitel 1
Charlottesville, Virginia
Oktober 2024
»... und ich würde mich sehr freuen, Sie demnächst persönlich in Front Royal begrüßen zu dürfen.«
Front Royal?
Wo sollte das bitteschön sein?
Von dieser Stadt hatte ich noch nie im Leben gehört und ich dachte auch nicht im Traum daran, daran etwas zu ändern, nur weil ich scheinbar auf einmal reich war. Na ja, wenn man das so nennen
wollte, das einem plötzlich ein riesiges Grundstück mit auf ihm stehenden Haus gehörte. Trotzdem. Ich musste nicht in ein Kaff mit seltsamen Namen reisen, um mein Erbe anzutreten, das mir ein
Onkel mütterlicherseits hinterlassen hatte, von dem ich im Übrigen ebenfalls noch nie zuvor gehört hatte.
Nicholas Warren.
Verstorbener Besitzer eines großzügigen Herrenhauses samt dazugehörigem, riesigen Waldgrundstück, und beides kam mit einem aktuellen Gesamtwert von – ich traute mich nicht, es laut zu sagen. Ich
wagte ja kaum, die siebenstellige Zahl zu denken, weil das alles eigentlich bloß ein Irrtum sein konnte, allerdings sahen die Papiere genauso echt aus, wie der offensichtlich von Hand verfasste
Brief des Mannes, der das Testament verwaltete und mich über mein Erbe informiert hatte.
Gregory Bellard.
Die schlicht aussehende Visitenkarte mit grauer Schrift, die den Unterlagen beilag, sah für mich auf den ersten Blick auch echt aus, und währen ich nachdenklich die in das dicke Papier gestanzte
Telefonnummer betrachtete, schürzte ich die Lippen. Es gab nur einen Weg für mich, herauszufinden, ob ich wirklich der einzige Erbe eines mir unbekannten Onkels war.
»Kanzlei Gregory Bellard, mein Name ist Jennifer. Wie kann ich Ihnen helfen?«
Ein richtiger Anwalt? Okay, das klang jetzt tatsächlich mehr als offiziell, allerdings hatte ich auch keine Ahnung, wer sich in solchen Fällen darum kümmerte, dass unwissende Erben über den Tod
ihrer Familienmitglieder informiert wurden. In meiner Familie gab es nur meine leibliche Mutter und wenn diese Frau tot umfiel, gab es für mich garantiert nichts zu erben.
»Hallo?«
Ich räusperte mich verlegen, als mir auffiel, dass ich immer noch nichts gesagt wurde, und trug der freundlich klingenden Frau mit kurzen Sätzen mein Anliegen vor. Aber dann wurde es noch
verrückter.
»Ja, Mister Warren, Sie sind tatsächlich der einzige Erbe von Mister Nicholas Warren. Die Unterlagen müssten Ihnen heute zugestellt worden sein?«
Sie formulierte es als Frage und ich nickte, denn der Stapel Unterlagen lag vor mir auf dem Küchentisch. »Ja, sind sie. Aus dem Grund rufe ich Sie an, denn das muss ein Irrtum sein. Ich meine,
ich weiß überhaupt nichts von einem Onkel.«
Die Frau lachte freundlich. »Ja, ich weiß. Mister Bellard hat mich vorgewarnt, dass Sie sich deswegen melden würden, aber ich versichere Ihnen, dass alles korrekt ist und seine Richtigkeit hat.
Sie sind der Erbe von Mister Nicholas Warren, geboren in Charlottesville, Virginia. Ich kenne keine weiteren Details, denn die sind natürlich vertraulich, daher hofft Mister Bellard, dass Sie
einen Besuch bei uns in Betracht ziehen, damit er Ihnen alles erklären kann. Aber falls das für Sie nicht infrage kommt, wäre es keinerlei Problem, Ihren Nachlass über den Postweg und per Telefon
oder E-Mail abzuwickeln. Es wird nur etwas teurer und dauert länger.«
»Ich ...«, war ziemlich überfordert und wusste nicht, was ich sagen sollte. Jennifer hatte dieses Problem nicht.
»Ihr Verlust tut mir sehr leid, Mister Warren, und nur keine Sorge. Sie müssen nicht sofort eine Entscheidung treffen. Mister Bellard wird alles für Sie verwahren. Melden Sie sich, sobald Sie
wissen, wie Sie vorgehen möchten.«
Gott sei Dank, denn jetzt und sofort irgendetwas zu planen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Ich musste das alles erst mal sacken lassen und mindestens eine Nacht darüber schlafen, ehe ich Kyle
und meinen Eltern davon erzählte, weil sie garantiert einen Rat für mich haben würden. Ein Haus mit Grundstück – was sollte ich damit bloß anfangen? Es verkaufen, ganz einfach. Ich wollte nämlich
nicht auf dem Land leben. Außerdem könnte ich mit so viel Geld endlich meinen gehassten Job für immer in den Wind schießen und irgendwas anderes machen. Etwas, das sich für mich nicht anfühlte,
wie eine dicke Kette um den Hals, die mich mit jedem Tag ein bisschen mehr erstickte.
Mir viel etwas ein. »Ähm, was ist mit der Beerdigung? Muss ich …?« Weiter kam ich nicht.
»Nein, Mister Warren, machen Sie sich bitte keine Sorgen, es ist für alles gesorgt. Ihr Onkel war äußerst gründlich und hatte bestimmte Vorstellungen, die Mister Bellard sehr genau für ihn
umgesetzt hat. Auch das wird er Ihnen alles im Detail erklären, wenn Sie vorbeikommen möchten. Oh, das Haus ist übrigens in einem tadellosen Zustand. Sie müssten sich daher nicht um eine
Unterkunft kümmern, sondern könnten dort nächtigen.«
Das fehlte mir gerade noch. »Danke, Jennifer«, bedankte ich mich höflich, denn die Frau konnte ja nichts dafür, dass ich mit diesem Erbe nichts anzufangen wusste.
Wir verabschiedeten uns und dann saß ich fast eine Stunde vor diesem Stapel Papiere, ratlos, was ich als nächstes tun sollte, bis ich schlussendlich ein zweites Mal zum Telefon griff, weil es auf
dieser ganzen beschissenen Erde leider nur eine Person gab, die mir sagen konnte, wer Nicholas Warren war, und ich betete und hoffte, dass sie gute Laune hatte und mir auf meine Fragen ein paar
Antworten gab.
Ich hätte den Anruf sein lassen sollen.
Aber hinterher ist man ja bekanntlich immer schlauer.
***
»Ernsthaft? Warum denn das auf einmal? Letzte Woche hast du noch lautstark und stinksauer verkündet, dass du mit einer Hütte im Wald absolut nichts zu tun haben und sie mitsamt des dazugehörigen
Landes so schnell es geht verkaufen willst.«
»Es ist ein Haus, keine Hütte«, hielt ich dagegen, auch wenn ich Kyles Einwand verstehen konnte.
Ich hatte vier Tage gebraucht, um nach dem frustrierenden Anruf bei meiner Mutter – von dem Kyle noch nichts wusste – gegen die Wut in mir anzukommen, aber langsam sah ich doch wieder klarer. Das
änderte zwar grundsätzlich nichts an meinen Plänen, das Haus und das Grundstück zu verkaufen, aber ich wollte es mir vorher wenigstens ansehen. Ich wollte einen Blick auf den Ort werfen, an dem
mein Onkel viele Jahre gelebt hatte, nur zwei Autostunden von mir entfernt, und trotzdem hatte ich ihn nie kennengelernt, nicht einmal von ihm gewusst. Und das war allein die Schuld meiner
leiblichen Mutter, dieser – nein, es wäre unhöflich, das auch nur zu denken.
»Und ich will es immer noch verkaufen.«
Nicht nur, weil ich weiterhin mir nicht vorstellen konnte, im Wald auf dem Land in einem Herrenhaus zu leben, sondern vor allem, weil das Geld, das ich dadurch bekam, uns ein sicheres Leben
bieten würde. Ich konnte meinen Job hinwerfen, den ich sowieso bloß wegen des Geldes machte, und ich konnte meinen Zieheltern, Kyle und den Mädels genug Geld geben, damit sie alle Kredite
abbezahlen, die Zwillinge aufs College und auf die Universität schicken konnten, und immer noch genug für sich übrig behielten, um hoffentlich für den Rest ihres Lebens ohne Geldsorgen zu
sein.
»Und um das tun zu können, musst du es dir vorher selbst ansehen?«, fragte Kyle verwundert, was ich ebenfalls verstehen konnte, denn es wäre einfacher gewesen, alles über den Anwalt laufen zu
lassen, der mit Sicherheit ein oder zwei gute Makler kannte, die er mir für den Verkauf empfehlen konnte.
»Ich muss nicht, ich will«, korrigierte ich ihn, während ich einen Anrufer an einen Kollegen weiterleitete, denn ich hatte im Moment keinen Nerv, mich mit irgendeinem nervigen Kunden
herumzuärgern, der der Meinung war, seine Autoversicherung wäre für jeden Blödsinn zuständig, den er verzapfte.
»Aber wieso? Du kanntest den Kerl nicht mal.«
Allerdings war das nicht meine Entscheidung gewesen, und hätte ich ein Mitspracherecht gehabt, wäre mein Onkel definitiv ein Teil meines Lebens geworden.
Nicholas Warren, der in Ungnade gefallene Bruder meiner Mutter – wobei es nicht schwer war, bei dieser Frau in Ungnade zu fallen, ich hatte das schon vor vielen Jahren geschafft, indem ich ihr
erzählte, dass ich auf harte Schwänze stand –, war nach seinem heldenhaften Einsatz in Vietnam schnurstracks aus der Familie geworfen worden, weil er sich als schwul geoutet hatte.
Was die beste Entscheidung für sein übriges Leben gewesen sein dürfte, zumindest meiner Meinung nach.
Natürlich sah meine Mutter das anders und hatte sich mehr als lästerlich über ihn ausgelassen, nachdem ich sie ans Telefon bekommen hatte, um ihr von meinem überraschenden Erbe zu erzählen und
sie zu fragen, wer Onkel Nicholas überhaupt war. Ihre Auskunftsfreudigkeit hielt allerdings nur so lange, bis sie begriff, dass ich nicht mal im Traum daran dachte, ihr auch nur einen mickrigen
Dollar vom Verkauf von Nicholas' Eigentum in ihren knochigen, geldgierigen, drogen- und alkoholsüchtigen Arsch zu schieben. Stattdessen hatte sie mich beschimpft, wie sie es schon immer getan
hatte, und mir einen qualvollen Tod in Nicholas' verfluchter Gruft gewünscht.
Und es war dieser letzte Satz von ihr, der mich mittlerweile verdammt neugierig machte, da sie ja angeblich schon seit einer Ewigkeit keinen Kontakt zu ihrem älteren Bruder gehabt hatte. Falls
das stimmte, was ich bei meiner Mutter jedoch ernsthaft bezweifelte, woher wusste sie dann über »Nicholas' verfluchte Gruft« Bescheid? Und aus welchem Grund nannte sie das Haus ihres Bruders so?
Laut der ganzen Papiere, die mir der Anwalt geschickt hatte, war das Herrenhaus riesig, gut in Schuss, aber auf den ersten Blick ein wenig gruselig. Der Mann hatte dem Umschlag einige Fotos und
einen Schlüssel für das Tor und das Haus beigelegt – mit einer Gruft hatte das Herrenhaus für mich allerdings keinerlei Ähnlichkeit.
Es wirkte von außen etwas verwittert, aber das war fand ich bei einem so alten Haus normal. Außerdem stand es auf einem großen Stück Land, das dicht bewachsen war, und allein für das Holz der
großen Bäume in den umliegenden Wäldern und für das Grundstück selbst, gab es bereits jetzt zig Interessenten, die Kaufangebote weit über dem in den Papieren geschätzten Wert abgegeben hatten,
kaum dass Nicholas unter der Erde lag.
Auch diese Angebote lagen den Unterlagen bei, die ich nach meinem frustrierenden Anruf bei meiner leiblichen Mutter erst mal sehr gründlich durchgesehen hatte, und sie machten mich neugierig und
stutzig zugleich, denn mein Onkel hatte niemals vorgehabt, sein Hab und Gut zu verkaufen.
Wie sonst ließ sich erklären, dass er mir, dem unbekannten Neffen, den er nie kennengelernt hatte, alles vererbte?
Woher hatte er überhaupt von mir gewusst?
Doch nur von meiner Mutter, oder?
Fragen über Fragen, und meiner Mutter konnte ich sie nicht mehr stellen, denn sie würde meine Anrufe in der nächsten Zeit nicht freiwillig entgegennehmen.
Also würde ich in diese kleine Stadt auf dem Land fahren, die dem Haus am nächsten lag und wo Onkel Nicholas' Anwalt lebte, in der Hoffnung, dass der mir wenigstens einen gewissen Teil der
gefühlten Million von Fragen beantworten konnte, die ich mittlerweile hatte.
»Ich habe mit meiner Mutter telefoniert.«
»Ach du Scheiße.« Kyle sah mich entsetzt an. »Darum warst du letzte Woche so mies drauf, oder?« Er stöhnte. »Darauf hätte ich eigentlich auch von selbst kommen können. Es tut mir leid, Carter,
ganz ehrlich.«
Ich winkte ab, denn ich hätte ja etwas sagen können, statt zu grübeln und meine schlechte Laune zu pflegen, die ich immer bekam, sobald ich mit meiner Mutter Kontakt hatte. »Sie hatte kein gutes
Wort über meinen Onkel zu sagen, und als ihr dann klar wurde, dass ich nicht vorhabe, mein tolles Erbe mit ihrem gierigen Arsch zu teilen, hatte sie auch nichts Gutes mehr über mich zu
sagen.«
Kyle verdrehte resigniert die Augen. »Herrgott, diese Frau. Ich weiß wirklich nicht, warum du überhaupt noch Kontakt zu ihr hast.«
»Sie ist meine Mutter.«
»Sie ist ein räudiger Köter, der alles fickt, was nicht bei drei auf dem Baum ist, sofern sie nicht gerade high in der Ecke liegt. Dieses Weib hat sich niemals einen Dreck um dich
geschert.«
Dem konnte ich nicht widersprechen, denn schließlich war es Kyles Familie gewesen, die im Nachbarhaus gewohnt hatte und mir am Ende das Leben rettete, als wieder einer der Freier meiner Mutter
meinte, mit einem hübschen Jungen in meinem Alter – ich war damals gerade zwölf geworden – ließe sich sehr viel Geld machen.
Gott sei Dank war ich zu der Zeit schon clever genug, um zu wissen, was dieser schmierige Kerl von mir wollte. Darum war ich durch das Fenster meines Zimmers direkt in die Sicherheit von Kyles
Familie geflüchtet, und nachdem sein Vater Adrian und seine Mutter Rose aus mir rausbekommen hatten, woher das blaue Auge und die vielen Striemen und blauen Flecken auf meinem Körper stammten,
hatten sie die Polizei gerufen, sich einen guten Anwalt genommen und erbittert um das Sorgerecht für mich gekämpft.
Die Worthingtons waren meine Familie, und ich liebte Kyle, Adrian, Rose und die Nachzügler Emily und Megan über alles. Trotzdem war ich nicht fähig, den Kontakt zu meiner leiblichen Mutter
endgültig abzubrechen, warum auch immer.
»Was denkst du?«, fragte ich mit einem Lächeln, weil ich es erstens leid war, über meine Mutter nachzudenken, und weil es zweitens eine tolle Frau in meinem Leben gab, die mir weitaus mehr
bedeutete, als die, die mich mal zur Welt gebracht hatte. »Lässt Mom sich möglicherweise überreden, heute Abend für uns ihre grandiosen Spaghetti mit den dicken Fleischbällchen zu machen?«
Kyle lachte und zwinkerte mir zu. »Wenn du sie fragst, mit Sicherheit. Du kennst sie doch. Wann immer du vor unserer Tür stehst, gibt es dein Lieblingsessen.«
Und das klang auf einmal so falsch, dass ich unwillkürlich eine Grimasse zog. Kyle ...«
»Hey, fang ja nicht wieder so an. Du bist mein Bruder und ich liebe dich. Außerdem kriege ich durch dich regelmäßig ein tolles Abendessen«, unterbrach er mich amüsiert und rollte mit seinem
Bürostuhl neben mich, um mir gegen die linke Schulter zu boxen. »Du warst immer ein Wildfang, aber das ist bei dem Leben, das du geführt hast, bevor du zu uns kamst, doch auch kein Wunder. Dad
hat schon recht, wenn er sagt, dass du dich wahrscheinlich nie wirklich irgendwo einordnen wirst, und mal ehrlich, ich hatte erwartet, dass du zur Armee gehst, ein Bulle wirst oder sogar
Kopfgeldjäger. Stattdessen arbeitest du mit mir bei einer Versicherung und langweilst dich zu Tode.«
»Es ist ein sicherer Job«, warf ich pragmatisch ein, obwohl er natürlich recht hatte und das auch wusste.
»Ja, für Leute wie mich«, konterte Kyle daher amüsiert. »Ich liebe es, mit Kunden zu telefonieren, egal, wie dämlich sie sich manchmal aufführen. Ich liebe diesen Job, deshalb bin ich auch so gut
darin. Doch für dich war und ist er nur ein Mittel zum Zweck, um deine Rechnungen bezahlen zu können. Wie so eine Art Zwischenstation, bis du eines Tages die Aufgabe findest, die du mit dem
Herzen machst und die dich ausfüllt und vor allem deiner Seele guttut.«
»Oh Gott, Mom?«, fragte ich und Kyle nickte lachend.
»Ihre neueste Blüte der Weisheit, und du weißt, von denen hat sie unerschöpflich viele auf Lager.« Mein kleiner Bruder im Herzen wiegte nachdenklich den Kopf. »Mom wird es nicht gut aufnehmen,
wenn du da hinfährst, das weißt du.«
»Ich weiß«, murmelte ich und seufzte, denn alles, was mit meiner leiblichen Mutter und damit meiner leiblichen Familie zu tun hatte, war für Rose ein rotes Tuch. Eine Mutter, die dabei zusah, wie
der eigene Sohn geschlagen und beinahe an Perverse verkauft wurde, war für Rose keine Mutter, sondern Abschaum. »Darum habe ich ihr auch noch nichts erzählt.« Aber vielleicht hatte Kyle ja schon
etwas gesagt. »Hast du?«
Kyle schnaubte abfällig. »Sehe ich für dich aus, als hätte ich meinen Verstand verloren? Das kannst du Mom und Dad heute Abend schön selbst beichten.«
Ich grinste schief. »Was treibt Dad derzeit?«
»Schraubt weiter mit Begeisterung an der alten Kiste herum, die er sich im Sommer auf der Auktion gekauft hat. Was er von deinem Trip in die Wildnis halten wird«, Kyle wiegte bedächtig den Kopf,
»ist schwer zu sagen.« Er runzelte die Stirn. »Wo liegt dieses Herrenhaus noch mal?«
»Südlich von Winchester. Genau weiß ich es gar nicht. Aber es gibt eine kleine Stadt ganz in der Nähe, wo ich Lebensmittel und die Dinge des täglichen Bedarfs kaufen kann.« Ich musste kurz
nachdenken. »Front Royal, glaube ich. Das steht aber alles in dem Brief, den mir der Anwalt beigelegt hat, der das Erbe für mich verwaltet.«
»Eine kuschelige Kleinstadt mitten im Wald also. Pass bloß auf, dass du da draußen nicht von einem hungrigen Werwolf oder einem bösen Axtmörder überfallen wirst«, sagte Kyle mit einem lässigen
Grinsen und rollte zu seinem Platz zurück, als sein Telefonanschluss zu blinken begann. »Wir reden nachher beim Mittagessen weiter, okay? Und ruf Mom an, falls du heute ein leckeres Abendessen
haben willst. Du weißt, dass sie jeden Donnerstag einkaufen fährt.«
»Das macht sie immer noch?«, fragte ich belustigt, denn seit ich denken konnte, war der Donnerstag bei den Worthingtons der Tag des wöchentlichen Großeinkaufs.
Kyle gluckste heiter. »Pünktlich wie ein Uhrwerk, und wie ich Mom kenne, wird sich daran auch nie etwas ändern … IBCS Insurance, Kyle am Apparat. Wie kann ich Ihnen helfen?«
***
»Ich finde das nicht gut.«
»Mom«, murmelte Kyle und verdrehte die Augen, weil ich ihm unter den Tisch gegen das Schienbein trat.
»Was? Darf ich meine Meinung jetzt nicht mehr sagen? Mag ja sein, dass dein Bruder plötzlich so reich ist, wie dieser, dieser … Wie heißt dieser Kerl mit den Satelliten noch mal? Ihr wisst schon,
dieser rechtsradikale Homophob.«
»So reich bin ich noch lange nicht«, warf ich trocken ein und warf Dad einen auffordernden Blick zu, weil Mom sich gerade in Rage redete, aber Adrian grinste nur und zwinkerte mir zu, während er
sich ein Fleischbällchen auf seine Gabel pikte. Von der Seite war also keine Hilfe zu erwarten. Verräter. »Außerdem sind es doch nur ein paar Tage und meine Mutter hat nichts mit all dem zu tun.
Ich möchte einfach wissen, wer dieser Onkel ist, von dem mir nie jemand etwas erzählt hat.«
Mom seufzte, verpasste Kyle einen tadelnden Klaps auf den Hinterkopf, als er versuchte, sich ein Fleischbällchen von ihrem Teller zu klauen, und sah die Mädchen finster an, als die heiter
kicherten. »Wenn ihr satt seid, könnt ihn aufstehen und so nett sein und den Müll rausbringen. Und denkt an euren Vortrag für die Schule, morgen.«
»Ja, Mom«, erklärten die Zwillinge einstimmig, lachten und warfen mir freche Kusshände zu, bevor sie aufstanden und aus der Küche stürmten – samt Müllbeutel, ich war ja vor Staunen fast schon
wieder entsetzt.
Rose setzte sich wieder, goss sich Saft nach und deutete mit der Gabel auf mich, ehe sie weitersprach. »Und das verstehe ich und finde es zugleich unmöglich. Dieser Mann war dein Onkel. Es ist in
meinen Augen eine Schande und Frechheit, was diese Frau sich erlaubt hat. Andererseits war bei den Eltern, die sie großzogen, wohl nichts anderes zu erwarten. Und das wirst du gefälligst nicht
als Rechtfertigung verstehen, denn was sie dir antat, dafür gibt es keinerlei Rechtfertigung.« Sie aß etwas und warf mir im Anschluss daran einen nachdenklichen Blick zu. »Willst du allein
dorthin fahren? Wir könnten dich begleiten.«
»Nein. Danke, aber nein, Mom«, wehrte ich ab, weil ich das allein machen wollte. Warum konnte ich mir zwar selbst nicht erklären, aber es war mir wichtig. Nicholas war mein Onkel, er war meine
Familie. Okay, das war Rose auch, aber … »Ich muss das allein machen, kannst du verstehen?«
»Natürlich, mein Junge. Er gehörte zu deiner Familie und er war vielleicht ganz anders als sie.« Rose sah mich ernst an. »Es könnte aber auch sein, dass er genauso schlimm war. Denk bitte daran,
Carter. Ich kenne dich, du machst dir Hoffnungen, doch sei offen für alle Möglichkeiten.«
Da hatte sie nicht unrecht, denn die Vorstellung, dass dieser Nicholas vielleicht nicht so verkorkst gewesen war, wie meine übrige Familie – ja, ich hoffte tatsächlich auf ein Wunder, denn so
sehr ich meine neue Familie liebte, ich hatte meine leibliche nie hinter mir lassen können. Ich war einfach schon zu alt dafür gewesen und hatte zu viel gesehen und erlebt, um noch einmal völlig
von vorne anzufangen. Aber durch diesen Onkel bekam ich jetzt vielleicht die Chance, mit all dem, was ich erlebt hatte, doch noch abzuschließen. Falls Nicholas ein netter, anständiger Kerl
gewesen war, den ich vielleicht hätte mögen können, dann … Okay, ich hatte keine Ahnung, was dann sein würde, aber ich wollte und musste es einfach wissen.
»Ich will wissen, wer er war. Wie er gelebt hat. Ich muss das herausfinden, egal, was dabei am Ende rauskommt. Vielleicht war er ein Arschloch, das einfach nicht wollte, dass sein Geld in fremde
Hände gerät. Aber vielleicht ...« Ich dachte an das, was meine leibliche Mutter gesagt hatte. »Ich glaube, sie hatte noch Kontakt zu ihm.«
»Deine leibliche Mutter?«, fragte Adrian überrascht und als ich nickte, tauschte er mit Rose einen Blick, ehe er mich wieder ansah. »Wie kommst du darauf?«
Ich erzählte meinen Eltern und Kyle von dem Telefonat, das ich mit meiner Mutter geführt und was sie wegen Nicholas' Haus zu sagen gehabt hatte, und als Rose und Adrian am Ende verblüfft
dreinschauten, war ich mir auf einmal verflucht sicher, richtig gehört und mir nichts eingebildet zu haben.
»Das klingt wirklich danach, als hätte sie mit ihm in letzter Zeit gesprochen«, sagte Kyle nachdenklich und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Oder er hat den Kontakt zu ihr gesucht«,
überlegte er weiter und sah mich an. »Vielleicht war er krank und wollte ein letztes Mal versuchen, sich mit seiner Familie zu versöhnen.«
»Was ja gut ausging«, murmelte ich.
»Aber genau das ist doch passiert«, erklärte mein Vater und warf mir ein Grinsen zu, als ich ihn anschaute. »Sie hat ihm von dir erzählt. Wahrscheinlich rein zufällig, denn diese unmögliche
Person würde dir freiwillig nicht mal den Dreck unter deinen Fingernägeln gönnen, aber dein Onkel hat eindeutig zugehört und zum Schluss doch noch einen Weg zu dir gefunden.«
»Warum hat er sich nicht einfach bei mir gemeldet?«, fragte ich, weil das zwar zuerst ein gewaltiger Schock gewesen wäre, aber dann hätte ich ihn vor seinem Tod wenigstens noch kurz kennenlernen
können.
»Vielleicht konnte er das nicht mehr«, meinte Rose und griff über den Tisch nach meiner Hand, um sie liebevoll zu drücken. »Wenn dein Bruder recht hat und er krank war – vielleicht hatte er nicht
mehr genug Kraft oder Zeit dafür. Oder beides.«
Ihre Überlegung war nicht von der Hand zu weisen, denn der Anwalt hatte über die Todesumstände meines Onkels nichts gesagt. Wahrscheinlich durfte er das nicht oder wollte mir erst mehr erzählen,
wenn ich dort war. Ich würde ihn auf jeden Fall danach fragen, wenn ich nach Front Royal fuhr, denn ich wollte Antworten. Ich wollte sogar eine Menge Antworten.
»Ruf uns an, sobald du sicher angekommen bist, hörst du?«, bat Rose und drohte mir danach lächelnd mit dem Finger. »Wag es nicht, dich nicht zu melden, sodass ich mir Sorgen um dich machen muss.
Du weißt, was dann passiert.«
»Du klaust Dad einen seiner Streitwagen und kommst über mich wie Hurrikan Katrina damals über New Orleans?«
»Du hast es erfasst«, antwortete sie und lachte, als mein Dad leise seufzte und »Mein schönes Auto.« murmelte. »Diese Kiste ist nicht schön und ich erlaube dir nur, sie zu behalten, weil sie dich
glücklich macht. Nicht so glücklich wie ich, aber ich habe in einem Ratgeber über Männer gelesen, dass eine gute Ehefrau ihrem Mann wenigstens ein Hobby lassen sollte.«
»Du liest Ratgeber über Männer?«
Kyle und ich sahen uns an und begannen zu lachen, als Dad Rose fassungslos anstarrte, die uns daraufhin mit einem »Haut ab, ich will euren Vater küssen.« aus der Küche scheuchte, und weil das
bedeutete, wir würden uns vor dem Abwasch drücken können, fackelten Kyle und ich nicht lange und standen wenig später grinsend auf der überdachten Veranda, während wir im Haus das Gelächter der
beiden hören konnten.
»Sie sind unmöglich.«
»Oh ja, und ich liebe das«, murmelte ich belustigt, denn das tat ich, da es mir immer einen Hauch von Normalität bescherte. Etwas, das ich als kleiner Junge niemals gehabt hatte, bevor ich ein
Teil dieser Familie geworden war.
»Ich kann dich verstehen«, sagte Kyle auf einmal und warf mir ein trauriges Lächeln zu. »Es hat damals lange gedauert, bis du aufgehört hast, uns zu misstrauen. Besonders Mom und Dad zu
misstrauen. Ich war damals zu jung, um es zu begreifen, ich fand es einfach toll, einen älteren Bruder zu bekommen. Aber in den letzten Jahren habe ich nach und nach verstanden, wie irre dir das
alles vorgekommen sein muss. Dass es Menschen gibt, denen du wirklich wichtig bist. Die dich nicht an irgendwelche Perversen verkaufen, dich verprügeln oder dir sonst was antun wollen. Die
einfach wollen, dass du glücklich bist. Ein normales Kind, das ab und zu auch mal scheiße bauen darf.« Er trat zu mir und stieß mich sanft mit der Schulter an. »Du hast die erste Zeit immer
darauf gelauert, dass sie dich rauswerfen und dass du wieder zu ihr zurück musst, oder?«
Ich nickte unwillkürlich. »Ich kannte nichts anderes. Es gab keinen Erwachsenen, der mich nicht belogen hat, bis ich von ihr wegkam. Ich war mir lange nicht sicher, ob ich euch trauen soll. Ob
ihr nicht doch wie sie seid und nur so tut.«
Kyle nickte. »Und jetzt ist da dieser ominöse Onkel, der dir vielleicht ein guter Onkel gewesen wäre. Der dich vielleicht vor ihr beschützt hätte, hätte sie ihm früher von dir erzählt. Ein Teil
deiner Familie ist möglicherweise doch nicht total unfähig oder drogensüchtig oder Schlimmeres. Ich würde es an deiner Stelle auch genau wissen wollen.«
Ich legte einen Arm um seine Schultern. »Aber trotzdem bin ich ein toter Mann, wenn ich nicht anrufe, sobald ich beim Haus angekommen bin, richtig?«
Er lachte heiter. »Oh ja, sogar sehr richtig. Aber ich bin nicht ganz so schlimm wie Mom. Mir reicht eine WhatsApp. Obwohl ich gegen ein paar Bilder von der umwerfenden Hütte absolut nichts
einzuwenden hätte.« Kyle sah mich amüsiert an. »Und wer weiß, vielleicht gefällt dir das Haus und du behältst es am Ende doch.«
»Nie im Leben«, lachte ich, denn die Vorstellung, so weit ab vom Schuss zu leben, bescherte mir eine Gänsehaut. »Wetten, dass es da draußen nicht mal einen vernünftigen Lieferservice gibt? Von
einer guten Pizzeria ganz zu schweigen.«
»Du kannst dich bestimmt noch daran erinnern, dass Mom uns das Kochen beigebracht hat?«
Ich gab mich unschuldig. »Ja? Und?«
Kyle prustete los.
Kapitel 2
Sibiu, Rumänien
Anfang des 19. Jahrhunderts
»Ihr schafft mich.«
»Und das im wahrsten Sinne des Wortes.«
Seine ungestümen Worte brachten Etienne einen tadelnden Klaps auf seine nackte Kehrseite ein und ließen mich insgeheim schmunzeln, weil er daraufhin frech mit dem Hintern wackelte, statt sich zu
benehmen, wie wir es eigentlich tun müssten. Aber in diesem Zimmer, weitab von dem sonst üblichen und oft sehr steifem Protokoll, das uns als höhere Krieger von Guichon, dem Ältesten und
Herrscher über das Volk der Untoten, unterschied, konnten wir sein, wie wir waren – unverblümt, herausfordernd, gierig, nackt und voller Begierde nach jenem Mann, dem unser Herz seit so vielen
Jahren gehörte.
Dieser Begierde gaben wir nun bereit seit zwei Tagen nach, weil Guichon uns nach unserer Rückkehr aus Paris umgehend zu sich in seine weitläufigen Privatgemächer befohlen hatte, um ihm zu
berichten.
So hatte zumindest Guichons Befehl gelautet, denn berichtet hatten weder Etienne noch ich bislang ein Wort, weil wir damit beschäftigt gewesen waren, unseren wollüstigen Herrscher und einander
auf jede noch so ausgefallene Weise zu besteigen und zu befriedigen, die Guichon beliebte. Und als Ältester von uns kannte er unzählige Wege, wie man einander Lust bereitete. Da spielte es auch
keinerlei Rolle, ob man mit einer Frau oder mit einem Mann das Bett teilte.
Etiennes Hand glitt über das Seidenlaken hin zu Guichons in einem Nest heller Haare liegendem Geschlecht, und als seine Finger sich um die stattliche Männlichkeit legten, ging mir das
darauffolgende Stöhnen von Guichon durch Mark und Bein. Ich wollte mich an ihre Seite gesellen, doch ich blieb in dem mit weichen Polstern ausgelegten Stuhl ein paar Schritte von dem breiten Bett
sitzen und schaute schweigend zu, wie Etienne sich mit einem zufriedenen über Guichon beugte, mit seiner Zunge einmal genüsslich über die gesamte Länge leckte und ihn dann in seinen Mund
nahm.
Volle Lippen glitten sanft auf und ab, bis Guichon mit einem lustvollen Keuchen fest das krause Haar ergriff und Etienne zu führen begann. Ihre Geräusche, der Geruch nach Erregung, die Bewegungen
der zwei wunderschönen Männer vor mir – mein Körper reagierte auf ihren Anblick, weil er das immer tat, und ich begann, mich zu berühren, den Blick dabei wie gefesselt auf dem Mund, den Guichon
jetzt nach seinem Willen benutzte, bis er irgendwann laut aufstöhnte und sich mit einem letzten Stoß in Etiennes willigen Rachen ergoss.
Weiße Fäden liefen an Etiennes Mundwinkeln hinunter und Guichon zerrte ihn zu sich hoch, um die Spuren seiner Lust zu schmecken und Etiennes Gesicht danach ausführlich mit seiner Zunge zu
reinigen, während er die eigene Hand um Etiennes Männlichkeit schlang und ihm dieselbe Höflichkeit erwies, bis Etienne sich stöhnend über Guichons Körper ergoss.
Ich folgte ihnen wenig später, verteilte meinen Samen über meine Bauch und meine Brust und verschmierte ihn danach mit einer Hand auf meiner Haut, weil ich wusste, wie sehr Guichon es liebte,
wenn ich das tat.
»So schwere Gedanken, Alexandre?«, flüsterte Guichon, als er und Etienne es sich wieder im Bett bequem gemacht hatten, und streckte eine Hand nach mir aus.
Er runzelte die Stirn, weil ich sein wortloses Angebot, mich zu ihnen zu gesellen, mit einem Kopfschütteln ablehnte, und tauschte einen Blick mit Etienne, der ihm daraufhin etwas ins Ohr
flüsterte, was Guichon mit einem gequälten Ausdruck im Gesicht die Augen schließen ließ. Zumindest für einen Moment. Doch dieser Moment verging und dann traf mich der Blick aus seinen grünen
Augen mitten ins Herz.
»Ist es wahr? Werden wir dich an die Zukunft verlieren?«
Ich hätte lügen können, doch das hatte ich schon gegenüber Etienne nicht getan und ich würde es auch gegenüber Guichon nicht tun. »Wenn du gegen die Menschheit in den Krieg ziehst, werde ich auf
der Seite der Sterblichen stehen.«
Guichon atmete sichtlich erschüttert durch, setzte sich auf und verließ das Bett, um zu mir zu kommen und sich ungeniert auf meinem Schoß niederzulassen. »Warum? Warum siehst du nicht, dass wir
die wahren Herrscher sind?«
Ich sah meinen Geliebten und Anführer ernst an. »Sie sind, was ein jeder von uns einst war – menschlich. Ich kann und will nicht über sie urteilen. Das steht uns nicht zu. Wir sollten mit ihnen
koexistieren, Guichon, denn wir sind sie.«
»Nicht mehr«, warf er ein und ich wagte es, einen Finger auf seine vor Unwillen bebenden Lippen zu legen.
»Doch. Wir mögen uns anders ernähren, wir mögen uns auf die Nacht beschränken, wir mögen keine Kinder zeugen, nicht alt oder krank werden – dennoch werden wir immer Menschen sein. Wir werden
immer ein Teil dieser Welt voller Wunder sein, die dir einst so sehr am Herzen lag.«
Guichon küsste meinen Finger, verschränkte danach unsere Hände miteinander und lehnte mit einem tiefen Seufzen seine Stirn gegen meine. »Du sprichst dieselben Worte, wie es einige meiner ältesten
Ratgeber tun. Sie sehen das wie du, mein junger Krieger, und ich wünschte, du würdest mir erlauben, dich von der Weisheit meines Planes zu überzeugen, aber ich fürchte mit meinem Herzen, dass es
kein Argument geben wird, das dich zu erreichen vermag. Sag mir, ist es so?«
Nun war sie also gekommen, die endgültige Entscheidung, und so sehr es mir wehtat, da ich wusste, welchen Preis ich bald zahlen würde, konnte ich mich nicht dazu durchringen, gegen mein Gewissen
handeln, denn die Männer, die ich liebte, lagen falsch und ich betete und hoffte, dass die Menschheit für diesen Kampf, der ihr bevorstand, stark genug war.
»Ja.«
Etienne fluchte lästerlich, doch Guichon bedeutete ihm mit einem Wink seiner Hand zu schweigen, ehe er sich weit genug von mir zurückzog, um mich wieder anzusehen. Ich entdeckte die Trauer in
seinen grünen Augen, aber auch die wilde, eiserne Entschlossenheit, an seinen wahnwitzigen Plänen festzuhalten, und wieder einmal fragte ich mich, was ihn in den vergangenen Jahrhunderten so
verändert hatte? Wohin war der neugierige, wissensdurstige Vampir verschwunden, den ich in den Nächten so oft mit einem Buch in der Hand durch die Gänge wandern gesehen hatte, während er die
Abende, sobald die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war, in der ungezähmten Natur außerhalb der sicheren Mauern des Schlosses verbrachte. Doch diese glücklichen Zeiten waren schon so lange
vergangen, dass ich mich kaum noch an sie erinnerte.
»Dann werden wir uns eines Tages auf dem Schlachtfeld der Ehre gegenüberstehen und einander bekämpfen, bis nur noch einer von uns übrig ist.«
Was Guichon nicht aussprach, war, dass es Etienne und ich sein würden, die das Schicksal des jeweils anderen entschieden, denn so wie er unseren Herrscher beschützen würde, würde ich die
Menschheit beschützen, und als Mitglied der Krieger waren wir uns kräftemäßig ebenbürtig. Und sollte ich als Sieger dieses Kampfes hervorgehen, würde es Guichon obliegen, über mein Schicksal zu
entscheiden, das da lautete – Tod.
Es konnte keine andere Antwort geben, wenn ich mich offen gegen unseren Herrscher stellte. Selbst wenn der mich liebende Mann Nachsicht walten lassen würde, als unser Herrscher hatte er diese
Freiheit nicht.
»Noch nicht«, knurrte Guichon auf einmal und ergriff mein Gesicht mit beiden Händen, um mich verärgert anzusehen. »Du bist ein Teil von mir, von uns, und noch ist der Tag fern, an dem sich ein
jeder von uns für eine Seite entscheiden muss … Nimm mich, Alexandre. Küss mich und dann nimm mich, wie du mich noch niemals zuvor genommen hast. Du gehörst mir, so wie ich dir gehöre. Küss mich.
Jetzt!«
Kapitel 3
Front Royal, Virginia
Oktober 2024
»Das ist nicht richtig.«
»Hudson ...«
»Nein«, unterbrach ich den sturköpfigsten aller Vampire vor mir, der mir daraufhin einen amüsierten Blick schenkte. »Und hör auf, so selbstgefällig zu grinsen. Dieser Mann ist dein Neffe
ehrenhalber und du solltest mich lieber darin unterstützen, ihm die ganze Wahrheit zu sagen, statt auf seiner Seite zu sein.«
Damit war Nicholas gemeint, der neben Alexandre am Tisch saß und mich genauso belustigt anschaute, wie sein Gefährte es tat, und als ich das Hin und Herlaufen vor dem Tisch einstellte und
stattdessen mit einem resignierten Seufzen beide Arme in die Luft hob, lachten sie.
»Ich weiß wirklich nicht, warum ich euch überhaupt so gern hab«, grollte ich, musste mir dabei aber ein Grinsen verkneifen, weil sie sich an den Händen hielten, wie sie das dauernd taten, und ich
liebte den Anblick einfach jedes Mal, denn er hielt in mir die Hoffnung am Leben, dass es so etwas wie wahre Liebe auf der Welt wirklich gab. Auch wenn ich in der Hinsicht bisher leider kein
Glück gehabt hatte.
Egal. Mitzuerleben, wie unverfälscht und offen sie mit ihrer Liebe zueinander umgingen, ließ einfach jedes Mal mein Herz ein wenig schneller schlagen. Sie hatte damals ewig gebraucht, einander zu
finden, erst als Vampir und Mensch und später als Vampir und Vampir, und nachdem May und Charles vor zehn Jahren nur kurz hintereinander für immer eingeschlafen waren, waren sie noch fester
zusammengewachsen.
Jedenfalls für mich, denn ich liebte die beiden genauso sehr, wie meinen Vater, und genau das waren auch Alexandre und Nicholas für mich immer gewesen. Zwei weitere Väter. Gerade in meiner
Kindheit, als meine Mutter so überraschend an Krebs starb und Dad sich anfangs so unglaublich schwer damit getan hatte, plötzlich ein alleinerziehender Dad mit einem Vollzeitjob als Anwalt zu
sein.
»Weil wir immer die besten Süßigkeiten für dich hatten, als du noch ein süßer, kleiner Fratz warst und kaum alleine laufen konntest?«, schlug Nicholas trocken vor und ich stöhnte betont
übertrieben, was mir ein wissendes Zwinkern einbrachte. »Wie geht’s deinem Dad?«
»Freut sich wie ein Schneekönig darauf, deinem Neffen die Hand zu schütteln, sobald er hier ankommt und wahrscheinlich eintausend und noch mehr Fragen über seinen angeblich toten Onkel stellen
wird.«
Ich ging ungeniert an den Kühlschrank, in dem immer Eier, Milch und frisches Gemüse und Obst für mich lagerte, weil ich mich hier fast täglich ungeniert durchfutterte, dabei hatte ich in der
Stadt ein eigenes Apartment. Doch irgendwie landete ich nach Feierabend oft hier draußen, weil ich wusste, dass sie auf mich warteten, für mich kochten und den neuesten Klatsch und Tratsch mit
mir austauschen wollten. Ich hatte drei Väter und ich liebte jeden einzelnen von ihnen, obwohl zwei in gewisser Weise tot waren.
Mein Blick fiel auf einen Teller mit einem frischen Steak und ich stöhnte hingerissen. »Hirsch?«
»Elch. Willst du es heute essen?«
Ich sah über die Schulter zu Alexandre, der von den beiden der bessere Koch war. »Ist das eine Fangfrage?«
Er grinste. »Wir haben den Grillen schon angeheizt.«
»Gott sei Dank.«
Sie lachten wieder, tauschten einen Kuss uns dann verzogen wir uns auf die überdachte Terrasse mit der großen und äußerst gemütlichen Sitzecke rechts und dem Monstrum von Grill links von der Tür.
Angeschafft vor allem für Charles und May, die so gerne draußen gesessen hatten, und später dann für mich noch ausgebaut, weil ich grillen liebte und als Teenager mit der Zeit einen Magen wie ein
Fass ohne Boden gehabt hatte und May der Meinung gewesen war, es wäre leichter, draußen rasch ein Pfund Burger zu braten, als drinnen ein ganzes Menü, von dem ich das Grünzeug eh verschmähen
würde.
Ich vermisste May immer noch sehr. Sie war mir die Mutter gewesen, die ich nie gehabt hatte, und Charles der tolle Onkel, der mit mir im Wald Unsinn anstellte, als ich ein kleiner Junge war. Und
der mir später im heimischen Garten beibrachte, ein Zelt zum Übernachten unter freiem Himmel, vor allem in den Sommermonaten, aufzubauen, während Nicholas sich darum kümmerte, dass ich wusste,
wie ich ein sicheres Feuer in Gang halten und einen Hasen ausnehmen konnte.
Alles Dinge, die Dad mir nie hätte beibringen können, und durch die ich später die Liebe zur Natur und zu Holz für mich entdeckt hatte – darum war ich heute selbstständiger Tischler, der sich in
der ganzen Gegend einen Namen gemacht und sich seine Kunden seit Jahren aussuchen konnte.
»Wisst ihr noch? Den einen Abend, als ich herkam und May so lange wegen Burger genervt habe, bis sie mir androhte, mich auf den Grill zu werfen?«
»Ich erinnere mich, dass du das einen ganzen Sommer lang fast wöchentlich getan hast. War das nicht deine Burger-Phase, weil Burger ein tolles Lebensmittel sind, das man natürlich pur und ohne
das nervige Grünzeug zwischen den Brötchenhälften genießen muss?«
»Musst du dich eigentlich an alles erinnern?«, fragte ich und lachte, als Nicholas mich kurz in den Schwitzkasten nahm, ehe er mich liebevoll umarmte. »Hey, ich bin doch hier«, murmelte ich und
erwiderte seine Umarmung, die er immer mal wieder brauchte, um sich mit ihr zu vergewissern, dass es mir gutging. Mein fragender Blick zu Alexandre ließ ihn wortlos abwinken, während er sich dem
Grill zuwandte, darum löste ich mich von Nicholas, packte seine Hand und zog ihn hinter mir her von der Terrasse runter in den Garten. Ich wartete, bis wir allein waren, dann drehte ich mich zu
ihm um. »Rede.«
Er stöhnte resigniert auf. »Hudson ...«
»Vergiss es. Raus damit.«
»Was, wenn er es nicht versteht? Wenn er in Panik gerät und Alexandre und mich verrät?«
Es ging also wieder mal um Carter. Na ja, um der Wahrheit die Ehre zu geben, es ging in diesem Haus schon seit Monaten nur noch um Carter hier, Carter da, und so sehr ich es verstand, denn der
Mann war Nicholas' leiblicher Neffe, so sehr hatte ich anfangs damit zu tun gehabt, meine aufbrandende Eifersucht im Zaum zu halten. Jahrelang hatte sich immer alles um mich gedreht, ihren Sohn
im Herzen, und plötzlich tauchte ein Neffe auf der Bildfläche auf – ich schämte mich heute noch dafür.
Carter Warren konnte am allerwenigsten dafür, denn er war mit einer drogensüchtigen Mutter geschlagen, die ihn als Kind offenbar fast an einen ihrer Freier verkauft hätte. Ich hatte heute noch
das wütende Geschrei von Nicholas im Ohr, nachdem er seine Schwester in Charlottesville ausfindig gemacht und den Mut gefunden hatte, sie anzurufen.
Herauszufinden, was aus dem kleinen Mädchen geworden war, an das er sich erinnerte, hatte ihn schockiert, und am Ende zu erfahren, dass er einen Neffen hatte – ich konnte mir kaum vorstellen, die
schlimm das alles für ihn gewesen sein musste. Und dann hatten Alexandre und er diesen Plan mit seinem Tod ersonnen, um Carter als Erben einzusetzen, damit das Haus im besten Falle in der Familie
blieb und sie selbst für eine Weile auf Reisen gehen konnten, denn so langsam war den Bewohnern in den umliegenden Städten doch aufgefallen, dass Nicholas, der das Haus vor Jahren offiziell von
Alexandre übernommen hatte, niemals älter zu werden schien. Da half auch nicht, dass er seit May und Charles' Tod komplett zurückgezogen lebte und alles online bestellte, was er brauchte, während
die Lebensmittel für mich entweder der Lieferservice vor die Tür stellte oder mein Dad sie selbst vorbeibrachte, der offiziell als Hausverwalter und Anwalt von Nicholas Warren fungierte.
Nicholas wäre als Mensch zweiundsiebzig Jahre alt und sah immer noch aus wie Mitte Vierzig, das Alter, in dem Alexandre ihn verwandelt hatte.
Gute Gene erklärten einiges, aber eben nicht auf Dauer.
Alexandre und Nicholas war die Zeit davongelaufen, die sie hier draußen noch sicher hätten leben können, also hatten sie sich entschieden, dass nach Alexandre nun auch Nicholas eines natürlichen
Todes sterben sollte, womit wir wieder bei Carter Warren landeten, denn bei der Frage, was aus dem Haus samt Grundstück werden sollte, war es Alexandre gewesen, der am Ende Nicholas' kleine
Schwester ins Spiel gebracht hatte.
Mich wunderte allerdings kein bisschen, dass Nicholas seit seinem Telefonat mit dieser Frau zweifelte, was Carter anging, dabei hatte Dad ihn überprüft und nichts gefunden, dass auch nur
andeutete, dass er mit seiner leiblichen Mutter mehr teilte, als die Gene. Im Gegenteil, er hatte ein neue Familie gefunden. Einen Bruder, zwei Schwestern und zwei großartige Menschen, die einen
Kredit aufgenommen und in einen Anwalt investiert hatten, um Carter von seiner leiblichen Mutter zu sich holen zu können.
So sehr ich anfangs eifersüchtig auf Carter Warren gewesen war, so sehr war ich mittlerweile neugierig. Neugierig, weil ich mich fragte, ob und wenn ja, wie viel ich vielleicht von Nicholas in
ihm entdecken würde. Und den würde ich jetzt erst mal von seinem ständigen Gedankenkarussell ablenken, denn es brachte nichts, wenn er sich weiterhin verrückt machte.
Damit konnte er wieder anfangen, wenn Carter sich endlich bei Dad meldete, ob er herkam oder auch nicht.
»Selbst wenn … Wer würde ihm glauben?«, fragte ich, auch wenn ich seine Überlegung grundsätzlich verstand. »Nick, jetzt mal ernsthaft, er ist dein Neffe und Dad hat ihn überprüft und gesagt, dass
er so sehr nach dir kommt und nicht nach ihr, dass er sein ganzes Geld darauf setzen würde, dass Carter keinerlei Problem damit hat, dass du und Alexandre Vampire seid.« Ich zuckte die Schultern,
als er die Lippen schürzte. »Hey, Dad und ich hatten schließlich auch keins.«
»Das ist nicht dasselbe und das weißt du.«
Sicher wusste ich das. Bei uns war es damals ein zufälliges Ereignis gewesen, entstanden aus einer Notsituation heraus, als ich als dreijähriges, trauerndes Kleinkind nachts von zu Hause weglief
und im Wald landete, wo ich über Alexandre stolperte, der sich gerade an einem Touristen satt trank, die Jahr für Jahr in ihren Wäldern campten. Doch statt mich ebenfalls zu beißen und
anschließend dafür zu sorgen, dass ich alles wieder vergaß, hatte er mich auf die Arme genommen, mich weinen lassen und dann in ein so ungewöhnliches Haus mit ebenso merkwürdigen und zugleich
großartigen Leuten gebracht, dass ich es einfach akzeptierte, dass Alexandre ein Vampir war.
»Er wird dich lieben, Nick«, flüsterte ich und sah zurück zur Terrasse, wo Alexandre in Jeans und Pullover am Grill stand. »Genauso wie der heiße Kerl da drüben, dem diese Klamotten wirklich sehr
gut stehen. Gott sei Dank hast du ihn damals mit viel Geduld überredet, dich zum Nackenbeißer zu machen und ab und zu seine Anzüge im Schrank zu lassen.«
»Von wegen Nackenbeißer. Sei froh, dass er dich liebt, sonst könntest du dir jetzt was dazu anhören.« Nicholas lachte, weil ich mich betont unschuldig gab, danach folgte er meinen Blick. »Er
sieht in dieser Kleidung wirklich heiß aus, obwohl ich nicht finde, dass der Sohn meines Herzens solche Dinge bei meinem umwerfenden Gefährten überhaupt bemerken sollte.«
»Zu spät«, stichelte ich und löste mich lachend von ihm, um zur Seite zu springen, als er mir spaßeshalber einen Tritt in den Hintern verpassen wollte. »Tze, du wirst wohl langsam alt.«
»Diese Jugend«, meinte er mit einem übertriebenen Seufzen und streckte seine Hand nach mir aus. Ich ergriff seine Finger sofort und ließ mich von ihm mitziehen – gemütlich quer durch den Garten.
Und weil ich spürte, dass Nicholas noch etwas auf dem Herzen lag, wartete ich geduldig ab, bis er sich räusperte und meinen Blick suchte. »David war heute früh bei uns.« Ich knurrte vor Ärger,
doch Nicholas schüttelte den Kopf. »Ich kam aus dem Badezimmer und habe sein Klopfen gehört. Alexandre nicht, er lag schon unten im Bett.«
»Was wollte er?«
»Sich entschuldigen.«
Ich schnaubte abfällig. »Darauf scheiße ich. Er betrügt mich monatelang und besitzt danach noch die Frechheit sich darüber aufzuregen, dass ich ihn rauswerfe? Was hat er erwartet? Dass ich ihn
weiter bei mir wohnen lasse?«
»Hudson«, murmelte Nicholas und sah mich so liebevoll an, dass ich die Augen verdrehte und mich danach in seine Arme warf. »Ich weiß, mein Junge, ich weiß«, flüsterte er und drückte mich fest an
sich. »Ich glaube, er liebt dich wirklich und hat nie in Betracht gezogen, dass dir Treue wichtig ist. Was eine Menge über ihn aussagt, andererseits – denk an seiner Eltern. Er hat es nie anders
gelernt.«
Das wusste ich nur zu gut, denn Davids Eltern liebten sich, stritten sich und betrogen sich, seit sie geheiratet hatten. David hatte nie gelernt, was Treue bedeutete, weshalb mir jeder hier im
Haus von einer Beziehung zu ihm abgeraten hatte, denn ich war nicht der erste Mann, den er betrog, und ich würde auch nicht der letzte sein. Nur hatte das mein verliebtes Herz leider nicht
interessiert, bis ich ihn auf frischer Tat ertappt und noch in derselben Nacht vor die Tür gesetzt hatte. Seither tauchte er alle paar Tage vor meinem Apartment, bei Dad oder eben hier auf, auf
der Suche nach mir, denn ich ging jedem Gespräch rigoros aus dem Weg.
Für mich gab es nichts mehr zu reden.
Für mich war Treue mit das Wichtigste in einer Beziehung.
Ich war nicht wie Davids Eltern, die von den Fehltritten des jeweils anderen wussten, und trotzdem verheiratet blieben, weil man das »eben so machte«, denn Scheidung kam offensichtlich im
Wortschatz der beiden nicht vor.
»Wirst du ihm verzeihen?«, fragte Nicholas und schob mich weit genug zurück, um mich ansehen zu können. »Ich frage das nicht um Davids willen, sondern um deinen. Damit du mit ihm abschließen und
dich wieder neu verlieben kannst, Hudson. Du weißt, dass wir nie einen Hehl daraus gemacht haben, dass wir von David als Partner für dich nicht viel hielten. Er hatte es nie verdient, dein
Lebensgefährte zu sein, und wehe, wenn du mir jetzt erklärst, dass ich als dein Vater das nicht sagen darf, weil ich angeblich voreingenommen bin.«
Über seine Empörung musste ich grinsen. »Das bist du aber, was dich übrigens zu einem tollen Vater macht.«
»Komplimente höre ich immer gern. Sprich nur weiter.«
Ich lachte und sah zu Alexandre. »Dein hinreißender Mann will Komplimente hören. Darf ich ihm welche machen?«
»Du bist unser Junge, nicht unser Partner, also darfst du nur reingehen und dir Besteck, einen Teller und ausnahmsweise ein Bier holen, damit du gleich dein Steak essen kannst.«
Grinsend schaute ich zurück zu Nicholas. »Da hast du es … Keine weiteren Komplimente.«
***
Als ich kurz darauf wieder nach draußen trat, hatten sie die Außenbeleuchtung eingeschaltet, was die Terrasse in ein diffus-gemütliches Licht tauchte, das der Außenkamin noch zusätzlich
unterstützte, denn wir hatten Oktober und die Abende kamen früh und sie waren kühl.
»Es wird bald schneien«, sagte Nicholas und nahm mir den Teller samt Besteck ab. »Hast du schon die Schneeketten für den Pick-up rausgesucht?«, fragte er und seufzte erleichtert, als ich nickte,
denn den Fehler würde ich garantiert nicht noch einmal machen. »Gut. Mir wird heute noch übel, wenn ich mich daran erinnere, wie knapp es damals war.«
»Nicholas«, mahnte Alexandre mit einem Schmunzeln, weil ich eine ertappte Grimasse zog. »Guck ihn dir an. Glaubst du wirklich, dass er sich nach deiner damaligen Standpauke jemals wieder wagen
wird, das Wetter zu unterschätzen?«
Nicholas schnaubte. »Ich werde ihm beweisen, dass ich ein richtig böser Nackenbeißer sein kann, wenn er sich noch einmal traut, im November, in einem drei Tage vorher angekündigten Schneesturm,
ohne Schneeketten zu einem Kunden zu fahren.« Er zwinkerte Alexandre zu. »Habe ich bei dir ja schließlich auch gemacht, weißt du noch?«
»Oh mein Gott«, stöhnte ich und hielt mir übertrieben beide Ohren zu, denn so, wie sie jetzt grinsten, dachten sie gerade an ihr Sexleben und darüber wollte ich absolut nichts wissen.
Lachend legte Alexandre das dicke Steak auf den Teller, der ihm von Nicholas hingehalten wurde, gab noch etwas gegrilltes Gemüse dazu, das ich vorhin gar nicht gesehen hatte, und als Nicholas mir
andeutete, mich zu setzen, tat ich es und wartete geduldig, bis er den Teller vor mir abstellte.
»Du weißt schon, dass ich erwachsen bin und mir den Teller selbst holen kann?«
Er lächelte sanft. »Du weißt, dass ich dein Vater im Herzen bin und dich aus diesem Grund natürlich für den Rest deines Lebens verwöhnen werde?«
»Mach es nicht«, warf Alexandre ein, als ich argumentieren wollte, dass nichts gegen ein bisschen verwöhnen sprach, mich aber deshalb niemand bedienen musste. »Er ist heute Abend in einer
anhänglichen Stimmung und das heißt für dich, je mehr du aufbegehrst, desto schlimmer wird es. Ach übrigens, falls du dieses Bier trinkst, wirst du heute Nacht in deinem ehemaligen Zimmer
übernachten, verstanden?«
Sein strenger Blick sprach Bände, dabei würde ein Bier wohl kaum dafür sorgen, dass ich auf der Heimfahrt an einem Baum oder im Graben landete. Aber Alexandre verstand bei solchen Dingen keinen
Spaß und ich hatte genug Diskussionen mit ihm geführt und verloren, um zu wissen, dass es einfacher war, ihm nachzugeben. Darum hatte ich als Teenager am Ende auch nach dem Gleitgel und der
Packung Kondome gegriffen, die sie für mich gekauft hatten, um zu verhindern, dass ich ungeschützten Sex hatte, weil es mir einfach zu peinlich gewesen war, darüber mit Dad zu reden oder mir das
Zeug selbst zu kaufen.
»Wollt ihr es eigentlich ausräumen?«, fragte ich und stöhnte nach dem ersten Bissen genüsslich, denn das Steak war perfekt – wie immer, wenn Alexandre den Kochlöffel schwang.
»Iss auch das Gemüse«, mahnte Nicholas und nahm einen der übrigen Stühle in Beschlag. »Und was sollen wir ausräumen wollen?«
»Mein altes Zimmer. Ich meine, es dürfte Carter vermutlich merkwürdig vorkommen, im Haus ein komplett eingerichtetes Kinderzimmer vorzufinden, ohne dass es dazu ein Kind gibt.«
»Nein«, sagte Alexandre und schaltete den Grill aus, bevor er sich zu uns gesellte. »Wir haben darüber nachgedacht, doch wir sind uns einig, dich nicht zu verleugnen. Dein Dad hat die Erlaubnis,
Carter von dir zu erzählen, schließlich hast du früher zeitweise bei uns gelebt und in den letzten Jahren auch immer wieder für uns gearbeitet, wenn wir neue Möbel brauchten oder etwas zu
reparieren war. Du bist für uns wie ein Sohn und wir haben dich mit großgezogen, bis zuerst leider ich dahinschied und jetzt Nicholas. Gregory kann dahingehend so ehrlich sein, wie er es für
richtig hält. Das einzige, was er Carter vorläufig nicht erzählen darf, ist, dass wir erstens nicht verstorben sind und zweitens, nun ja ...«
Ich grinste. »Dass ihr heiße Nackenbeißer seid?«
Alexandre sah feixend zu Nicholas. »Diese frechen Sprüche hat er eindeutig von dir.«
»Natürlich«, stimmte Nicholas belustigt zu und rückte einen Stuhl näher, um den Geruch des Steaks einzuatmen, wenn nur, weil er nicht mehr essen konnte, bedeutete das nicht, dass er es nicht
vermisste. Er erinnerte sich noch sehr gut an Geschmäcker und besonders an die dazugehörigen Gerüche, und als ich ihm neckend die Zunge rausstreckte, um den nächsten Bissen samt ausgiebiger
Geräuschkulisse zu genießen, lachte er schließlich und strich mir durchs Haar. »Frecher Bengel. Du solltest dir die Haare schneiden lassen, sie fallen dir bald in die Augen und das kann bei
deiner Arbeit gefährlich werden.«
»Ja, Mama«, murmelte ich und fand mich gleich darauf ein weiteres Mal in einer Umarmung wieder. Er war heute Abend wirklich auffallend anhänglich. »Papa, ich bin schon lange groß, ich bin gesund,
ich bin ein toller, äußerst gut aussehender Kerl und ich werde David bei der nächst bietenden Gelegenheit mit meinem Pick-up überfahren und seine Leiche hinterher einfach in eurem Wald
verscharren.«
»Das ist mein Junge«, erklärte er trocken und erhob sich, um ins Haus zu gehen.
»Was ist los?«, fragte ich, nachdem er außer Sichtweite war, und Alexandre, der Nicholas immer noch nachsah, seufzte leise. »Ist es wirklich nur wegen Carter?«
»Ja und Nein«, antwortete Alexandre und schaute mich an. »Wenn hier alles geklärt ist, werden wir gehen, um für ein paar Jahre woanders zu leben.« Ich nickte, denn das war wichtig, um nach einer
gewissen Zeit mit neuer Identität zurückkehren zu können. Sie planten das schon länger. »Er möchte nicht gehen. Er weiß, dass es richtig und für unsere Sicherheit auch wichtig ist, aber er will
weder dich verlassen, noch will er Carter erst kennenlernen und ihn dann gleich wieder verlassen. Nicholas hat Angst, zu viel von eurer beider Leben zu verpassen, weil er weiß, dass ihr
vermutlich schon alte Männer sein werdet, wenn wir zurückkommen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das ist doch Unsinn. Dafür gibt es Telefon, E-Mail, Videoanrufe, WhatsApp und und und … Wir leben doch nicht mehr in den Achtzigern.«
»Sag das nicht mir, sag es ihm.«
»Ich werde ihm in den Hintern treten, wenn er nicht geht«, grollte ich und trank einen Schluck Bier. »Ihr seid tot und müsst es jetzt offiziell auch für eine ganze Weile bleiben. Alles andere
wäre zu gefährlich.«
Alexandre nickte. »Stimmt. Aber du kannst deinem zweiten Vater ja kaum vorwerfen, dass er dich über alles liebt und jetzt schon wie verrückt vermisst.«
»Papa«, stöhnte ich und lächelte, als Alexandre sich zu mir beugte und mich auf den Scheitel küsste. »Ich liebe euch auch, und ich werde euch fürchterlich vermissen, aber erzähl ihm das ja nicht,
sonst musst du ihn am Ende fesseln und knebeln, um ihn aus dem Haus zu kriegen.«
»Ich behalte dein Geheimnis für mich, wenn du gleich brav noch das Gemüse isst und hinterher ohne murren das dreckige Geschirr abwäscht. Ich beziehe derweil dein Bett frisch.«
»Das kann ...«
»Ja, das kannst du selbst. Aber ich mache es trotzdem.«
Weg war er und ich verdrehte die Augen, ehe ich ein Stück Paprika auf meine Gabel spießte und es mit Todesverachtung in den Mund schob. Was alles nur Show war, weil ich im Grunde nichts gegen
Gemüse hatte, aber ich musste so tun als ob, denn sie erwarteten das so von mir. Außerdem würden sie nie damit aufhören, mich zu erziehen und insgeheim mochte ich das auch sehr, weil Dad mehr der
pragmatische Typ war, während meine beiden anderen Väter für alle Gefühlsdinge zuständig waren.
Dabei war nicht so, dass mein Dad mich nicht lieben würde, ganz im Gegenteil. Er konnte es nur nicht gut ausdrücken oder zeigen. Und nach Moms Tod hatte er sich noch mehr und tiefer in sich
zurückgezogen, was mich in meiner kindlichen, naiven Verzweiflung schließlich aus dem Haus in den Wald und dann in Alexandres Arme getrieben hatte.
»Du siehst aus, als würdest du gerade ziemlich angestrengt nachdenken«, sagte Nicholas plötzlich hinter mir und ich nahm einen Pilz auf meine Gabel, um selbigen zu betrachten. »Das ist ein Pilz,
genauer gesagt, ein weißer Champignon. Sehr nahrhaft und vor allem gesund.«
Grinsend aß ich den Pilz und sah danach über die Schulter. »Ja, Herr Professor. Und ich habe über Dad nachgedacht. Über die Zeit nach Moms Tod. Weißt du noch, wie er damals war?«
Nicholas nickte und setzte sich zu mir. »Er hat so sehr um sie getrauert und sich zugleich so unglaublich schwer getan, es zu zeigen. Dein Dad hat euch beide wie verrückt geliebt, genau wie er
dich heute noch liebt, aber er ist nicht wie ich oder auch wie Alexandre. Wir zeigen es dir, mit Worten und Gesten, dabei bin ich oftmals wohl auch übertrieben kitschig, wurde mir eben in deinem
Zimmer erklärt, bevor er mich rauswarf, um für dich das Bett frisch zu beziehen.« Ich lachte heiter, denn das war so typisch Alexandre. »Dein Dad drückt sich in Taten aus, weil er das bedeutend
besser kann. Denk mal an dein erstes Auto. Ich meine diese röhrende Klapperkiste, die im Grunde nur mit Rost zusammengehalten wurde. Du warst so stolz, dass du dir diese Karre selbst hattest
leisten können, dass dir erst nach Monaten auffiel, dass er nach und nach heimlich wichtige Reparaturen machen ließ, während du in deiner kleinen Werkstatt gearbeitet hast. Oder die neue Küche
für dein Apartment, die du dringend gebraucht hast, für die du mit deinem gerade erst gegründeten Geschäft als selbstständiger Tischler aber einfach nicht genug Geld hattest, bis auf einmal der
tolle Auftrag über den Esstisch mit acht Stühlen bei dir reinkam.«
Oh ja, ich erinnerte mich noch sehr gut, denn es gab einige solche »Vorfälle« in meinem Leben, wo Dad mir mit beruflichen Kontakten oder sonst wie unter die Arme gegriffen hatte, ohne darüber
auch nur ein Wort zu verlieren, bis ich irgendwann von selbst dahinterkam.
»Er ist ein toller Dad«, murmelte ich und spießte noch einen Pilz auf meine Gabel, bevor ich Nicholas ansah. »Hilfst du mir gleich mit dem Abwasch?«
»Nur wenn du aufhörst, das Gemüse so böse anzusehen. Iss es lieber.«
»Dir ist schon klar, dass es gegen Freiheit, Menschenrechte und noch tausend andere Gesetze verstößt, und wahrscheinlich auch als Folter gilt, wenn man Kinder dazu zwingt, Gemüse zu essen?«
Nicholas lachte heiter. »Natürlich. Iss es trotzdem.«
Ich seufzte übertrieben, als er sich erhob und ins Haus ging, und dann aß ich zu Ende, während ich meinen Blick über ihren Garten schweifen ließ. Sie hatten schon alles Wichtige für den nahenden
Winter erledigt oder erledigen lassen, mir blieb also nur noch, die alte Eiche zu fällen, die dem letzten Gewitter zum Opfer gefallen war, als ein Blitz direkt in den Stamm einschlug. Ich hatte
schon alle losen Äste abgeschnitten und weggeräumt, und wenn sich das Wetter hielt, könnte ich mich gleich morgen darum kümmern. Mal sehen, ob sich ein Teil des Holzes retten ließ. Für ein
kleines Möbelstück oder für Dekoration.
»Willst du wegen der alten Eiche noch warten?« Alexandre kam wieder nach draußen und setzte sich zu mir. »Irgendwie sieht der Baum seit diesem Blitzschlag aus wie eine Gestalt aus einem
Halloween-Horrorfilm.«
Das stimmte, stellte ich fest, während ich die knorrigen, teils verbrannten Äste betrachtete, die kein Laub mehr trugen und durch den Blitz krumm und schief hingen. Mit etwas Fantasie und der
dazu passenden Beleuchtung, ging die alte Eiche in der Nacht garantiert als böses Monster aus dem Wald durch, das mit Begeisterung kleine Jungs fraß – für derartige Geschichten hatte ich als Kind
ein Faible gehabt.
»Ihr solltet die Eiche mit einer Lichterkette behängen. Es ist schließlich bald Halloween.«
Alexandre gluckste. »Das wäre genau das Richtige für dich, nicht wahr?« Er erhob sich wieder und trat von der Terrasse auf das Gras hinunter, um sich umzudrehen und langsam am Haus
hinaufzublicken. »Das alles hier, wird mir fehlen.« Sein Blick fand mich. »Ich habe dich immer als meinen Sohn angesehen … Dabei wollte ich eigentlich nie Kinder, nachdem ...« Er brach ab und
seufzte, was mich mitfühlend lächeln ließ, denn ich wusste, an wen er gerade dachte.
»Wetten, dass er sich für dich freuen würde? Dass er einen Blick auf Nicholas werfen und zufrieden nicken würde?« Etwas anderes konnte ich mir bei der Beschreibung, die er mir einmal über Etienne
gegeben hatte, einfach nicht vorstellen. Ich fing an zu grinsen. »Er würde ihn schamlos anbaggern, um zu sehen, ob du ihm dafür eine reinhaust.«
Alexandre lachte leise. »Ja, das würde er. Und dann würden wir Nicholas gemeinsam ins Bett schleifen.«
Jetzt lachte ich, wobei mir etwas einfiel. »Hast du eigentlich noch einmal darüber nachgedacht? Nach Rumänien zu gehen, um herauszufinden, ob Guichon noch lebt? «
Ich kannte die ganze unselige Geschichte des Trios, dessen Liebe so brutal und endgültig auseinandergerissen worden war, und ich konnte Alexandres Entscheidung, Guichon, den König der Vampire –
zumindest war er das damals gewesen –, hinter sich zu lassen, sehr gut verstehen. Würde ich dazu gezwungen sein, den Mann zu töten, den ich liebte, weil der andere Mann, den ich ebenfalls liebte,
zu verbohrt war, eine andere, weitaus bessere Entscheidung zu treffen, als er es getan hatte – ich war mir nicht sicher, ob ich je fähig sein würde, Guichon das, was er Alexandre damit angetan
hatte, jemals zu verzeihen. Aber ich war auch kein Vampir, der viele Jahrzehnte Zeit gehabt hatte, zu trauern und vielleicht doch, egal wann, stark genug war, um genau das zu tun –
vergeben.
»Ich habe noch keine Entscheidung getroffen«, sagte er und klang dabei so kühl, dass ich mich am liebsten hinter meinem Teller versteckt hätte. Wahrscheinlich hatte er darüber tagelang mit
Nicholas gestritten, und wie ich den kannte, würde er dafür sorgen, dass sie auf ihrer Weltreise früher oder später auch nach Rumänien kamen. Nicholas konnte ein Dickkopf sein, wenn er sich etwas
in den Kopf gesetzt hatte, und wie das zwischen den beiden am Ende ausging – tja, ich würde es früher oder später wohl erfahren.
Im Haus begann das Telefon zu klingeln, aber da Alexandre bei mir blieb, würde es Nicholas überlassen bleiben, den Anruf entgegenzunehmen. Ich schob den leeren Teller in die Mitte des Tisches,
nahm mein Bier und gesellte mich zu Alexandre, um ebenfalls am Haus hochzusehen. Mein Blick blieb auf einem der Fensterläden hängen.
»Habe ich den nicht erst repariert?«, fragte ich stirnrunzelnd und wünschte mir mehr Licht, um besser sehen zu können, nur war es dafür einfach schon zu spät.
»Was meinst …? Ach so, ja. Das wollten wir dir noch sagen. Der obere Scharnier hat sich gelöst. Nicht der linke, den du erst letzten Monat ausgetauscht hast, der andere.«
Ich stöhnte. »Dieses Haus braucht unbedingt wieder einen Hausverwalter, der auf so was ein Auge hat.«
»Bewirb dich doch beim neuen Hausbesitzer um den Job«, wurde ich geneckt und wir sahen gemeinsam zur Terrassentür, als von dort ein Räuspern zu hören war. »Was ist los?«, fragte Alexandre, denn
Nicholas wirkte auffallend blass. Also blasser als sonst.
»Das war dein Dad, Hudson. Carter hat sich gerade bei ihm gemeldet. Er kommt tatsächlich persönlich her. Er will sich das Haus ansehen, bevor er entscheidet, ob er es verkauft.«
Kapitel 4
Sibiu, Rumänien
Mitte des 19. Jahrhunderts
Wir verließen Rumänien an einem verregneten Herbsttag in den frühen Abendstunden.
Einhundert Gelehrte, Krieger, Bedienstete – Vampire meist niederen Ranges, bis auf mich und einige weitere Krieger, deren Gewissen es ebenfalls nicht zuließ, die unwissende Menschheit zu einem
ewigem Leiden unter dem Joch unserer Herrschaft zu verurteilen.
Keiner von uns wusste, wie es weitergehen sollte, doch das Ziel unserer Reise stand fest – Paris.
Wir würden mit der Menschheit in einen Krieg ziehen, den sie allein niemals gewinnen konnte, und selbst mit uns war ein Sieg mehr ein Traum als gewiss. Aber unsere Entschlossenheit, es zu
versuchen, trieb uns voran, denn die Alternative, Guichon zu folgen und die Menschen tatenlos ihrem grausigen Schicksal zu überlassen, kam für niemanden von uns infrage.
»Wie sollen wir diesen Sterblichen nur helfen?«, wandte sich Alain nach sechs Tagen während einer längeren Rast an mich, und ich wünschte, ich hätte eine Antwort für ihn, aber die hatte ich
nicht. Alains Liebe galt seinen Büchern und der Natur. Nie hatten seine gepflegten Hände ein gefährliches Schwert geführt oder einen Dolch tief in den Körper eines Feindes getrieben. Er war
Gelehrter, kein Krieger, und das würde sich auch niemals ändern, was unser Unterfangen, jenen zu helfen, die nichts von unserer Existenz wussten, beinahe unmöglich machte, denn am Ende
entschieden die Krieger über den Ausgang einer Schlacht, so wie sie es seit Jahrtausenden taten, und wir waren aufgrund unserer geringen Anzahl hoffnungslos unterlegen. »Ich bin kein Krieger, wie
Ihr es seid, Mylord.«
»Nenn mich nicht so, Alain.«
»Ihr seid bereits so lange ein geehrtes Mitglied des inneren Kreises um unseren Herrscher, Mylord. Wie könnte ich mir also anmaßen, Euch weniger nennen?«
Er hatte recht, auch wenn ich diese Befehlsebene zuletzt von Tag zu Tag mehr verachtet hatte. Wir standen nicht über- oder untereinander, wir standen nebeneinander. Wir waren vereint in dem
Funken Hoffnung, den Menschen helfen zu können.
»Wir werden sterben, nicht wahr, Mylord?«
Alain hatte die Frage nicht laut gestellt, aber ich war mir der Aufmerksamkeit um uns herum sehr wohl bewusst. Viele von uns hatten Angst, und doch hatten sie sich uns angeschlossen, hatten sich
mir angeschlossen. Ich war jetzt kein Krieger an der Seite Guichons mehr, ich war ein Anführer geworden. Ich hatte ohne mein Zutun die Verantwortung übernommen, war für das Wohl und für die
Zukunft von einhundert jungen, älteren und auch uralten Vampiren verantwortlich, deren Namen ich kaum kannte. Ich wollte diese Verantwortung nicht tragen, aber wenn nicht ich, wer dann?
Ich ließ meinen Blick über die Gesichter meiner Mitstreiter schweifen, während ich meine Hände über dem Feuer wärmte, das wir entzündet hatten, um wilde Tiere fernzuhalten, obwohl selbige keine
ernstzunehmende Bedrohung für uns waren. Eher wir für sie, denn wir mussten nicht von Menschen trinken, um unseren Durst zu stillen. Blut war Blut, solange es frisch war.
»Wir stehen vor einer Aufgabe, die wir unmöglich erfüllen können. Nur wenige von uns sind Krieger und selbst, wenn es anders wäre, liegt unsere Anzahl weit unter jenen, die Guichon folgen. Aber
wir besitzen etwas, das ihm und den anderen von uns fremd geworden ist. Integrität. Wir schätzen die Menschen. Wir akzeptieren, dass wir Teil ihrer Welt sind, obwohl sie von unserer Existenz
besser niemals erfahren sollten. Wir sehen sie nicht als wertloses Vieh an, das uns ausschließlich als Nahrung zur Verfügung stehen sollte. Wir sind bereit, für und mit ihnen zu kämpfen, auch
wenn das unseren Tod bedeutet.«
»Haben wir denn gar keine Chance?«, fragte ein sehr junger Vampir, dessen Namen ich nicht kannte, doch ich kannte seine Ängste, weil sie auch mich umtrieben.
»Wir haben eine Chance, denn wir haben unser Wissen aus vielen Jahrhunderten.« Und das würden wir weitergeben, weil Wissen Macht bedeutete. »Wir werden dieses Wissen an all die Menschen
weitergeben, die bereit sind, zuzuhören. Die Krieger von uns werden andere Krieger ausbilden, die Gelehrten unter uns werden Wissbegierige finden, und die Bediensteten werden das tun, was ihnen
zu eigen ist – zuhören und lernen. Wissen ist ein Vorteil, den wir weitergeben können und müssen, denn je mehr wir über die Strukturen in Paris wissen, über die Straßen, über das Leben der
Menschen, umso größer wird ihre und auch unsere Chance, zu überleben, wenn Guichon sich aufmacht, um gegen Paris und die Sterblichen in den Krieg zu ziehen.«
***
Meine Worte veränderten etwas innerhalb unserer Gruppe, worüber ich selbst noch am meisten überrascht war, denn ich sah mich nicht als Herrscher oder Führer. Aber die Vampire, die mich
begleiteten, taten das, und weil ich ihre stetig wachsende Hoffnung auf eine Zukunft unter den Menschen nicht zerstören wollte, sagte ich nichts, als sie in den darauffolgenden Tagen, während uns
unsere Reise zum Meer führte, eine Befehlsebene in unserer Gruppe aufbauten, deren Mittelpunkt ich war.
Ich dachte an Guichon, für den diese Strukturen zum Leben gehörten, wie das Trinken von Blut. Vielleicht hätte ich zuhören und lernen sollen, wann immer er sich mit seinen Ratgebern zu
langwierigen Gesprächen traf und Etienne und ich zu seinem Schutz an seiner Seite standen. Dann wäre mir meine eigene Hilflosigkeit jetzt wohl nicht wie ein unüberwindbarer Gegner erschienen.
Doch dieser Gedanke war fruchtlos, also schob ich ihn zur Seite und warf einen Blick in den Nachthimmel hinauf, wo sich gerade der volle Mond einen Weg durch die dichten Wolken zu kämpfen
versuchte.
»Alexandre«, rief Bojan, einer der Krieger, die seit mehr als zwei Jahrhunderten unter meinem Befehl standen, und deutete auf einen Hügel zu unserer Rechten, als ich zu ihm schaute. Ich folgte
seinem Wink mit dem Kopf und erkannte die Gestalt, die sich halb hinter der kleinen Ansammlung Felsen versteckt hielt, ohne einen Blick in ihr Gesicht werfen zu müssen.
Etienne.
Er war mir gefolgt.
Obwohl er zuvor erzürnt das Gegenteil behauptet hatte und sein letztes Wort an mich voller Zorn gesprochen worden war, dicht gefolgt von dem schmerzhaften Klatschen seiner offenen Handfläche in
meinem Gesicht, ehe er aus dem Raum gestürmt war, der viele Jahre unser gemeinsames Quartier in Guichons Schloss gewesen war.
»Geht weiter, ich hole euch ein.«
Bojan wollte sich weigern, das sah ich ihm an, aber dieses Gespräch musste ich allein führen, darum schüttelte ich stumm den Kopf und deutete ihm an, weiterzugehen. Etienne würde mir nichts tun.
So wütend er auch war, heute Nacht war ich vor seinem Zorn sicher, wenn auch nicht vor weiteren, hochgradig empörten Worten, mit denen er mich bereits Tage vor meinem Aufbruch ausführlich bedacht
hatte.
»Wir werden am Fluss rasten und auf Euch warten«, sagte Bojan und damit war ich einverstanden, denn es gab mir etwas Zeit, die ich jetzt für Etienne brauchte.
»Macht die Boote bereit. Wir müssen vor Sonnenaufgang in der Stadt sein, um morgen Abend unsere Überfahrt anzutreten. Wir bezahlen den Captain großzügig, aber er wird nicht auf uns warten, falls
wir nicht wie verabredet erscheinen.«
»Verstanden.«
Ich wandte mich der Felsgruppe zu und Etienne zog sich in die Dunkelheit dahinter zurück, wo er auf mich wartete, bis ich den ersten Felsen umrundet hatte. Hände packten mich, warfen mich mit dem
Rücken gegen den nassen, kalten Stein, und weil ich um seine Hilflosigkeit wusste, die er hinter unbändiger Wut verbarg, griff ich nach dem Kragen seines Mantels und presste meine Lippen auf
seinen Mund. Ein überraschtes Keuchen war zu hören, bevor er meinen Kuss erwiderte und sich gegen mich sinken ließ. Ich zog ihn näher, schob meine Hände unter seinen Mantel und verfluchte die
gefütterten Handschuhe aus Leder, die meine Finger vor der Kälte schützten, weil ich ihn so nicht wirklich berühren und spüren konnte.
Es musste reichen. Mehr als dieser letzte Augenblick würde uns nicht bleiben, und während ich innerlich schrie, weil ich sie nicht verlassen wollte, weil ich sie liebte, rief ich mich äußerlich
zur Ruhe, denn ich hatte meine Wahl getroffen.
»Geh nicht«, flüsterte er an meinem Mund und fluchte, weil ich stumm blieb. »Alexandre, bleib bei mir.«
»Komm mit mir.«
»Ich kann nicht mit dir gehen.«
»Ebenso wenig wie ich bei dir bleiben kann«, sagte ich leise und zog Etienne ein letztes Mal in meine Arme. »Ich liebe dich. Für immer.«
»Bis in alle Ewigkeit, hast du das vergessen?«, warf er mir in einem Anfall von Trotz, und ich lächelte, weil es die pure Angst war, die aus ihm sprach, denn wir wussten beide, wie es für uns
enden würde.
»Sag ihm, dass ich ihn liebe, aber ich kann diesen Weg nicht mit euch gehen. Ich kann niemals gutheißen, was ihr vorhabt.« Er biss mir in die Unterlippe und ich konnte nicht anders, als zu
lachen, weil das so typisch für Etiennes bisweilen ungestümes Gemüt war. Wie sehr ich ihn vermissen würde. Wie gern ich in die Sicherheit seiner Umarmung zurückgekehrt und für immer an seiner
Seite geblieben wäre. »Wir werden uns wiedersehen, Etienne. Unsere Wege mögen sich nun trennen, aber eines Tages werden wir drei uns in einer uns heute noch unbekannten Welt wiedertreffen, in der
wir für immer vereint sein können.«
»Dann werden wir tot sein, Alexandre.«
»Das ist wahr«, murmelte ich und küsste ihn ein allerletztes Mal, bevor ich seinen Blick suchte. »Beschütze ihn. Liebe ihn … Vergesst mich nicht.«
»Niemals.«