(Achtung: unkorrigierte Leseprobe)
Prolog
»Das ist doch völliger Quatsch!«
Brodys abwehrende Reaktion kam nicht überraschend. Die meisten Menschen reagierten so, wenn ich ihnen erzählte, dass ich Tote sehen und mit ihnen sprechen konnte.
»Der Junge war schon immer viel zu pragmatisch.«
»Das ist gerade nicht hilfreich«, murmelte ich in Richtung seines Großvaters, der daraufhin nur heiter lachte und nebenbei weiter mit einem Bein wippte, während er auf meinem Sofa saß und seinen
Enkel liebevoll betrachtete, der mit langen Schritten zwischen meiner kleinen, gemütlich eingerichteten Essecke und dem Eckfenster hin- und herlief.
»Du willst mir allen Ernstes weismachen, dass Grandpa hier ist und sich Sorgen um mich macht?«, fragte er schließlich und schnaubte kopfschüttelnd, weil ich auf seinen fragenden Blick hin nickte.
»Blödsinn. Grandpa ist seit zehn Jahren tot.«
»Tze, es sind erst neun Jahre, elf Monate und acht Tage, aber wer zählt da schon mit?«
Ich musste mir ein Lachen verkneifen und warf dem alten Mann einen tadelnden Blick zu, den er nur mit einem Grinsen kommentierte, was mich seufzen ließ, weil mir klar war, dass er nicht den Mund
halten würde. Das tat er nie, seit ich diese zwei so ungleichen Männer kennengelernt hatte, die sich gleichzeitig so ähnlich sahen. Andererseits hatte Brodys Großvater mir eben ein gutes Mittel
in die Hand gegeben, mit dem ich seinen Enkel möglicherweise davon überzeugen konnte, dass ich nicht total verrückt war.
»Er sagt, es sind erst neun Jahre und elf Monate.«
Brody fuhr auf dem Fuße zu mir herum und warf mir einen misstrauischen Blick zu. »Das kannst du gar nicht wissen.«
Ich sah kurz zur Couch und wurde ausgelacht. Herrje. »Ich weiß es auch nicht. Dein Großvater hat das gesagt.«
Brody schürzte die Lippen. »Emilia ...«
»Ja, ja, ja«, unterbrach ich ihn. »Ich bin verrückt und du hast deine Ruhe. Das habe ich alles schon unzählige Male gehört, ich sehe Tote schließlich schon mein ganzes Leben lang. Und ja, ich
spreche auch mit ihnen, wobei es meistens die Toten selbst sind, die mich ansprechen.«
Dass es in diesem Fall allerdings ich gewesen war, die Brody angesprochen hatte, um dadurch möglichst unauffällig Kontakt zu diesem sympathischen alten Mann mit seinem Gehstock und im
dreiteiligen Anzug aufnehmen zu können – nun, das musste Brody nicht unbedingt wissen. Jedenfalls jetzt noch nicht.
»Ha!«, kam von der Couch her und ich verdrehte mit einem resignierten Seufzend die Augen. »Was? Glaubst du, ich merke nicht, wie du meinen Jungen ansiehst? Es wäre ein guter Fang, nicht wahr? So
groß und gutaussehend, wie er ist.«
»Ich weiß, dass er groß und gutaussehend ist, danke.«
Brody ächzte, während sein Großvater erneut lachte. »Mein Gott, er versucht immer noch, mir die passende Frau zu suchen. Ich fasse es nicht, das hat er schon probiert, als ich gerade frisch auf
dem College war und für ein paar Jahre nicht das geringste Interesse an Mädchen hatte.«
»Was eine Schande war, soviel ist klar. Sein Vater dachte für eine Weile sogar, dass er eines Tages einen Schwiegersohn im Haus begrüßen würde. Nicht, dass es uns stören würde. Wieso sollte es
das auch? Wir leben schließlich nicht mehr im letzten Jahrhundert. Solange der Junge glücklich ist, kann er heiraten, wen er will.« Der alte Mann runzelte die Stirn. »Und langsam sollte er mal
damit anfangen, nach einer Frau oder einem netten Mann Ausschau zu halten, immerhin wird er bald Vierzig. In seinem Alter hatte ich schon drei freche Bengel und ein tolles Mädel zu
versorgen.«
Ich gluckste unwillkürlich und Brody sah mich fragend an. »Dein Dad dachte, du wärst schwul, weil du nicht mit Mädchen ausgegangen bist?«
Brody stöhnte. »Das hat er dir erzählt? Herrgott, Grandpa!« Im nächsten Augenblick zuckte er heftig zusammen, wobei sich seine blauen Augen entsetzt weiteten. »Oh Gott, er ist wirklich hier,
oder?« Ich nickte und da räusperte er sich. »Du musst ihn etwas von mir fragen.«
»Das kannst du selbst tun, er sitzt auf der Couch und kann dich genauso hören wie du ihn, auch wenn du gerade so tust, als wäre dem nicht so«, erkläre ich und wartete geduldig ab, bis Brody seinen Schock überwand und sich die Nasenwurzel rieb, bevor er zur Couch sah. »Wo hast du mich damals hingebracht, als ich mich nach dem Streit mit Dad betrunken hatte?«
Ich sah ebenfalls zur Couch und Brodys Großvater seufzte schwer, um dabei den Kopf zu schütteln. »Ach je, ausgerechnet daran musst du dich erinnern. Das war keine Glanzleistung von dir. Aber auch
nicht von deinem Vater. Die beiden sind solche Sturköpfe.« Ein scheeler Blick aus denselben tiefblauen Augen, wie Brody sie hatte, traf mich. »Sag ihm, dass der Schlüssel zur Hütte immer noch im
hellblauen Blumentopf liegt und dass er endlich mal wieder ein Wochenende am See verbringen soll. Ich habe ihm die Hütte nicht vererbt, damit er sie verfallen lässt.«
Kapitel 1
»Wir hätten ins Kino gehen sollen.«
»Wie oft willst du noch davon anfangen?«
»So oft, bis wir von hier weg können.«
Was dauern würde, wenn die hübsche Blondine hinter mir nicht aufhörte, sich gedanklich im Kreis zu drehen. Tote waren mitunter richtige Nervensägen, zumindest für mich, auch wenn ich sie durchaus
verstehen konnte. Wer so unerwartet starb, der hatte keine Zeit, sich auf den Tod vorzubereiten, und genau das war seit Wochen Lindas Problem.
»Was nie sein wird, wenn du nicht endlich aufhörst, ständig in der Vergangenheit herumzuwühlen. Sie wird sich nicht mehr ändern, Linda. Wir sind tot, und du weißt doch, was Emilia zu uns gesagt
hat.«
Ich nickte in Gedanken, denn Matt hatte sein Schicksal fast von Anfang an akzeptiert. Das war selten, aber es machte meine Arbeit, sofern man das, was ich tat, so nennen wollte, ziemlich leicht.
Wäre er allein, hätte ich ihn schon längst dazu gebracht, hinüberzugehen, aber Linda war noch nicht so weit und ich war mir nicht sicher, ob sie es je sein würde.
Matthew Parker und Linda Bowles. Ein junges Paar, verliebt und voller Zukunftspläne, aus dem Leben gerissen durch einen Umstand, den sie nicht hatten kommen sehen. Sie waren beide unschuldig an
ihrem Tod, doch das brachte mich nicht weiter. Und es brachte sie nicht weiter. Sie würden nicht studieren, sich Jobs suchen, heiraten und Kinder kriegen. Sie würden sich kein Haus kaufen und
glücklich sein. Sich vielleicht eines Tages im Streit trennen und scheiden lassen.
Ihr Leben war vorbei.
Für immer.
Und so schrecklich das für sie auch war, für mich, für jeden anderen Menschen, ging das Leben weiter. Tag für Tag. Linda und Matt waren längst begraben und nicht mehr wert gewesen, als eine
kleine Fußnote in den Abendnachrichten. Ein Unfall, wie es sie tagtäglich zu hunderten, ach was, zu tausenden, gab. Die Stadt war zu groß, um sich um solche unwichtigen Toten zu kümmern. Außer
ihren Familien und ihren Freunden hatte ihr grausamer Feuertod niemanden interessiert.
Linda schnaubte und starrte mit verschränkten Armen auf den Dielenboden. »Woher will sie wissen, wie wir in die andere Welt wechseln können? Sie lebt schließlich noch.«
»Genau deswegen weiß sie es. Immerhin hilft sie schon seit Jahren Toten wie uns, ihren letzten Weg zu gehen«, hielt Matt dagegen und schüttelte genervt den Kopf, weil Linda ihn nicht einmal
ansah, als sie »Ja, ja, ja.« murrte. »Linda ...«
»Ich versuch´s ja, okay?«
»Nein, tust du nicht«, mischte ich mich vom Sofa her ruhig ein, auf dem ich lag und versuchte, ein Buch zu lesen, was nicht so ganz einfach war, wenn man zwei Geister im Wohnzimmer zu stehen
hatte, die sich wieder einmal darum zankten, dass ihr Tod sinnlos gewesen war. Das taten sie, seit ich ihnen begegnet war, doch es würde sie nicht weiterbringen, weshalb ich Matts wachsenden
Frust nachvollziehen konnte. »Du wirst ewig hier bleiben, weil du nicht gehen willst.«
Ich blickte zu Matt, der jetzt am Fenster stand und in den Garten hinausblickte, und traf eine Entscheidung. Er war bereit, das spürte ich, wie ich es immer tat. Matt wäre schon längst ins
Jenseits gewechselt, würde Linda ihn durch ihre Unfähigkeit, ihr verlorenes Leben loszulassen, nicht im Hier festhalten, und möglicherweise war das ihr gegenüber jetzt unfair, aber er hatte
seinen Frieden verdient. Notfalls allein, wobei ich nicht glaubte, dass es wirklich so weit kommen würde, dafür liebten die zwei sich zu sehr.
»Geh allein«, sagte ich dennoch zu ihm, worauf Matts leicht durchsichtige Gestalt verunsichert von mir zu seiner Verlobten und danach zurück zu mir sah. Er zögerte, aber es war von Mal zu Mal
deutlicher, dass der unsichtbare Sog, von dem mir viele Tote erzählten, bevor sie hinübergingen, mit jedem Tag stärker wurde. »Ich kann sie doch nicht allein lassen.«
Doch, genau das sollte er tun, denn vielleicht bekam Linda dadurch den nötigen Schubs, den sie so dringend brauchte. Sie klammerte sich an ein Leben, das für Matt und sie verloren war und das nie
zurückkommen würde. Tote waren tot, auch wenn sie das nicht immer akzeptieren wollten.
»Sie muss sich entscheiden, ob sie dir folgen oder weiter mit dem Frust über ihren sinnlosen Tod in der Realität bleiben will. Du bist bereit, Matt. Geh.« Ich sah zu Linda. »Lass dein Leben los.
Ihr seid tot und habt jetzt die Ewigkeit vor euch. Das ist viel mehr, als es vielen anderen Toten vergönnt ist. Matt liebt dich und das wird er für immer tun, sobald ihr durch das Licht geht.
Sogar im wahrsten Sinne des Wortes.«
Nicht, dass ich wirklich wusste, wie es für Tote war, auf die andere Seite zu wechseln, aber ich stellte es mir vor wie einen Vorhang aus Licht, den sie durchschritten. Einige Geister hatten mir
von dem Licht erzählt, das nur sie sehen konnten, und von den Menschen, die darin auf sie gewartet hatten. Von Eltern, Geschwistern, Ehemänner und Ehefrauen, manchmal sogar von vor ihnen
verstorbenen Kinder. Ich hatte bisher keinen Toten kennengelernt, auf den niemand gewartet hatte, und das stellte ich mir tröstlich vor.
So waren sie nicht allein in diesem neuen Daseinszustand, der für jeden Geist anders war. Ob jung oder alt, ich hatte schon jedes Alter hinüberbegleitet. Die Alten freuten sich oft darauf,
geliebte Menschen wiederzusehen. Kinder waren neugierig auf die neue Welt. Singles, vor allem Männer, brauchten oft länger, weil sie oft nicht an Geister, Tote und ein neues Leben nach dem Tod
glaubten. Und wenn Mütter oder Väter starben, das war immer ganz schlimm, denn sie wollten ihre Kinder nicht hier in dieser Welt zurücklassen und waren oft erst zufrieden, wenn sie sahen, dass es
ihren Kindern wieder gut ging. Ich hatte mehrere Eltern begleitet, bis sie bereit gewesen waren, zu gehen, doch am liebsten waren mir immer die jungen, verliebten Paare, die zusammen
hinübergingen, denn sie kamen meistens am besten damit zurecht, tot zu sein.
Linda war eine Ausnahme, die gab es immer mal wieder, ganz egal, ob ein Kind oder ein alter Mann starben.
Oder eben eine junge Frau in der Blüte ihres Lebens, wie es so schön hieß. Ich hätte sie vermutlich ignorieren sollen, als die beiden im vergangenen Monat aus dieser Seitenstraße kamen – darüber
streitend, dass sie ihren tödlichen Unfall nicht gehabt hätten, wären sie an jenem Abend ins Kino gegangen, statt zum Strand zu fahren.
Da sie sich nicht mehr an den Unfall selbst erinnerten, hatte ich mich schlau gemacht und herausgefunden, dass Matt durch eine Öllache auf der Fahrbahn die Kontrolle über den Wagen verloren und
frontal gegen einen Baum gerast war. Linda und er waren bereits tot gewesen, als ihr Auto in Flammen aufging, genauso wie der Fahrer des Audis, der für die Öllache auf der Straße verantwortlich
war und den die Polizei hinterher zufällig gefunden hatte, weil sein Auto einige Meilen hinter dem Unfall der beiden einen Abhang hinabgestürzt war.
Wenigstens hatte ich mich nicht auch noch mit diesem Geist herumärgern müssen. Wobei ärgern eigentlich das falsche Wort war, immerhin konnte der Großteil allen Toten ja nichts dafür, dass sie tot
waren. Die meisten gingen sofort hinüber in diese andere Welt. Das wusste ich zwar nicht mit Bestimmtheit, aber eine andere Erklärung gab es für mich nicht, denn sonst wäre die Welt förmlich mit
ihnen bevölkert und ich hätte überhaupt keine Ruhe vor den Toten. Mir reichten ohnehin die Geister, die mich ansprachen, und das waren bereits so viele gewesen, das ich längst aufgehört hatte,
sie zu zählen.
»Ich kann es sehen, Linda«, flüsterte Matt, sein Blick ging an mir vorbei zur Wand, vor der mein großes Bücherregal stand. »Das Licht ist wunderschön und so warm. Ich will hineingehen. Und ich
wünsche mir, dass du mitkommst.«
»Was ist, falls es uns da drüben nicht gefällt?«, fragte Linda und ich richtete mich auf, denn es war das erste Mal, dass sie es nicht rundheraus ablehnte, ins Licht zu gehen.
Matt grinste. »Guck es dir doch an. Wie soll es einem an so einem schönen Ort nicht gefallen? Außerdem ist die Alternative noch länger hierzubleiben, und mal ehrlich, was hält uns denn in dieser
Welt? Dein saufender Dad, dem wahrscheinlich nicht mal aufgefallen ist, dass wir gestorben sind, oder meine ständig arbeitende Mom?«
»Du liebst deine Mom, Matt«, hielt Linda dagegen und warf Matt dabei ein sanftes Lächeln zu. »Sie wollte immer, dass wir es mal besser haben, weißt du noch? Sie hat sich für uns gefreut und sie
war die einzige, der wir nicht egal waren.«
Oh je, was für Familienverhältnisse. Ich zog eine Grimasse, hielt mich aber sonst zurück. Die beiden taten mir leid, aber sie hatten einander, und nur das war jetzt noch wichtig.
Er nickte. »Ich werde Mom immer lieben, aber dich liebe ich mehr. Deswegen wollten wir ja auch von hier weggehen … Und jetzt können wir das tun.« Matt trat vom Fenster weg und lief durch meine
Kommode hindurch, die davor stand, was mich prompt schaudern ließ, wie jedes Mal, wenn Tote durch Möbel, Wände oder Menschen traten, denn sie kümmerte es nicht, weil sie ja schließlich tot waren.
Matt streckte eine Hand nach Linda aus. »Es ist nicht das Leben, das wir wollten, aber hey, wir sind zusammen und brauchen uns auch nicht mehr abzurackern, um genug Geld für das tolle Haus zu
verdienen, das wir uns eines Tages kaufen wollten. Linda?« Er wartete, bis sie ihn anschaute. »Ich liebe dich. Bitte komm mit mir.«
Es dauerte eine Weile, bis Linda endlich ihre Wahl traf, und als sie es tat und beide sich mit einem Lachen vor mir auflösten, reckte ich mit einem zufriedenen »Ja!« meine Faust in die Höhe,
wobei das aufgeklappte Buch von meinem Schoß fiel und laut polternd auf dem Boden landete.
»Wieder zwei glücklich gemacht«, erklärte ich schmunzelnd in mein leeres Wohnzimmer hinein und stand auf, um das Buch zurück auf die Couch zu legen und in die Küche zu gehen und mir frischen Tee
zu kochen, denn der Herbst hielt Einzug, was bedeutete, es wurde jeden Tag ein bisschen kühler.
Aber zugleich bedeutete es auch bunte Blätter, dicker Nebel am Morgen, Halloweendekoration, Kerzen, ein Kaminfeuer am Abend und im November Thanksgiving.
Der Indian Summer war, das fand ich jedenfalls, die perfekte Zeit für eine kitschig romantische Herbstgeschichte über einen Geist, der seiner trauernden Liebe dabei helfen wollte, noch
mal von vorne anzufangen. Ich werkelte an dem Plot bereits einige Zeit, und wären mir nicht unerwartet Linda und Matt über den Weg gelaufen, wäre ich schreiberisch garantiert schon weiter als die
hundert Seiten, die ich im Augenblick vorweisen konnte.
Andererseits hetzte mich ja niemand, und da mein Pärchen jetzt glücklich vereint im Jenseits war, konnte ich mich ab sofort wieder auf mein nächstes Buch konzentrieren.
Gott sei Dank war ich nicht auf Gedeih und Verderb einem Verlag ausgeliefert, sondern veröffentlichte meine Bücher lieber selbst, was anfangs nicht leicht gewesen war, im Gegenteil. Ich hatte in
den ersten Jahren jeden noch so schlecht bezahlten Job annehmen müssen, um über die Runden zu kommen. Aber jetzt war ich Mitte Dreißig, veröffentlichte mehrere Bücher im Jahr – meistens
Fantasiegeschichten über Fabelwesen, unter anderem natürlich Geister – und hatte mit meiner ausufernden Fantasie in den vergangenen Jahren genug verdient, um mir ein kleines, viktorianisches
Stadthaus am Stadtrand leisten zu können, in dem es von weichen Kissen, kuscheligen Decken, Dekorationen passend zur Jahreszeit und einer bunten Mischung an Pflanzen nur so wimmelte.
»Miau.«
Oh, und Sir Henry, natürlich. Grinsend sah ich über meine Schulter, als mein grau-schwarzer Norwegerkater zu mir in die Küche stolziert kam. »Wo hast du Miss Margret gelassen?«
Miss Margret war eine dreifarbige Glückskatze und mit Sir Henry zusammen bildeten die beiden ein Dreamteam, das mich zu ihrem Dosenöffner und Sklaven auserkoren hatte, nachdem ich beschloss,
nicht allein in diesem großartigen Haus wohnen zu wollen. Viele meiner Nachbarn hatten Hunde, aber für mich war das nichts. Katzen waren selbstständiger und störten sich nicht daran, wenn ich
wieder einmal den halben Tag vor dem Computer hockte und an meinen Büchern arbeitete.
»Miau.«
Henry sprang auf die Kücheninsel, wickelte den buschigen Schwanz um seine Beine und begann zu schnurren. Glucksend stellte ich den Wasserkocher in die Station und schaltete ihn ein, bevor ich zu
Henry ging, ihn streichelte und dabei »Vergiss es.« sagte, denn ich wusste, dass er auf die Tüte Leckerlis aus war, die ich immer griffbereit hielt, aber die zwei hatten heute schon ihre Handvoll
bekommen und mehr gab es nicht.
Für mich könnte es aber ruhig etwas mehr geben, entschied ich nach einem Blick auf die Uhr, denn die Mittagszeit war lang vorbei und das Auftauchen von Linda und Matt hatte mich aus dem Konzept
gebracht. Jetzt noch mit dem Schreiben anfangen, war sinnlos, da konnte ich mir genauso gut eine Kleinigkeit zu essen machen und danach ein bisschen frische Luft schnappen. Den Sonnenuntergang
genießen und dabei in Gedanken meine Geschichte weiterschreiben.
Und hoffentlich keinem neuen Toten über den Weg laufen, denn Geister zu sehen, war nicht leicht. Vor allem nicht für ein Kind, von dem jeder annahm, dass es »ein wenig merkwürdig« war. Vom
Kindergarten bis zur Highschool hatte man meinen Eltern vorgeschlagen, mich mit entsprechenden Medikamenten und Therapien behandeln zu lassen, damit ich endlich aufhörte, mit Menschen zu reden,
die nicht da waren.
Tja, für mich waren sie da gewesen.
Seit ich denken konnte, waren Tote ein Teil meines Lebens, obwohl ich sie die vergangenen Jahre meist ignoriert und wenn möglich einen großen Bogen um sie gemacht hatte, denn was in meiner
Kindheit als »niedliche Macke« und »sie hat eben viele unsichtbare Freunde« abgetan werden konnte, war irgendwann zum Problem geworden. Nicht nur für meine Eltern. Außerdem hatte ich mit dem
College und der Überlegung, was ich mal mit meinem Leben anfangen wollte, genug zu tun gehabt.
Ich hatte mich nicht mehr um Tote kümmern wollen, denn erstens war das ein ziemlich mies bezahlter Job und zweitens war ich nach dem Tod meiner Eltern für lange Zeit schlichtweg nicht in der Lage
gewesen, mich mit Geistern zu beschäftigen. Eine Weile hatte ich sogar richtig Angst gehabt, auf einmal mit meinen toten Eltern konfrontiert zu werden, aber das war, Gott sei Dank, nicht
geschehen. Ich glaube, das hätte mir psychisch den Rest gegeben.
Doch die Zeit heilte bekanntlich viele Wunden, und dass ich Matt und Linda geholfen hatte, zeigte mir, dass ich in Zukunft vielleicht wieder etwas offener sein sollte, was die Belange von
Geistern anging. Sofern sie mir nicht die Bude einrannten, aber ich musste ihnen zugutehalten, dass sie das in all den Jahren nie getan hatten.
Manche waren aufbrausend gewesen oder wütend, aber sie hatten meine Bitte um Privatsphäre immer akzeptiert. Nicht so wie in diesem Film mit Patrick Swayze, obwohl das eine richtig tolle
Geschichte war, vor allem die Rolle der Whoopi Goldberg, die meinem eigenen Leben noch am nächsten kam, auch wenn ich es bitte niemals erleben wollte, dass sich ein Geist meines Körpers
bemächtigte – sofern das überhaupt möglich war.
»Miau.«
Ich schreckte aus meiner Überlegung auf, mein Abendessen gegen eine Pizza auszutauschen, die ich mir während meines Spaziergangs besorgen konnte, und goss mir eine Tasse Tee auf, denn ich wollte
mir, bevor ich rausging, wenigstens noch einige Notizen für Szenen machen, die mir heute im Laufe des Tages für das Buch eingefallen waren, ehe Matt und Linda plötzlich in meinem Wohnzimmer
aufgetaucht waren. Dass Tote auch nicht einfach an der Tür klingeln konnten.
»Das wäre es ja noch«, murmelte ich und lachte darüber, da der Gedanke echt albern war. »Kommst du mit, Sir Henry?«, fragte ich den Kater und schaute ihm amüsiert zu, weil er mir tatsächlich ins
Wohnzimmer folgte und es sich schnurrend auf der Couch gemütlich machte.
Ich stellte meine Tasse auf dem Couchtisch ab und griff nach einem Schreibblock, der immer hier lag, denn ich kannte mich. Ideen für neue Bücher oder Szenen für jene Geschichte, an der ich gerade
arbeitete, fielen mir zu jeder erdenklichen Tageszeit ein, und ich war noch nie der Typ Schriftstellerin gewesen, der ständig ein Diktiergerät oder sein Handy mit sich herumtrug. Mir reichten ein
Kugelschreiber und ein Block für Notizen aus, genauso wie mir zum Schreiben selbst dann eine so wenig wie möglich formatierte Seite eines kostenlosen Schreibprogramms genügte. Mit diesen
bezahlbaren Schreibprogrammen, die dem Benutzer die Möglichkeit boten, ein Buch faktisch von vorne bis hinten durchzuplotten, bevor er oder sie das erste Wort schrieb, hatte ich nie etwas
anfangen können. Jedem das Seine, aber ich hielt es lieber minimalistisch.
Zumindest in der Hinsicht, denn mein Haus war wohl eher das Gegenteil davon. Aber ich liebte diese alten, viktorianischen Bauten und ich war in genau so einem Haus aufgewachsen. In einem anderen
Stadtteil zwar, doch San Francisco war und blieb mein Zuhause im Herzen. Ich wollte hier alt werden. In genau diesem Haus. Mit seinen Erkerzimmern, den grauen Schindeln, dem Spitzdach und der
überdachten Veranda, die um das Haus herumführte. Und natürlich dem weißen Gartenzaun.
Ein perfektes Klischee, aber ich liebte es. Ich liebe das Haus, die Blumen, meine Katzen, mein Leben.
Ich war glücklich und heute konnte ich das auch wieder vor mir selbst zugeben, ohne mich dabei schlecht zu fühlen, so wie nach dem Tod meiner Eltern, die mich geliebt, unterstützt und in den
Anfangsjahren meiner Schriftstellerkarriere auch einige Mal finanziell unterstützt hatten.
Sie fehlten mir.
So wie mir heute ab und zu ein wenig mehr menschliche Gesellschaft fehlte. Meist rief ich dann Susan an. Sie war meine einzige und zugleich beste Freundin, die wusste, dass ich Tote sehen konnte,
und da sie ebenfalls Schriftstellerin und mit jeder Menge Fantasie ausgestattet war, störte sie sich nicht die Bohne daran. Im Gegenteil, sie hatte vor dreizehn Jahren sogar einen Bestseller
darüber geschrieben, ohne zu wissen, dass es auf der Welt tatsächlich Menschen gab, die Geister sehen konnten.
Ich hatte sie im Internet kennengelernt, weil ich ihre Bücher las, und mit der Zeit war aus einem erst lockeren Kontakt eine enge Freundschaft entstanden, die mehrere Beziehungen, eine
wunderschöne Hochzeit und am Ende auch Susans Scheidung überstanden hatte.
Seither war sie ein glücklicher Single, so wie ich, und immer wieder heilfroh darüber, mit »diesem egoistischen Idioten«, der ihr Ex-Mann war, kein Kind in die Welt gesetzt zu haben. Und da wir
schon eine Weile nicht mehr bei Kaffee, Tee und Kuchen zusammengesessen und über Gott und die Welt gelästert hatten – oh ja, es war definitiv Zeit wieder für einen Mädelstag oder wahlweise auch
Mädelsabend, denn Toni's, drei Straßen weiter, bot eine leckere Riesenpizza mit acht verschiedenen Belägen an, und die konnte man wunderbar zu zweit essen.
Ich ließ den Schreibblock Schreibblock sein, erhob mich und griff kurzentschlossen zum Telefon, um sie anzurufen.
»Bergus?«
»Was hältst du von Pizza?«, fiel ich mit der sprichwörtlichen Tür ins Haus und Susan lachte.
»Von Toni?«
»Natürlich. Betrachte dich als eingeladen.«
»Gib mir anderthalb Stunden. Ich habe eben einen gewissen Vampir ermordet, also diesmal wirklich ermordet, sprich, nichts mit Wiederauferstehung und so weiter, und ich will schnell den
Rachefeldzug planen, denn sein etwas dusseliger Schatz findet es verständlicherweise gar nicht lustig, nach achthundert Jahren plötzlich wieder Single zu sein.«
Ich runzelte nachdenklich die Stirn. »Sekunde mal, war das nicht der Arsch, den keiner leider konnte?«
»Genau der. Aber sein Mann hat ihn geliebt und will Rache. Was der werte König natürlich nicht einfach hinnehmen kann, denn immerhin ist der Arsch von einem Menschen in Notwehr getötet
worden.«
Ich stöhnte auf, denn ich kannte den Plot des Buches. »Nicht dein Ernst. Er hat tatsächlich gegen die oberste Regel im Zirkel verstoßen und einen Menschen angegriffen?«
Susan gluckste heiter. »Oh ja, und jetzt muss das Leben des Menschen beschützt werden. Dreimal darfst du raten, wem der König diese ach so undankbare Aufgabe ans Bein bindet.«
Jetzt musste ich laut lachen, denn so wie Susan meine Plots und Charaktere kannte, so kannte ich ihre, und Kasimir würde seinem armen König die sprichwörtliche Pest an den toten Hals wünschen.
Der beste Krieger im Zirkel, der Sterbliche auf den Tod nicht ausstehen konnte, sollte jetzt einen beschützen.
»Dir ist klar, dass ich ein signiertes Exemplar von dem Buch haben will, sobald es gedruckt ist, oder?«
Susan kicherte zufrieden. »Bekommst du. Soll ich noch was mitbringen?«
»Nur dich … Und vielleicht eine Tüte Leckerli. Henry guckt schon wieder ganz verhungert.«
Von wegen. Sir Henry schlief mittlerweile auf meiner Decke, aber Susan, die keine eigenen Haustiere hatte, liebte es, ihn und Miss Margret zu verwöhnen, und sie brachte daher regelmäßig Spielzeug
und Leckerlis mit, wenn sie bei mir reinschneite, um ein paar schöne Stunden mit mir zu verbringen und manchmal auch über Nacht zu bleiben, denn mein Haus hatte genug Platz dafür, während Susan
sich nicht überwinden konnte, in etwas Eigenes und Dauerhaftes zu investieren. Sie zog lieber bei ihren Partnern ein, sobald sie welche hatte, und fühlte sich ansonsten in ihrem Apartment in der
Stadt pudelwohl, das für mich ein beengter Schuhkarton war, worüber Susan sich damals köstlich amüsiert hatte, als ich es so nannte.
Kurz gesagt, ich brauchte Platz zum Leben und um mich zu entfalten, Susan nicht. Deswegen kam sie allgemein zu mir und deshalb würde ich gleich das Gästezimmer lüften und das Bett frisch
beziehen, entschied ich.
»Bring deinen Laptop mit und bleib über Nacht, sofern du Lust und Zeit hast. Wir könnten morgen gemütlich zusammen brunchen«, schlug ich lächelnd vor. »Ich werfe meine Pancakes in die
Waagschale.«
Susan stöhnte. »Wegen dir werde ich fett, aber egal, ich liebe deine lockeren Pancakes. Pack Speck und Rühreier obendrauf und wir kommen ins Geschäft.«
»Einverstanden … Sofern du eine Packung Eier mitbringst«, sagte ich, was Susan wiederholt lachen ließ. »Ich muss morgen einkaufen und Eier stehen auf meiner Liste.«
»Hey, hast du die kommenden Tage irgendwelche wichtigen Terminsachen auf dem Tisch liegen?«
Ich ging in Gedanken kurz meinen Kalender durch. »Nein, wieso?«
»Weil morgen Samstag ist. Lass uns zusammen einkaufen und aus diesem Mädelsabend ein Mädelswochenende machen. Das hatten wir schon ewig nicht mehr und du weißt, wie gut wir zusammen plotten
können. Du kannst mir helfen, Kasimir mit seinem Menschen zu verkuppeln, und ich helfe dir mit dem Geist. Apropos, wie ist der aktuelle Stand?«
»Immer noch einhundert Seiten, ich kam die letzten Wochen nicht wirklich zum Schreiben«, antwortete ich und hatte sofort ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, denn wenn wir an einem Buch arbeiteten,
waren wir ziemlich schnell. Dass ich immer noch bei einhundert Seiten steckte, war ungewöhnlich und würde Susan neugierig machen.
»Ist was passiert?«, fragte sie auch prompt und da sie meine beste Freundin war, würde ich sie nicht anlügen.
»Ich hatte durchsichtigen Besuch, der heute endlich seinen Weg ins Licht gefunden hat. Ein junges Paar, das unerwartet bei einem Autounfall gestorben ist.«
»Wow.« Susan schwieg kurz. »Und? Wie geht’s dir damit?«, wollte sie als nächstes wissen, weil sie wusste, dass ich mich bei dem Thema seit Jahren rar gemacht hatte. Wir mochten uns nur alle paar
Monate treffen und recht unregelmäßig telefonieren, aber wir waren grundsätzlich immer auf dem Laufenden. Wozu gab es schließlich WhatsApp und das Internet? Ich folgte Susan auf ihren Social
Media Kanälen genauso wie sie mir, und ein Bild oder eine kurze Frage, wie es ihr oder mir ging, war schnell geschrieben. Wir hatten beide ein Leben und einen Vollzeitjob, aber wir hatten auch
einander, und das würde sich hoffentlich nicht allzu bald ändern.
»Gut. Es war leichter, als ich dachte.«
Susan seufzte hörbar erleichtert. »Wir machen auf jeden Fall ein Mädelswochenende, damit du mir alles im Detail erzählen kannst. Schreib einen ausführlichen Einkaufszettel, dann fahren wir morgen
für einen Großeinkauf in die Stadt. Wenn ich schon das Wochenende bei dir verbringe, komme ich mit dem Auto.«
Zu so einem Angebot würde ich nicht Nein sagen und mich bei ihr bedanken, indem ich für uns kochte, denn in der Küche zu werkeln, um zu kochen oder zu backen – es gab kaum etwas Schöneres für
mich, sah man mal vom Schreiben ab.
»Einverstanden. Welchen Belag willst du auf der Pizza? Das Übliche?« Was bei Susan vor allem Schinken, Pilze und extra viel Käse beinhaltete, während bei mir noch Salami dazukam.
»Natürlich, und weil ich heute Abend gierig bin, bestellst du mir bitte einmal Chicken Wings mit?«
Ich griff nach Block und Stift. »Die scharfen?«
»Na logisch.«
»Mache ich«, versprach ich und lächelte bei Susans »Perfekt. Dann sehen wir uns in spätestens zwei Stunden. Ich freue mich auf das Wochenende.«, da es mir ebenso ging. »Ich mich auch«, sagte ich
und legte auf, um das Telefon zurück auf die Station zu stellen und danach raus auf die Veranda zu treten.
Die Sonne ging gerade unter und ich liebte die kühle, klare Luft, die Herbstabende so oft mit sich brachte. Zwei Stunden, was hieß, ich hatte genug Zeit, um Sir Henry und Miss Margret zu füttern,
die Pizza vorzubestellen, ein bisschen aufzuräumen, das Gästezimmer für Susan fertigzumachen und hinterher noch für eine Weile spazieren zu gehen. Mal sehen, ob mir dabei die ein oder andere
Szene für mein derzeitiges Geisterbuch einfiel. Und wenn nicht, war das auch kein Beinbruch, denn mit Susan zusammen würde ich bis Sonntag wahrscheinlich den Rest des Buches und zwei weitere, von
denen ich aktuell noch gar nicht wusste, dass ich sie demnächst schreiben würde, von vorne bis hinten durchgeplant haben.
Ich hörte mein Handy piepen, ging wieder ins Haus und ins Arbeitszimmer, wo das Handy wie üblich auf dem Schreibtisch lag, und öffnete WhatsApp. Ein Bild von Susan. Nanu? Ich rief es auf und
starrte verdattert auf einen kotzenden Kürbis für die Halloweenzeit, um im nächsten Moment zu lachen, denn unter das Bild hatte Susan, garniert mit einem grinsenden Smiley, geschrieben: »Wäre der
nicht was für deine Veranda?«
Kapitel 2
Ich würde zu spät kommen.
Wie so oft in den letzten Monaten, sobald Mom mich übers Handy zum Abendessen einlud, denn Anrufe waren schwierig geworden, seit ich die Kanzlei nach dem letzten Streit mit Tom verlassen hatte,
und seither versuchte, mir selbst ein Standbein als Anwalt aufzubauen. Ich war sehr gut in meinem Job und ich hatte einige Klienten von Tom mitgenommen, weil sie mit mir und meiner Arbeit
zufriedener waren, als mit ihm – was auch der Grund für unsere zuletzt andauernden Streitereien gewesen war, denn Tom war zwar ein verdammt guter Anwalt, aber er hatte ein Ego, das ihm viel zu
oft im Weg stand.
Ohne ihn würde ich in Zukunft besser dran sein, auch wenn ich nicht vergessen würde, welche Türen mir die Partnerschaft mit ihm als Berufsanfänger geöffnet hatte.
Allerdings bedeutete allein zu arbeiten leider auch, das man alles allein machen musste – sprich, ich arbeitete derzeit noch in einem gemieteten Büro oder zu Hause, und fuhr quer durch die ganze
Stadt zu meinen Klienten, statt sie zu mir zu bestellen, da mein Büro eindeutig nicht das war, was ich mir vorstellte, wenn es darum ging, den Namen Morgan mit einer Anwaltskanzlei zu verbinden,
der man vertrauen konnte.
Ich brauchte vernünftige Büroräume, eine Sekretärin, einen Buchhalter und eine Putzkraft – mindestens. Und Helfershelfer für die Zuarbeiten, aber die würden leicht zu finden sein, wenn ich erst
mal ein Büro, Visitenkarten und eine Website besaß, da ich auf Toms Netzwerk bereits nicht mehr zugreifen konnte. Er hatte auch meine Seite auf der Homepage bereits gelöscht, was ich ihm nicht
verübeln konnte. Er mochte ein arroganter Idiot sein, der sich für etwas Besseres hielt, aber ich hätte ihn nicht so nennen dürfen. Jedenfalls nicht, solange ich für ihn arbeitete.
Was ich nicht mehr tat.
Und damit mein Leben in ein Chaos verwandelt hatte, denn ich hatte mit meinem Job nicht nur meine berufliche Sicherheit und das feste Standbein verloren, sondern auch Melissa, die der Meinung
gewesen, mit Tom besser dran zu sein, als mit mir, da er ihre Ansprüche großzügiger erfüllen konnte als ich.
Dass ich darüber nachgedacht hatte, sie zu heiraten und mit ihr vielleicht eines Tages eine Familie zu gründen – geschenkt.
Dass sie schon lange fremdging und mein ehemaliger Boss nur einer von vielen war, wie ich mittlerweile wusste – egal. Ich hatte ständig gearbeitet und war mir ihrer zu sicher gewesen, schätze
ich. Außerdem war es nicht meine erste Beziehung, die daran scheiterte, dass ich Frauen offenbar nicht geben konnte, was sie wollten. Ein sicheres Heim, Geld und Kinder. Nicht mal unbedingt in
der Reihenfolge oder vollständig, aber Geld hatten sie alle gewollt und als Anwalt war ich eindeutig ein guter Fang und gleichzeitig zu naiv oder eher treudoof, um nie zu merken, dass sie mich
betrogen, weil ich nie genug Zeit für sie hatte.
Am Ende war die Trennung immer meine Schuld gewesen, und mittlerweile war ich so resigniert, wie ich einsam war, dass ich nicht vorhatte, mich in nächster Zeit wieder auf eine Frau in meinem
Leben einzulassen. Es würde sowieso nicht gutgehen und ich hatte mit den Plänen für meine Kanzlei in der nächsten Zeit genug andere Dinge zu tun.
Außerdem hatte ich vier tolle Mädels – die Töchter meiner Geschwister –, die ich verwöhnen konnte, das musste reichen.
Und ich hatte Mom. Neben meiner verstorbenen Grandma, die einzige immer ehrliche Frau in meinem Leben. Auch wenn ich sie heute wieder einmal enttäuschen musste, denn ich stand jetzt seit fast
einer halben Stunde im Stau und würde es niemals pünktlich zum Abendessen schaffen. Seufzend schaltete ich das Radio aus, griff zum Handy und rief sie an.
»Hey, Mom. Ich bin´s«, sagte ich, als sie meinen Anruf mit einem »Hier bei Morgan.« entgegennahm. Sie lachte leise, was mein schlechtes Gewissen ins Unermessliche steigerte. »Wie ich dich kenne,
ahnst du schon, warum ich anrufe.«
»Ja. Ich höre Nachrichten und der Unfall ist momentan das Hauptthema. Wie lange stehst du schon im Stau?«
»Eine halbe Stunde und es wird wohl mindestens eine wenn nicht sogar zwei Stunden dauern«, antwortete ich und grübelte, ob ich vielleicht irgendwo abbiegen und umdrehen sollte. Doch die üblichen
Ausweichrouten würden genauso dicht sein, also blieb mir im Grunde nur, den Unfall weiträumig zu umfahren oder nach Hause zu fahren. In ein Apartment, in dem bis heute noch Umzugskartons standen,
obwohl ich schon vier Jahre dort wohnte, es aber nie geschafft hatte, alles auszupacken.
Was übrigens ein weiterer Grund für Melissa gewesen war, mir den Laufpass zu geben, denn sie sei sich bei mir zu Hause jedes Mal wie auf einer Baustelle vorgekommen. Unerwünscht, hatte sie es
genannt. Was unsinnig war, aber ich hatte ihr nicht widersprochen, wozu auch? Mit einer Frau, die mich schamlos mit mehreren Kerlen betrog und mir daran die alleinige Schuld zuschob, wollte ich
ohnehin nichts mehr zu tun haben. Gott sei Dank war sie wenigstens so clever gewesen, nicht ungeschützt fremdzugehen. Das hätte mir noch gefehlt, hätte ich mir durch sie eine Geschlechtskrankheit
geholt. Oder ein Kuckuckskind, aber den Versuch, mich mit einer angeblichen Schwangerschaft an sich zu binden, wie es einem meiner früheren Kommilitonen passiert war, hatte Melissa nie
unternommen. Dagegen hätte ich mich auch bis zum Schluss gewehrt.
»Das macht nichts, Schatz. Morgen ist Samstag und ich habe eh ein bisschen mehr Zeit eingeplant. Wenn du kommst, steht ein voller Teller für dich bereit, versprochen. Oh, und hatte ich den
köstlichen Nachtisch erwähnt, den ich vorbereitet habe?«
Ich leckte mir unwillkürlich die Lippen. »Nachtisch?«
»Grandmas Apfelkuchen mit warmer Vanillesoße.«
»Ich werde nicht mehr in meine Hosen passen.«
Mom lachte. »Ich glaube dir fast alles, aber das nicht, Schatz. Und keine Sorge, ich hebe ein großes Stück für dich auf, bevor sich dein Vater ungeniert über den Kuchen hermachen kann.« Dass sie
Dad erwähnte, ließ mich leicht zusammenzucken, und Mom spürte das, wie sie es immer tat. »Irgendwann werdet ihr darüber reden müssen, Brody.«
»Ich weiß«, murmelte ich, denn dass es kein Dauerzustand war, mich von meiner Familie fernzuhalten, nur weil Dad und ich nicht mehr miteinander auskamen, war mir klar.
»Er liebt dich, Schatz.«
»Ach ja?«
»Brody«, tadelte Mom sanft und ich verdrehte die Augen, weil sie recht hatte und ich das wusste. Natürlich liebten meine Eltern mich. Uns alle. Das hatten sie immer getan und würden es auch immer
tun. Mein Problem war nur, dass ich der einzige von uns war, der erstens aussah wie Grandpa und der zweitens denselben Sturkopf wie Dad besaß. Meine drei Brüder und Mia kamen vorrangig nach Mom,
ich hingegen – lassen wir das.
»Er bringt mich ständig auf die Palme.«
Sie gluckste. »Das tust du auch, Brody, glaub es mir. Und im Grunde macht er sich nur Sorgen um dich. Weil du dich kaum noch zu Hause blicken lässt, weil du zu viel arbeitest, weil du es in dich
hineinfrisst, was Melissa – diese falsche Schlange, O-Ton dein Vater – dir angetan hat … Muss ich weiterreden?«
Nein, das musste sie nicht. Ich vermisste es so sehr, daheim mit Dad zu fachsimpeln, wie wir es früher oft zu dritt gemacht hatten, als Grandpa noch bei uns gewesen war.
Aber Grandpa war fort. Für immer.
»Er hat eine komische Art, diese Sorge zu zeigen«, nörgelte ich, als mir prompt unser letzter Streit wegen des Büros einfiel, das ich derzeit gemietet hatte.
Dad hielt es für eine Bruchbude, was es auch war, gar keine Frage. Aber dass ich kein Geld von ihm annehmen wollte, um mir vernünftigere Räume anzumieten, hatte ihn erst so richtig verärgert und
am Ende war ich wutentbrannt aus seinem Büro und dem Haus gestürmt, und hatte seither kaum ein Wort mit ihm gewechselt, geschweige denn, dass ich hier gewesen war. Ich war nicht einmal bei Davids
Geburtstag aufgetaucht, da ich Dad nicht begegnen wollte, sondern hatte mich auf einen Anruf am Abend beschränkt, währenddessen mein kleiner Bruder mir klipp und klar gesagt hatte, dass ich
endlich aufhören sollte, so ein Feigling zu sein und Dad in die Schranken zu weisen.
Jetzt, wo Grandpa nicht mehr da war, um unsere Sturköpfe aneinander zu schlagen, würden wir das in Zukunft eben selbst erledigen müssen, und so sehr ich David recht geben wollte, ich brachte es
einfach nicht über mich, Dad anzuschreien, wenn er wieder anfing, mir Vorwürfe zu machen. Irgendwie verstanden wir uns ständig falsch, zumindest war das mein Eindruck, aber ich war, seit Tom mich
gefeuert hatte, schlichtweg zu müde und zu kaputt, um mich neben der nie enden wollenden Arbeit auch noch darum zu kümmern.
»Kommt dir das nicht irgendwie bekannt vor?«, fragte Mom und lachte, als ich nur schnaubte. »Ihr seid euch so ähnlich und das ist leider auch euer größtes Problem. Alexander konnte mit euren
Sturköpfen wunderbar umgehen, und ich weiß, wie sehr du deinen Großvater vermisst, denn Sebastian geht es nicht viel anders.«
»Es ist so lange her, Mom«, flüsterte ich und schnupperte im nächsten Moment, weil ich plötzlich den Geruch von Grandpas Parfum in der Nase hatte, was eigentlich gar nicht sein konnte, dafür war
er schon viel zu lange tot.
Doch solche Dinge passierten immer wieder, sobald ich an ihn dachte oder an seinem Grab stand und mit ihm sprach. Ich glaubte nicht an Geister oder so was, aber trotzdem standen in meinem
Apartment manchmal Bilder von ihm anders oder der Geruch dieser ekligen Zigarren, die er sich ab und zu gegönnt hatte, lag in der Luft. Einmal hatte ich abends sogar eine Mango neben dem Obstkorb
vorgefunden, die ich selbst kaum aß, aber Grandpa hatte Mangos gemocht. Ich wusste bis heute nicht, wie sie neben dem Obstkorb hatte liegen können, denn am Morgen war sie definitiv noch im
Obstkorb gewesen. Das wusste ich so sicher, weil ich morgens an Grandpa gedacht und eben deshalb die Mango minutenlang angestarrt hatte.
Ich hatte bislang niemandem davon erzählt. Dad würde mir wahrscheinlich erklären, dass ich überarbeitet und überspannt war, meine Brüder und Mia würden ernsthaft über Geister oder
Geistererscheinungen reden und Mom würde lächeln und mir sagen, dass Grandpa mir damit vielleicht eine Botschaft senden wollte. Nichts davon wollte ich hören und ich wollte vor allem den erdigen
Duft nicht mehr in der Nase haben, darum ließ ich das Fenster der Beifahrertür ein Stück herunter.
»Na und? Was heißt das schon? Ihr drei habt immer so eng zusammen gehockt, es war wunderschön anzusehen. Dass euch das fehlt, finde ich völlig normal, und da ist es auch egal, ob es einen Monat
oder zehn Jahre her ist. Alexander fehlt uns allen, Brody, aber dir und deinem Dad fehlt er am meisten.«
Und dem konnte und wollte ich nicht widersprechen, denn es war die Wahrheit. Als Grandma eingeschlafen war, hatte uns das schwer getroffen, aber wir waren damit zurechtgekommen, denn für sie war
der Tod zum Schluss eine Erlösung gewesen. Der Krebs hatte sie besiegt und sie war mit einem Lächeln von uns gegangen. Doch Grandpas Unfalltod vor zehn Jahren hatte unsere Familie völlig
unvorbereitet getroffen und uns auch für einige Zeit auseinandergerissen, weil absolut keiner von uns es hatte fassen können. Grandpa war immer sicher Auto gefahren, auch im hohen Alter noch.
Aber gegen einen betrunkenen Raser war er machtlos gewesen, und als die Polizei an dem Abend vor der Tür stand, um uns zu sagen, dass er tot war, war für mich, für jeden von uns, eine Welt
zusammengebrochen. Doch Mom hatte es mit sehr viel Geduld und Zeit geschafft, Mia und meine Brüder wieder zu vereinen, während ich damals irgendwie auf der Strecke geblieben war.
Das klang furchtbarer, als es im Grunde war, aber es fiel mir seither wirklich nicht leicht, mit Dad auszukommen. Grandpa hatte schon früher immer wieder zwischen uns vermittelt, doch seit er
fort war, gab es diesen Puffer nicht mehr und jedes Mal, wenn ich auf einen meiner seltenen Besuche heimkam, rasselten Dad und ich früher oder später aneinander. Und meistens war es wegen
Nichtigkeiten, wegen derer ich mich im Normalfall niemals aufgeregt hätte.
Deshalb kam ich mittlerweile kaum noch nach Hause, was Dad wiederum auch nicht passte – ergo, noch ein Grund mehr für kindische Streitereien, auf die ich wirklich keine Lust mehr hatte. Nicht
nach Melissa, Tom und überhaupt.
»Wie geht es voran?«, fragte Mom und ich sah auf die lange Wagenreihe vor mir.
»Im Schneckentempo«, antwortete ich und grinste, als Mom leise lachte. Sie war ein durch und durch positiver Mensch und dafür bewunderte ich sie, obwohl sie mir von der Einstellung ruhig etwas
mehr hätte vererben können. Stattdessen war es an David gegangen, unser Küken.
Apropos Küken … »Was macht eigentlich der Junior?«
»Irgendwann verhaut er dich dafür«, erklärte mir Mom und erzählte mir damit keine Neuigkeit, aber ich ärgerte David viel zu gern damit, dass er von uns der Jüngste war, also würde ich freiwillig
sicher nicht damit aufhören.
»Hey, er ist nun mal unser Baby. Also?«
»Er wollte vorhin nicht darüber reden, aber ich glaube, das mit ihm und Samantha hat sich wieder erledigt.« Mom seufzte. »Weißt du, auch wenn ich das als seine Mom nicht sagen sollte, wäre es
vielleicht besser, wenn er mal für eine Weile als Single durchs Leben geht.«
Was sie nicht sagen wollte, war, dass David bei Frauen und Männern genauso viel Glück hatte wie ich. Mein kleiner Bruder mochte beide Geschlechter und liebte das Verliebtsein, aber ich wusste von
keiner Beziehung, die länger als einige Monate am Stück gehalten hätte. Häufig brachte er es nur auf Wochen, was ihn ärgerte, denn David gehörte nicht zu dem Typ Mensch, der gern allein durchs
Leben ging. Und damit hatten wir so einiges gemeinsam. Ich schätze, deswegen hatte ich zu David auch den besten Draht. Nicht, dass ich Mia und die Zwillinge Russell und Noah nicht genauso liebte,
aber mit David hatte ich immer am besten reden können, und das, obwohl mein kleiner Bruder elf Jahre jünger war als ich.
Unser Nesthäkchen, mit dem nach vier gesunden Kindern keiner mehr gerechnet hatte, aber meine Familie hatte sich über Davids Geburt genauso gefreut, wie über jedes ältere Kind, und genauso
freuten sich Mom und Dad jetzt über jeden Enkel, den sie bereits in der Familie hatten begrüßen dürfen. Acht waren es mittlerweile. Zumindest war das mein aktueller Stand.
Andererseits waren meine Geschwister alle sehr kinderlieb, also könnte es durchaus sein, dass bereits ein weiteres Baby auf dem Weg war, von dem ich noch nichts wusste.
»Habe ich eigentlich immer noch vier süße Nichten und vier rotzfreche Neffen?«, fragte ich daher und Mom kicherte albern. »Oh nein, sag nicht, das nächste ist auf dem Weg.«
Jetzt lachte sie. »Nein. Jedenfalls weiß ich nichts davon. Was ich allerdings weiß, ist, dass Russell darüber nachdenkt, seine Jungs zu verkaufen. Vielleicht hat er es letzte Woche auch schon
spontan getan und uns bisher nichts davon erzählt.«
»Was haben die Zwillinge diesmal angestellt?«
Das war eine ziemlich berechtigte Frage, denn Ben und Elias hatten die Ohren voller Flausen. Es verging kein Monat, in dem mein Bruder und seine Frau Emma keinen Anruf erhielten, weil im
Kindergarten wieder etwas zu Bruch gegangen war.
»Ich habe mich nicht getraut zu fragen, um ehrlich zu sein. Da die Jungs nach ihrem Vater kommen, hoffe ich einfach, dass sie nichts in die Luft gejagt haben, so wie er und Noah damals die
Sportmatte der Turnhalle«, antwortete Mom und lachte los, als ich entsetzt aufstöhnte. »Ja, daran erinnere ich mich noch zu gut. Vor allem, weil ich weiß, wer ihnen dabei geholfen hat.«
Oha. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Natürlich nicht«, konterte sie amüsiert und gluckste heiter, als ich es mit einem harmlosen »Ich hab dich lieb?« versuchte. »Ich dich auch, mein Schatz. Fahr vorsichtig, ja? Ich setze gleich die
Kartoffeln auf. Und nein, ich verrate dir nicht, was es zum Abendessen gibt. Du brauchst gar nicht zu fragen.«
»Gemeinheit«, nörgelte ich gespielt und grinste, weil sie mit einem Lachen auflegte, was ich dann ebenfalls tat, um gleich im nächsten Augenblick wieder zu stöhnen, denn trotz des offenen
Fensters, war der penetrante Geruch immer noch da. »Das gibt’s doch nicht«, murrte ich, schloss das Fenster wieder und lehnte mich mit dem Hinterkopf gegen die Kopfstütze, denn der Stau schien
sich nicht allzu bald auflösen zu wollen.
Kurz darauf piepte mein Handy.
Mom hatte mir ein Bild geschickt und als ich es betrachtete, musste ich tief durchatmen, denn der Anblick, wie Dad auf der Terrasse saß, mit Emily in den Armen, bescherte mir eine dicke
Gänsehaut. Er lächelte auf das Baby hinunter, unübersehbar bis über beide Ohren in Noahs neun Monate alte Tochter verliebt, und ich kannte alte Familienfotos, die Mom wie einen äußerst kostbaren
Schatz hütete, auf denen er genauso dasaß, und zwar mit mir auf dem Arm.
Unter dem Bild erschien ein Satz. Genau so hat er gelächelt, als du auf die Welt kamst.
Ich antwortete nicht darauf, weil ich nicht wusste, was ich hätte sagen können. Stattdessen sah ich neben mich, denn der Geruch war immer noch da, wenn auch schwächer. »Du fehlst mir, Grandpa«,
murmelte ich in die Stille meines Wagens hinein und schaltete dann das Autoradio wieder ein, um Nachrichten zu hören, in der Hoffnung, dass bald jemand das Auflösen des Staus verkündete. »Warum
musstest du an diesem Abend auch unbedingt noch mal los?«, warf ich ihm vor, was Blödsinn war, denn seine Besuche bei Grandma waren ihm heilig gewesen, und er hatte keinen ausgelassen. Trotzdem.
»Sie hätte auch bis zum nächsten Tag warten können, aber nein, du warst stur und musstest fahren. Obwohl es dunkel und spät war, und jetzt bist du tot und ich …« fühle mich so allein ohne
dich.
Dabei war ich nicht allein. Im Gegenteil. Ich hatte Freunde, einen Job, den ich liebte, auch wenn er mir derzeit wirklich alles abverlangte, und ich hatte eine großartige Familie. Doch nichts
davon konnte das Loch in meinem Herzen füllen, dass Grandpa hinterlassen hatte, und wäre ich zu Hause gewesen und nicht auf dem Weg zu meinen Eltern, hätte ich mir jetzt ein paar Bier gegönnt und
mich in den Schlaf geweint.
Zu Hause erlaubte ich mir das, denn dort sah mich niemand und konnte darüber die Nase rümpfen, weil echte Männer nun mal nicht weinten. Oder er konnte einen von diesen ach so klug daherkommenden
Sprüchen loslassen, dass Zeit Wunden heilte, was sie nicht tat. Oder sie tat es nur bei mir nicht, denn für mich war es immer noch so, als wäre Grandpa erst gestern gestorben, und in letzter Zeit
fragte ich mich immer häufiger, ob ich mich für den Rest meines Lebens wohl derart verloren fühlen würde. Keine sehr erhebende Vorstellung, um ehrlich zu sein, aber ich wusste absolut nicht, was
ich dagegen hätte tun können.
Dass der Geruch seines Parfums auf einmal wieder stärker wurde, machte es nicht besser. Im Gegenteil. »Wieso kannst du nicht einfach aus meinem Leben verschwinden?«
»Willst du das wirklich, mein Junge?«
Einbildung.
Seine Stimme war reine Einbildung.
Genauso wie der spöttisch-liebevolle Tonfall, den ich so sehr vermisste. Vielleicht sollte ich anfangen, wirklich ernsthaft über eine Therapie oder eine Trauerbegleitung nachzudenken, denn
scheinbar brauchte ich professionelle Hilfe, um mit Grandpas Tod fertigzuwerden.
»Du brauchst nur endlich jemanden, der dir wirklich zuhört, der für dich da ist, der dich liebt und den du lieben kannst.«
Ich schaute neben mich und erstarrte, denn da saß er. Nein, nicht er, sondern nur eine Art Trugbild. Durchsichtig und kaum zu erkennen, aber er war es. Und er zwinkerte mir zu, bevor er sich
sprichwörtlich in Luft auflöste. Okay, jetzt war es amtlich, ich verlor den Verstand.
»So pragmatisch. Ganz wie dein Vater. Ich liebe dich so sehr, mein Junge. Und glaub mir, ihr fehlt mir auch.«
Ich griff erneut zum Handy, denn ich würde ersticken, wenn ich nicht endlich mit jemandem über Grandpa redete, und wer, wenn nicht Sean Meyers, der sein Jurastudium hingeschmissen hatte, um als
Geisterjäger durch die ganze Welt zu tingeln, war für dieses Gespräch wohl am perfektesten geeignet?
»Hast du eine Ahnung, wie spät es ist, Morgan?«
Ich sah unwillkürlich zur Uhr am Radio. »Bei mir kurz nach sechs Uhr abends, aber bei dir? Keine Ahnung.«
Das kam darauf an, wo er sich aktuell herumtrieb, und weil sich das bei ihm durchaus von Tag zu Tag änderte, konnte ich nur raten und das ersparte ich uns lieber. Es war ohnehin nicht wichtig,
denn wir waren immer für den anderen da, sobald wir gebraucht wurden, ganz egal, auf welchem Kontinent Sean sich aufhielt oder um welche Zeit er mich oder ich ihn anrief.
Sean, der das Zeug gehabt hatte, einer der besten Anwälte der Stadt zu werden, stöhnte resigniert auf und ich lachte leise, während es bei ihm im Hintergrund raschelte, dicht gefolgt von einem
geflüsterten »Schlaf weiter, Süßer.«, das mich die Augen verdrehen ließ. Ich würde nicht fragen, mit wem er sich die Zeit vertrieb, ich war froh, dass er es nicht mehr mit David tat, denn die
zwei waren das schlechteste Paar aller Zeiten gewesen. Mit der locker-leichten Freundschaft, die sie heute pflegten, kamen sie weitaus besser zurecht, Gott sei Dank.
»Okay, ich bin wach. So einigermaßen. Was willst du?«
»Deinen unvoreingenommenen Rat.«
Ich hörte ihn gähnen und sah ihn förmlich vor mir, wie er in einer alten Boxershorts in einer fremden Wohnung oder einem Hotelzimmer irgendwo auf der Welt am Fenster stand und sich am Bauch
kratzte. Sean hatte sich nie darum gekümmert, wie er auf andere wirkte oder was man von ihm erwartete. Deswegen wäre er als Anwalt nicht glücklich geworden und hatte das früh genug erkannt, um
rechzeitig gegensteuern zu können. Unserer Freundschaft hatte das nie geschadet, der Beziehung zu seinen Eltern allerdings schon, denn die hatten ihm damals umgehend den Geldhahn zugedreht und
ihn enterbt.
Sean hatte es schulterzuckend hingenommen, weil sich das Verhältnis zu seinen Eltern schon Jahre zuvor abgekühlt hatte, und sein Geld in eine gute Ausrüstung investiert, um sich einen Ruf als
Geisterjäger zu machen. Darin war er heute verdammt erfolgreich und wurde praktisch auf der Welt von verzweifelten Menschen engagiert, die Geister im Haus oder andere seltsame Vorfälle erlebt
hatten.
»Thema?«
»Geister.«
Sean schwieg kurz. »Ernsthaft?«, fragte er und das nahm ich ihm nicht übel. Wir waren langjährige Freunde und wir hatten einander immer die Wahrheit gesagt. Aus dem Grund hatte ich ihn damals
auch für verrückt erklärt, eine so vielversprechende Karriere in den Wind zu schießen, um Geister zu jagen. Für ihn war es aber das Richtige gewesen und das akzeptierte ich, denn es war sein
Leben, ergo, ging es nur ihn etwas an, was er daraus machte. Und wenn er lieber Geister jagen, erforschen oder sonst was wollte – Hauptsache, er war glücklich dabei.
»Ja«, antwortete ich leise und rieb mir die Nase, denn er war immer noch da – dieser Duft. »Ich sitze im Moment im Stau auf dem Weg zu meinen Eltern zum Abendessen und habe gerade mit meinem
durchsichtigen und toten Großvater neben mir auf dem Beifahrersitz gesprochen. Oder besser gesagt, Grandpa hat mit mir geredet, während ich mich fassungslos gefragt habe, ob ich jetzt
durchdrehe.«
»Ja, das passt zu dir«, kommentierte Sean trocken, wofür ich ihm dankbar war, denn ein schmerzhaft ehrlicher Sean war mir immer lieber als ein herumschleichen um ein Thema, mit dem ich nicht viel
am Hut hatte.
»Und? Drehe ich durch?«, fragte ich daher und sah mich in Gedanken schon auf der Couch eines Seelenklempners liegen.
»Nein, Brody, du drehst nicht durch. Du trauerst. Und ich schätze, du fängst jetzt endlich mal damit an, deine tiefe Trauer um Alexander zuzulassen. Das hast du nämlich bisher tunlichst
vermieden.«
Er hatte recht und das tat weh. »Sean ...«
»Nein, warte … Du bist clever, ein verdammt guter Anwalt, siehst super aus und du bist dermaßen pragmatisch, dass mich nicht im Geringsten überrascht, dass du dir diese Frage stellst. Menschen,
die Erscheinungen jeder Art offen gegenüberstehen, wären glücklich, auf diese Weise noch einmal Abschied nehmen zu können, und wenn du mich nach meinem Rat fragst, was du jetzt tun sollst, sage
ich dir, genieße es. Zweifle nicht an deinem Verstand, wenn Alexander noch mal bei dir auftaucht oder du seine Stimme hörst. Rede lieber mit ihm. Vielleicht hat er ja ein paar schlaue Antworten
für dich.«
»Ich brauche keine schlauen Antworten von einem Toten.«
Die Abwehr war der reine Instinkt und ich konnte Grandpa lachen hören. Noch eine Einbildung meinerseits, denn wäre es nicht so, dann – ja, was dann?
»Oh doch, das tust du. Genau wie dein Vater, und ich hoffe, dass Alexander ihm ebenfalls auf die Nerven geht.«
Ich seufzte leise. »Nicht du auch noch.«
Sean gluckste. »Vergiss es. Ich bin nicht dafür zuständig, dir zu sagen, was du hören willst. Dafür gibt’s Arschkriecher. Und bevor du fragst, David macht sich Sorgen um dich.«
Das tat offensichtlich jeder in meiner Familie, nur der, von dem ich mir ein entsprechendes Wort in der Richtung erhoffte, von dem kam nichts.
»Ihr telefoniert immer noch einmal die Woche?«, fragte ich, denn David und Sean mochten zwar ihre Beziehung vermasselt haben, aber ihre Freundschaft, und darauf hätte ich sogar mein bestes Hemd
gesetzt, würde halten, bis sie alt und grau waren.
»Ja. Er hat gestern angerufen. Sturzbetrunken, weil er seine jetzt Ex-Freundin mit einem anderen Kerl erwischt hat.«
Ich sog harsch die Luft ein. Also hatte Mom mal wieder den richtigen Riecher bewiesen. »Scheiße.«
»Wem sagst du das«, stimmte Sean mir mit einem Seufzen zu. »Und da ich momentan nicht im Land bin, übergebe ich den Job, nach ihm zu schauen, hiermit an dich, verstanden?«
Und das war ein Job, den ich so schnell wie irgend möglich und auch sehr gerne erfüllte. »Ich gebe dir Bescheid, sobald ich bei ihm war. Nachher wird das nichts, wenn alle da sind.«
»Verstehe. Und sonst? Was gibt’s Neues bei dir?«
Mein Zögern, was ich ihm sagen wollte und was nicht, hielt keine fünf Sekunden an, und dann erzählte ich ihm von meiner Kündigung, den Grund dafür und von Melissa. Sean hörte zu, bis mir die
Worte ausgingen, und dann fluchte er lästerlich, was mich nicken ließ, und noch während ich das tat, fuhr das Auto vor mir plötzlich – oder sollte ich besser sagen endlich – an und nahm den
Geruch von Grandpas Parfum mit sich.