Erobert: Diamond Heart


Leseprobe

(Achtung: unkorrigierte Leseprobe)


Prolog
Logan

Juni 2024

Die Tür ist mit vier Schlössern gesichert.

Alle sind aufgebrochen.

Neben mir knirscht Trey, der mich bereits seit Jahren bei den Einsätzen begleitet, verärgert mit den Zähnen, denn wir wissen aus langjähriger Erfahrung leider nur zu gut, was es bedeutet, vor einer mit Gewalt geöffneten Tür zu stehen.

Wir sind zu spät.

Wieder einmal.

Doch dieses Mal werden wir nicht mit leeren Händen nach Hause fliegen, denn wir haben zwei von den Dreckskerlen oben im Haus erwischt, bevor sie die Festplatten zerstören konnten.

Ein Wimmern hinter der Tür lässt uns erstarren.

»Oh Gott«, flüstert Max rechts von mir und senkt die Waffe ein Stück, bis ich ihn ansehe und den Kopf schüttle.

Wir hatten solche Vorfälle mehr als einmal – das kann eine Falle sein. Sie benutzen die Kinder häufig und skrupellos dafür, den eigenen Hintern zu retten, deshalb darf niemand jetzt den Kopf verlieren, egal, was wir in diesem Keller finden.

Als ich die Hand ausstrecke, um die Tür zu öffnen, legt Trey eine Hand auf meine Schulter. »Nein. Du bist unser Gesicht. Du darfst nicht sterben. Ich gehe zuerst.«

Herrgott. Jetzt bin ich derjenige, der vor lauter Wut mit den Zähnen knirscht, aber er hat recht. Ich bin das Gesicht unserer Organisation, die sich nach außen hin so harmlos gibt, als wäre sie eine Vereinigung von Engeln. Und genau das sind die vielen Helfer in aller Welt auch, die sich um die Kinder kümmern, die wir retten können. Aber ich bin mehr als nur der Mann mit dem tollen Lächeln und dem Charme, mit dem ich schon seit Jahren das nötige Geld besorge, das wir brauchen, um die hochgradig illegalen Operationen weltweit zu finanzieren.

Oder um die Cops und die hiesigen Behörden zu bestechen, um zu verhindern, dass sie uns bei unseren Einsätzen und der Ein- und Ausreise Steine in den Weg legen.

Kinder zu retten, die keine Lobby haben, kostet eine Menge Geld, und es gibt genug Leute, die bereit sind, es mir zu geben. Ob freiwillig, weil sie gute Menschen sind, oder weil ich sie mit Ausflügen in Sexclubs, wo sie sich danebenbenommen habe, erpresse – wen interessiert das schon?

Das Geld muss fließen und dafür werde ich sorgen, so lange ich lebe.

***

Zwölf Stunden später

Wir haben die lebend aus dem Keller geretteten Mädchen, sieben und neun Jahre alt, in die Obhut unserer Engel gegeben, die dafür sorgen werden, dass die Kinder alles bekommen, was sie brauchen, bis sie eines Tages hoffentlich wieder in der Lage sein werden, ein normales Leben zu führen.

So normal, wie ein Leben sein kann, wenn man jahrelang als Sexsklave verkauft worden ist.

Aber zumindest haben sie dank uns jetzt eine echte Chance, und das ist mehr, als die meisten von ihnen jemals bekommen werden. Vielleicht haben diese Mädchen sogar das Glück, dass unsere Engel ihre Familien finden. Meistens gibt es keine, doch es kommt durchaus vor, dass irgendwo Eltern oder Großeltern leben, die ihre Kinder oder Enkel vermissen.

Die Männer, die mich damals retteten, hatten dieses Glück, denn meine Eltern haben jahrelang sprichwörtlich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um mich zu finden.

Daraus entstand eine Organisation, von der offiziell keiner weiß, während inoffiziell Polizisten, Staatsanwälte, Richter und sogar ein paar Senatoren regelmäßig an unsere Türen klopfen, wenn es darum geht, entführte und in die Sklaverei verkaufte Kinder zu retten, ohne Aufsehen zu erregen.

Wen interessiert ein niedergebranntes Haus in einem Land, in dem Korruption mehr wert ist als ein Kind? Wer stört sich an Verbrechern, die mit zielgenauen Schüssen zwischen die Augen oder ins Herz hingerichtet werden?

Richtig, niemand.

Ob Afrika, Südamerika, Asien, Europa, Russland, selbst hier in den USA wurden wir schon viel zu oft fündig – es gibt ihn einfach überall, den massenhaften Missbrauch an Kindern. Und viel zu oft schaut niemand hin, im Gegenteil.

Darum gibt es mich und all jene Frauen und Männer, die an meiner Seite für die Rechte der Opfer kämpfen.

Darum gibt es unsere Organisation.

»Logan!«

Und es gibt die zwei Menschen, die mir alles bedeuten und die ich über alles liebe. Ich lächle unwillkürlich, denn sie warten fast immer auf mich, sobald ich nach einem Einsatz wieder aus dem Flugzeug steige, aber immerhin geduldet sie sich heute, bis ich von der Treppe der schlanken Gulfstream runter bin, ehe ich in einer dezenten Wolke ihres blumig-fruchtigen Parfums verschwinde, das mein Vater ihr seit Jahren regelmäßig schenkt, weil meine Mutter total verrückt danach ist, während sie mich fest umarmt.

»Es geht dir gut.«

»Natürlich. Max und Trey würden nicht zulassen, dass mir auch nur ein Haar gekrümmt wird.«

Mom lacht leise, löst sich von mir und schaut mich an. »Was ihr Glück ist, ich würde sie ungeniert übers Knie legen.«

Dass besagte Männer, zwei raue, massige Kerle, ehemalige Marines in Spezialeinheiten und in unzähligen Kriegen geformt und kampferprobt, dicht hinter mir stehen und jetzt resigniert aufstöhnen, bringt meine Mom zum Lachen, bevor sie zu ihnen geht, denn auch sie werden bei jeder Heimkehr – ob sie wollen oder nicht – umarmt und Willkommen geheißen, während ich bereits zu Dad aufschließe, der mit einem belustigten Blick ein paar Meter weiter wartet.

»Zwei gerettete Mädchen, Logan. Das ist …«

Er bricht ab und mir ist klar, warum, denn es ist wunderbar, aber zugleich nicht genug. Es gibt so viele von ihnen und selbst mit noch mehr Geld und noch mehr Leuten – wir werden nie alle retten können.

»Die zwei Männer?«, fragt er leise, denn manchmal bringen wir Täter mit, um sie den hiesigen Behörden zu ergeben.

Allerdings machen wir uns diese Arbeit nur, wenn sie gute Informationen, Namen oder sonst etwas Wichtiges anzubieten haben, und die Kerle im Haus waren bloß kleine Handlanger, die vor dem Missbrauch von Kindern ihre Augen verschlossen haben und dafür gut bezahlt wurden. Dass beide selbst Väter von Töchtern waren – ohne Worte.

»Sie haben Kinder.«

Mein Vater nickt nur, denn er weiß, was ich will. Die Kinder dieser Männer können nichts für ihre Väter, darum werden wir den Familien das Geld nicht nehmen, das ihre Väter mit ihrem Schweigen verdient haben, in der Hoffnung, dass ihre Töchter und Söhne eines Tages ein ehrliches und vor allem ein besseres Leben führen werden.

»Die Festplatten?«, will ich wissen und nehme Haltung an, wie ich das häufig tue, dabei bin ich kein Soldat mehr und er ist und war nie mein Vorgesetzter.

»Werden auseinandergenommen, sobald sie in der Zentrale sind. Wir verfolgen die Spur des Geldes und werden jeden Cent abzweigen, dessen wir habhaft werden können, so wie immer. Die Dreckschweine sollen nicht glauben, sich mit dem Geld ein schönes Leben machen zu können.«

Noch ein Punkt auf der Liste der Illegalität, denn wir haben Hacker in unserer Organisation, die das Geld klauen, das diese Kinderhändler verdienen, um es auf zig Konten in aller Welt zu verteilen, damit wir bei unseren Einsätzen immer flüssig genug sind, um Leute zu bestechen, Waffen zu kaufen oder einfach ein Sandwich mit Käse, weil ein gerettetes Kind es sich wünscht.

»Das habt ihr sehr gut gemacht.«

Ich brauche das Lob nicht, aber ich werde ihm wohl niemals abgewöhnen, es zu sagen. Meinem Vater sind solche Dinge sehr wichtig, und ginge es nach ihm, hätte ich die kleine Gulfstream, die wir für unsere Einsätze nutzen, niemals betreten. Aber das ist ein Thema, das bei uns nicht mehr zur Sprache kommt, weil er weiß, dass ich nicht aufhören werde, Kinder zu retten, so wie ich weiß, dass er und Mom nicht aufhören werden, Angst um mich zu haben.

»Logan, wir haben schlechte Nachrichten«, sagt mein Vater auf einmal und sein Blick ist so ernst, dass er mir automatisch eine dicke Gänsehaut beschert.

»Die Angels ...«

»Nein«, unterbricht er mich sofort. »Es geht nicht um unsere Organisation.« Er atmet tief durch, dann strafft er die Schultern. »Es gab einen Anschlag auf Said und seinen Partner … Hakim wurde verletzt.«

Nein! Das darf nicht sein.

»Wie schwer?«, frage ich kaum hörbar und dass mein Vater sich erst mal räuspern muss, ist ein schlechtes Zeichen. »Dad?«

»Sie wissen nicht, ob er die Nacht übersteht.«

Oh mein Gott – Nein, nein, nein!


Kapitel 1
Logan

Februar 2025

Ich werde zu spät kommen.

Wie so oft, wenn ich recherchiere, trainiere oder sonst etwas für unsere Organisation erledige und dabei leider gerne mal die Zeit vergesse. Aber was wir tun, ist einfach zu wichtig, als dass ich die Arbeit daran jemals schleifen lassen kann, denn auf uns verlassen sich zu viele Menschen, allen voran die unschuldigen, jungen Opfer, die wir retten, und ihre Angehörigen, die uns um Hilfe bitten, nachdem sie einen anonymen Hinweis bekommen haben, wer dazu in der Lage ist, ihr Kind aus den Fängen seiner skrupellosen Entführer zu reißen.

Entführer, die sich nicht scheuen, einer glücklichen Mutter mitten auf einem vollen Wochenmarkt das Kind zu stehlen, um es für eine Menge Geld an Menschenhändler zu verkaufen, und was diesem Kind danach blüht, kann sich ein normaler Mensch nicht mal in seinen schlimmsten Albträumen vorstellen.

Manche haben Glück und werden »nur« adoptiert. Blonde, blauäugige und hellhäutige Kinder sind auf dem freien Markt ein Vermögen wert, und vor allem reiche Paare in aller Herren Länder zahlen zum Teil horrende Summen für eine Adoption. Je jünger, desto besser für das Kind, und oft wissen die neuen Eltern nicht mal, dass ihr »Baby« der leiblichen Mutter förmlich aus den liebenden Armen gerissen wurde.

Weniger Glück haben die älteren Kinder. Jene, mit dunklen Augen und Haaren, wobei in den letzten Jahren vermehrt auch eine dunklere Hautfarbe dazukommt, denn Kinder in ärmeren Ländern lassen sich leicht entführen. Vor allem Mädchen. Man verspricht ihnen eine Modelkarriere, lädt sie zu Fotoshootings in ein Hotel ein, und während ihre Eltern naiv und gleichzeitig glücklich über diese ach so tolle Chance für ihr Kind irgendwo vor dem Hotel warten, bringt man die Kinder mit einem neuen Versprechen für Fotos am Strand zur Hintertür raus, lädt sie in einen weißen, unscheinbaren Van und verschwindet mit ihnen ins Nirgendwo.

Woher ich das so genau weiß?

Wir haben mehr als einmal dabei zugesehen und uns an den Van gehängt, in der Hoffnung, an die Drahtzieher zu kommen. Es klappt nicht immer, weil die Hintermänner nicht so dumm sind wie die Leute vor Ort, mit denen sie arbeiten.

Aber solange wir wenigstens die Kinder retten können, ist nicht ein Einsatz für mich umsonst, und das gilt auch für den letzten, der der Grund ist, warum ich gerade eine rote Ampel überfahre, da die Kreuzung leer ist, mir der Magen knurrt und meine Familie sich Sorgen machen wird, wenn ich nicht bald auftauche. Wir hatten wegen eines Unwetters Verspätung und ich habe schlicht vergessen, auf dem Rückflug mein Handy zu laden, weshalb jetzt der Akku leer ist.

Mittlerweile hängt es in der Ablage vor mir am Strom, aber ich bin fast zu Hause, darum spare ich mir, bei meinen Eltern anzurufen und ihnen zu erzählen, dass ich lebe und es mir gut geht. Sie werden es ja gleich sehen und sich dann alles Weitere für morgen aufsparen, denn wenn meine Brüder dabei sind, ist unsere Organisation selten ein Thema, weil die Zwillinge nicht darin involviert sind und das werden sie auch nie.

Angels Wings

In Anlehnung an die unzähligen Helfer – unsere Engel, wie Mom sie nennt –, die zur Stelle sind, sobald ein Opfer gerettet und in Sicherheit ist.

Abseits der Illegalität steht Angels Wings für unverzichtbare Arbeit mit Kindern jeden Alters im Bereich Prävention, und für die unzähligen Schecks, die wir für Kinderheime, Nachhilfe, Sportangebote, Stipendien und so weiter ausstellen. Es gibt sehr viele Spender, die sich gern damit rühmen, uns zu unterstützen, und ich ziehe sie gerne dafür vor Kameras, denn das macht es den Leuten schwerer, die mich am liebsten tot sehen würden.

Ich bin zu bekannt und es würde zu viel Aufsehen erregen, mich zu ermorden, so wie es Said andauernd blüht, aber ich bin deswegen noch lange nicht naiv. Mir ist klar, dass eine Menge Leute noch mehr dafür geben würden, wenn ich von Bildfläche verschwinde, statt ihnen ständig auf die sprichwörtlichen Füße zu treten, indem ich ihre Geschäfte störe.

Menschenhandel ist heutzutage genauso lukrativ, wie es die Kriege in aller Welt sind, deshalb haben wir auch so viele davon – obwohl das offiziell kaum jemand zugeben will.

Mom hat das Licht am Tor für mich angelassen.

Lächelnd entriegle ich mit dem Handy die Alarmanlage und öffne das Tor, um auf das Grundstück zu fahren, wo ich warte, bis das Tor hinter mir wieder geschlossen und verriegelt ist. Ich weiß, dass sie von so viel Schutz nicht begeistert ist, aber in der Hinsicht war Dad Gott sei Dank immer meiner Meinung. Ich könnte keine Nacht ruhig schlafen, wüsste ich nicht, dass meine Eltern und meine Brüder so gut es geht geschützt sind.

Um mich selbst mache ich mir da weniger Sorgen, denn ich kann kämpfen. Ich kann keine Kugel aus einer Waffe abhalten, wie Hakim es versucht hat, aber wenn jemand einen Attentäter auf mich hetzen sollte, der nicht aus der Entfernung töten soll, wird derjenige sein blaues Wunder erleben.

Ich war nicht aus Langeweile in der Armee.

Und ich habe auch nicht aus Langeweile studiert.

Im Gegenteil, ich habe ganz bewusst alle Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen, bevor ich mich dazu entschied, das öffentliche Gesicht von Angels Wings zu werden, und das ist mit ein Grund dafür, wieso ich es bislang tunlichst vermieden habe, denselben Weg zu gehen wie meine Eltern.

Und wie es in ein paar Jahren wohl auch meine Brüder tun werden, sobald sie sich in Frauen oder auch Männer verlieben, sie heiraten, gemeinsam ein Haus kaufen und mit ihnen ein bis drei Kinder in die Welt setzen. Das ist ein Weg, der mir niemals offenstehen wird. Oder anders ausgedrückt, ich habe ihn selbst für mich aus meinen Zukunftsplänen gestrichen.

Nun ja, zumindest war das bis letztem Sommer so, denn seit Hakim fast getötet worden ist – egal.

Davor hat es Spaß gemacht, ihn bei den Auktionen in Danes Haus immer mal wieder die Ecke zu treiben, ihn zu triezen und in mein Bett einzuladen, obwohl mir von Anfang an klar war, dass er, wie ich ebenfalls, kein Mann ist, der unten liegt. Darum habe ich mir auch nie Gedanken darüber gemacht, dass er eines meiner Angebote jemals ernst nehmen könnte – höchstens, um mir eine Tracht Prügel zu verpassen, die ich so einige Male mit Sicherheit verdient gehabt hätte.

Doch seit ich ins Krankenhaus gerast bin, um zu erfahren, ob er noch lebt, hat sich alles verändert.

In vielerlei Hinsicht sogar, denn ich war darauf vorbereitet, mir im schlimmsten Fall meinen Weg zu Hakim vorkämpfen zu müssen – ganz gleich, welche Konsequenzen das für mich und meine Familie gehabt hätte. Ich konnte an dem Tag nicht klar denken, weil ich Hakim liebe und das erst begriffen habe, als es fast zu spät war. Und das hat Said mir angesehen, auch wenn er bisher nie ein Wort dazu hat verlauten lassen. Stattdessen hat er mir freien Zugang zu Hakim gewehrt, und den habe ich immer noch. Mit allen Vor- und Nachteilen, sollte ich wohl dazu sagen, denn mir hätte gereicht, Kontakt zu Hakim zu bekommen.

Aber das hat Said nicht gereicht.

Es hat auch seinen sturen Eltern nicht gereicht, geschweige denn Michael Summers und vor allem nicht Hakims Eltern, die sich regelmäßig nach meinem Befinden erkundigen, sich sonst aber erstaunlich zurückhalten. Andererseits haben sie mit dem teils unmöglichen Verhalten ihres Sohnes genug zu tun, und es wird sich bald zeigen, ob Saids und Michaels Plan uns nicht alle in Teufels Küche bringen wird. Wahlweise auch unter die Erde, bei Hakim kann man nie wissen.

»Vielleicht würde es helfen, ihn kopfüber in eine sehr hohe Schneewehe zu stopfen.«

Ich halte im Eingangsbereich verdutzt inne, als ich Damians Stimme in der Küche höre. Nanu? Auf wen ist er denn wütend?  Habe ich zuletzt irgendwas angestellt? Ich wüsste nicht, wann, aber ganz auszuschließen ist es nicht. Grinsend schließe ich mit Bedacht die Haustür, ziehe Schuhe und Mantel aus und schiebe meinen Autoschlüssel in eine Manteltasche, bevor ich mich auf Socken zur Küchentür schleiche, um zu lauschen.

»Damian ...«, höre ich Mom seufzen.

»Was? Logan mag solche Spielchen doch und er ist echt gut darin, habe ich mir sagen lassen.«

»Ach ja? Und von wem hast du dir das sagen lassen?«, fragt unsere Mom hinterlistig, und auf die Antwort bin ich jetzt sehr gespannt, denn Damian hat zwar eine große Klappe, ist aber im Herzen ein noch viel größerer Softie.

»Uhm … Ich verweigere die Aussage.«

Genau so habe ich mir das gedacht, denn mein Sexleben ist zwar in meiner Familie kein Geheimnis, aber es ist auch nichts, das wir beim Abendessen besprechen. Dafür ist es ihnen viel zu speziell, was mich wiederum nur die Schultern zucken lässt. Ich bin eben, wie ich bin, und es kann ja nicht jeder auf harmlosen Blümchensex abfahren.

Hakim tut das ganz sicher nicht, ich habe Geschichten über ihn gehört, von denen einige mit Sicherheit wahr sind. Obwohl auch bei Danes Auktionen viel und gern übertrieben wird, dass er mit Said einen Dreier hatte und seine Partner wohl gerne auf die Matte legt und dort fixiert – sagen wir es mal so, ich habe es einmal zu oft gehört, als dass ich es noch für Gerüchte halte.

»Wir sind hier nicht vor Gericht, also werden hier garantiert keine Aussagen verweigert.«

»Mom«, nörgelt Damian und ich gebe leise lachend meinen Horchposten an der Tür auf, um zu meinen Eltern und meinen Brüdern in die Küche zu treten. Damian entdeckt mich zuerst und greift sich mit einer theatralischen Geste an die Kehle, was mich den Kopf schütteln lässt, da er das 'Rette mich.' gar nicht aussprechen muss, um mir klar zu machen, was er von mir will. Aber da kann er lange warten.

»Vergiss es, kleiner Bruder. Du bist ja wohl längst alt genug, um Mom die Stirn zu bieten.«

»Verräter«, mault er halbherzig, als ich bei ihm bin und ihn in eine feste Umarmung ziehe. »Schön, dich zu sehen. Obwohl du schon wieder zu spät bist. Konntest du dich nicht von einem deiner heißen Kerle losreißen?«

Meine Brüder wissen nicht, wo ich die letzten drei Tage war, und dabei darf es auch bleiben, deswegen lasse ich mich auf die alberne Neckerei nur zu gerne ein. Soll Damian ruhig glauben, dass ich gerade aus dem Bett eines meiner Liebhaber geklettert bin, von denen ich angeblich meistens mehrere zur selben Zeit habe. Keine Ahnung, wer das Gerücht ursprünglich in die Welt gesetzt hat, aber da es sich als recht nützlich herausgestellt hat, um mir jene Männer und auch Frauen vom Hals zu halten, die ernsthaft an mir interessiert sein könnten, habe ich nie etwas dagegen gesagt, im Gegenteil.

Wobei ich mir insgeheim recht sicher bin, dass es, abgesehen von Hakim vielleicht, niemanden gibt, der wirklich an mir als Mensch interessiert ist. Ich sehe gut aus und bin auch finanziell gesehen eine ziemlich gute Partie – kurz gesagt, ich kenne den Wert meiner Person auf dem Heiratsmarkt genauso wie es viele andere Menschen tun.

Darum gehe ich ja auch so gerne in Danes Club. Dort kostet mich Sex zwar weit mehr als mit Escorts oder wenn ich mir im nächsten Schwulenclub jemanden aufreißen würde, aber das ist es mir wert, denn es gibt keinerlei Verwicklungen romantischer Natur, weil es von Anfang an nur um Sex und Geld geht.

Trey und Max halten es genauso – zumindest soweit ich bei den beiden dahingehend auf dem Laufenden bin, denn auch sie haben das Recht auf ein Privatleben, und was sie mit dem Geld machen, das sie für ihre Arbeit für unsere Angels bekommen, geht mich nichts an. Sie fragen mich schließlich auch nicht, was ich damit anstelle. Sie fragen nicht mal, wo das Geld herkommt, das ich ihnen bezahle, und das ist auch gut so, denn wir agieren nun mal am Rande der Legalität und das beinhaltet auch, dass das »Gehalt« all der Männer und Frauen, die für uns arbeiten – mein eigenes inklusive – von jenem Geld bezahlt wird, das wir den Menschenhändlern und ihren Kunden abnehmen.

»Welche heißen Kerle?«, beantworte ich Damians spöttische Frage amüsiert. »Du weißt doch, ich lebe keusch und werde erst Sex haben, wenn ich verheiratet bin«, erkläre ich ihm hinterher völlig ernst, was Damian zum Lachen bringt, während ich Mom anblinzle, als sie seufzt, dabei aber grinst und mir im nächsten Moment einen Löffel hinhält, damit ich das, was sie da gerade kocht und was köstlich duftet, probiere. »Lecker. Was immer es auch ist. Noch ein bisschen Salz bitte.«

Sie lacht. »Du kennst mich doch. Kühlschrank auf, alles, was weg muss, in einen großen Topf, und danach warte ich ab, was am Ende dabei rauskommt. Was heute ein buntes Mischmasch von Gemüse, Hackbällchen und Reis sein wird.« Sie deutet mit dem Löffel auf Damian. »Den Reis wollte der Kerl da übrigens längst gekocht haben, aber dein nicht vorhandenes Sexleben ist natürlich viel interessanter als unser geplantes Abendessen. Wir werden also heute hungrig ins Bett gehen.«

»Oh Gott, Mom.«

»Reis kochen, Mister. Und zwar jetzt!«

»Ja, Mom«, stöhnt Damian resigniert und macht sich daran, einen Beutel Reis und einen kleinen Topf aus den Schränken zu kramen, während ich, höflicher Kerl, der ich ab und zu bin, erst mal weiter zu Caspar gehe, um ihn ebenfalls kurz, aber fest zu umarmen.

»Hey, kleiner Bruder.«

»Hallo, Nervensäge.« Er drückt mich liebevoll an sich. »Wie geht es Hakim?«, fragt er, aber das werde ich erst beantworten, wenn wir alle am Tisch sitzen, sonst muss ich die Neuigkeiten am Ende dreimal erzählen, weil immer irgendwer dazwischen quatscht oder nicht richtig hinhört.

»Ich erzähle es euch beim Essen.«

»Dann hilf mir, den Tisch zu decken, sobald du damit fertig bist, Dad zu beruhigen, weil er sich Sorgen macht, dass du dich viel zu sehr in die Sache reinhängst.«

»Danke, dass du so ein schamloser Verräter bist, Sohn.«

Mein Dad, Sebastian Blackstone, benannt nach seinem Vater, der auf dem Bau gearbeitet hat, während Dad einige Jahre bei der Armee gedient hat, bevor er mit dem An- und Verkauf von Immobilien reich geworden ist und sich eines Tages Hals über Kopf in unsere Mom verliebt und beschlossen hat, sich nach der Geburt seines ersten Sohnes vorrangig um die Familie und sein liebstes Hobby – Blumen – zu kümmern. Dass das perfekt zu Mom passte, die, als sie einander kennen- und lieben lernten, in einem Blumengeschäft gearbeitet hat – geschenkt.

Heute haben sie gleich fünf Blumengeschäfte quer über die ganze Stadt verteilt, die von sehr fähigen Frauen und Männern geführt werden, während sie ihr Leben genießen und nur noch zum Spaß Gestecke und Sträuße binden. Oder im Garten in der Blumenerde wühlen, wenn sie nicht damit beschäftigt sind, ein Auge auf ihre Söhne und auf unsere Organisation zu haben.

»Gern geschehen«, kontert Caspar lässig, während ich über die Ablenkung bezüglich Hakims dankbar bin.

Meine Eltern wissen natürlich von meinem letzten Einsatz in Honduras, und wie ich sie kenne, werden sie beim nächsten Mal wieder am Flughafen auf mich warten. Aber heute war das wegen des geplanten Essens mit meinen Brüdern nicht möglich, was auch Dads langen Blick erklärt, mit dem er mich möglichst unauffällig mustert, aber es geht mir gut, ich wurde dieses Mal nicht verletzt.

»Also? Wie geht es Hakim im Moment?«, fragt er.

»Er flucht und schimpft immer noch darüber, dass Said und seine Eltern ihn wegen der Reha so ausgetrickst haben, aber sie tut ihm gut. Und er spricht mit dem Therapeuten, den sie wohl von früher kennen, ich habe nicht nachgehakt. Körperlich ist er beinahe wieder bei 100%, seine Verletzungen sind vollständig verheilt. Aber psychisch hakt es weiterhin.« Als Mom den Topf auf den Tisch stellt, klaue ich mir ein Hackbällchen und jaule prompt auf, weil das Ding natürlich heiß ist.

»Geschieht dir ganz recht«, tadelt Mom und stemmt danach die Hände in die Seiten. »Jetzt setzt euch erst mal hin, damit wir essen können. Dabei kann Logan weiter erzählen.«

Gesagt, getan.

Und ich gönne mir drei Löffel von dem köstlichen Eintopf, bevor ich eine Bombe platzen lasse. »Sie wissen Bescheid. Said, Michael, die Familien – sie wissen alle, dass ich ihn liebe.«

Was mir eigentlich längst hätte auffallen müssen, aber dass man manchmal den Wald vor lauten Bäumen nicht sieht – nun, der Spruch kommt nicht von ungefähr. Ich habe den gewaltigen Wald bis letzte Woche jedenfalls nicht gesehen. Oder ich wollte ihn nicht sehen, da bin ich mir nicht ganz sicher. Jedenfalls war es am Ende Saids Verlobter, der mir beim Aufbau eines meiner Bücherregale ungeniert auf den Kopf zusagte, dass ich mir jetzt endlich eine Strategie überlegen soll, um Hakim einzufangen, bevor der am Ende noch irgendeinen Idioten heiratet.

Michael Summers hat zwar höflichere Worte benutzt, aber die Aussage war unmissverständlich: 'Hör auf, dir und uns was vorzumachen und krieg endlich den feigen Arsch hoch.'

»Na ja, so wie du damals ins Krankenhaus gerast bist«, sagt mein Vater und deutet amüsiert mit der Gabel auf mich, als ich leise seufze. »Diese Leute sind doch nicht dumm, mein Junge, und du bist es auch nicht. Du warst einfach noch nicht bereit.«

Hat er recht? War ich für die Wahrheit nicht bereit? Schwer zu sagen, immerhin habe ich es meiner Familie schon vor einer Weile erzählt, weshalb vor allem Damian auch ein Problem mit meinem schlechten Ruf in puncto Männer hat. Er weiß, dass es Unsinn ist, das habe ich ihm gesagt, aber ich spiele eben weiter mit diesem Ruf und das stößt ihm immer wieder sauer auf, da er im Herzen ein Romantiker ist und es unmöglich findet, dass sein großer Bruder in der Öffentlichkeit gern mal als männliche Hure tituliert wird – natürlich hinter vorgehaltener Hand.

Mir hingegen ist das scheißegal, denn es stört nicht meinen Job für unsere Angels und es tut vor allem meinem Erfolg beim Spenden sammeln keinen Abbruch. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, je mehr ich mit Männlein und Weiblein flirte und je wilder ich mich auf den Galas gebe, umso höher sind am Ende die Summen auf den Schecks.

Ich kann jeden um den Finger wickeln, wenn ich will.

Abgesehen von einem bestimmten sturköpfigen Bodyguard, der – lassen wir das.

»Wie geht es dir damit?«, fragt Mom leise und ich zucke die Schultern, weil ich keine Antwort darauf habe, zumindest noch nicht. »Was sagen denn seine Eltern dazu? Nicht darüber, dass du ihren Sohn liebst, sondern eher im Allgemeinen. Er kann es ihnen die letzten Monate nicht leicht gemacht haben.«

Nein, das hat Hakim definitiv nicht getan, aber das kann ich ihnen nicht erzählen, es ist zu privat, und unsere Eltern kennen einander nicht. Vielleicht ändert sich das irgendwann, ich hoffe insgeheim darauf, aber dafür gäbe es erst einen guten Grund, wenn aus Hakim und mir tatsächlich mehr werden würde, als wir sind. Wobei, was sind wir eigentlich? Freunde kann man es nicht nennen, Liebende noch viel weniger. Eher zwei Kater, die regelmäßig laut fauchend und mit scharfen Krallen umeinander herumschleichen.

Ich schürze die Lippen. »Sie sagen nicht mehr viel dazu, um ehrlich zu sein … Was ich auch sehr gut verstehen kann, so wie er sich ihnen gegenüber manchmal aufführt. Sie sind genau im Bilde über seinen Zustand, aber mittlerweile schlichtweg ratlos, weil sie mit seinen Launen nicht umgehen können.«

»Womit du kein Problem hast«, sagt meine Mom und als ich nicke, seufzt sie resigniert. »Du weißt genau, was er fühlt, nicht wahr? Wie schlecht es ihm in Wirklichkeit geht, auch wenn er versucht, es nach außen hin zu verbergen.«

Wieder nicke ich. »Ich war damals sehr lange in demselben dunklen Loch gefangen, in das er nach dem Anschlag auf Said gefallen ist, das wisst ihr.«

»Und wir werden es nicht vergessen«, murmelt mein Vater, ehe er über den Tisch nach meiner Hand greift. »Versprichst du uns bitte etwas, Logan?«

Er muss gar nicht weiterreden. »Ich weiß, und ich werde die Reißleine ziehen, sobald es nötig ist. Aber noch ist Hakim weit davon entfernt, meine Grenze auch nur anzukratzen. Es ist ein Unterschied, niedergeschossen oder vier Jahre als Sexsklave an Perverse verkauft zu werden, und wenn er glaubt, mich mit ein paar Beleidigungen und finsteren Blicken vertreiben zu können, ist er ein Idiot.«

»Du liebst diesen Idioten«, grollt Damian.

»Das weiß der Idiot aber nicht«, kontert Caspar mit einem breiten Grinsen, während unsere Eltern amüsiert zwischen uns umherblicken, als ich stöhne und die Augen verdrehe. »Was?«, hakt Caspar nach. »Stimmt doch. Oder etwa nicht?«

»Ich hätte euch nie davon erzählen sollen«, maule ich, was mir nicht viel bringt, denn die Einsicht kommt leider mehrere Jahre zu spät.

»Was? Dass du gerne furchtbar schmutzige Sexspielchen in diesem sehr teuren, exklusiven Club von Dane McGraw spielst, oder dass du dich dabei bereits vor Jahren Hals über Kopf in diesen, Moment, wie war das, ach ja, heißen, verdammt finster dreinblickenden Bodyguard, der dich wahrscheinlich mit dem kleinen Finger plattmachen könnte, verliebt hast?«

»Beides«, antworte ich mit einem Glucksen und nehme mir einen Nachschlag auf den Teller, denn erstens ist das Essen echt lecker und zweitens hatte ich heute noch keine Zeit, um meinen Magen mit mehr als zwei Müsliriegeln zu füllen, die wir immer als Notration im Flugzeug haben. »Was ich euch heute Abend eigentlich Neues erzählen wollte, bevor sich meine Brüder auf mein Sexleben eingeschworen haben, auf das sie offensichtlich neidisch sind ...« Ich weiche kichernd den Brötchen aus, welche Damian und Caspar mit finsteren Blicken und einem zweifach erbosten Schnauben nach mir werfen. »... morgen kommt meine neue Küche.«

»So schnell schon? Wie wunderbar«, freut sich Mom, greift nach den beiden Brötchen und legt sie kommentarlos zurück in den Korb. »Wir helfen dir natürlich beim Umzug.«

Damian gluckst heiter. »Wahrscheinlich braucht Logan bald einen Bodyguard. Gott, ich würde wirklich zu gerne Mäuschen spielen, wenn Hakim zurückkommt und begreift, was ihr hinter seinem Rücken ausgeheckt habt, während er in der Reha war … Vor allem, wenn er erkennt, wer Saids neuer Nachbar ist.«

Ich kann nicht anders, ich muss einfach mitlachen, denn das fürchte ich auch. Dieser Plan, so verrückt er von Anfang an war und immer noch ist, wird uns in Teufels Küche bringen, sobald Hakim nächste Woche aus der Reha nach Hause kommt – in die er nur unter Protest gegangen ist – und feststellt, dass Said sein eigenes und auch Hakims Apartment in der Stadt kurzerhand verkauft hat, weil der bis auf Weiteres in der Einliegerwohnung bei Said und Michael im Haus wohnen soll – mit mir als neuem Nachbar.

»Wie kam es eigentlich dazu?«, fragt mein Vater interessiert und hebt die Hand, ehe ich antworten kann. »Du musst es nicht erklären, falls es das Privatleben von deinen Freunden Said und Michael betrifft. Bedenke, wir sind Fremde für sie.«

Ich nicke, denn das weiß ich und ich will es ändern. Nicht sofort, aber in naher Zukunft. Doch erst mal will ich den Einzug in mein neues Haus überleben, denn dazu wird Hakim einiges zu sagen haben. Vor allem, wenn er versteht, dass Michael und Said langfristig planen, und dieser Plan sieht Kinder vor, die im Haus herumtollen werden. Sie wollen im kommenden Frühjahr heiraten, ganz spontan, ohne großes Drumherum, Hauptsache, es ist schönes Wetter, und danach wollen sie sich das erste Mal mit einigen der Frauen treffen, die ihnen die Leihmutteragentur vorgeschlagen hat. Um dabei herauszufinden, ob sie einander überhaupt sympathisch sind.

Der Rest wird sich finden, denke ich, denn ich habe definitiv nicht vor, mich näher in das Leben des Paares einzubringen. Es gibt Grenzen, die ich nicht zu überschreiten gedenke.

Trotzdem werde ich in gewisser Weise dabei sein, sobald es um ihre Hochzeit und später auch Kinder geht, denn für Saids und Hakims Eltern gehöre ich mittlerweile ebenso zur Familie wie Michael, seine Ex-Frau, ihre gemeinsamen Kinder und auch Amandas neuer Partner es tun.

In acht Monaten vom zurückgezogenen Einsiedlerdasein zu einer dezent schrägen Familie – ich weiß derzeit absolut nicht, was ich davon halten soll, aber ich bin zumindest bereit, diesen Weg weiterzugehen.

Für Hakim.

Weil er zu mir gehört, basta.

Nicht, dass dieser sture Kerl zu mir gehören will, aber diese Kämpfe werden wir erst führen, wenn ich mir sicher bin, dass er psychisch gefestigt genug dafür ist. Er hat zwar vor seiner Reha bereits wieder gearbeitet und trainiert, wenn auch längst nicht so viel wie früher, was ich von Said weiß, aber ob das eine gute Idee war, in Bezug auf seine lädierte Psyche – schweigen wir vorerst drüber.

Ich werde ihm helfen, ob er will oder nicht, denn ich weiß, was es heißt, wenn man sich der Hilfe verweigert. Mich musste man am Ende auch zwingen, weil ich sonst gestorben wäre. Bei ihm wird es nicht so weit kommen. Das hoffe ich jedenfalls.

»Said und Michael werden im Frühjahr heiraten, das wisst ihr und es ist kein Geheimnis«, erzähle ich und esse nebenbei weiter. »Was ihr noch nicht wisst, was ich aber erzählen darf, ist, dass sie Kinder wollen. Sprich, sie planen für eine Zukunft, eine eigene Familie, und sie erhoffen sich – alle übrigens –, dass Hakim irgendwann bei mir einzieht.«

»Du meinst, wenn er begreift, dass er dir genauso verfallen ist, wie du ihm?«, fragt Damian belustigt.

»So in etwa«, gebe ich zu und muss grinsen, als mein Bruder die Augen verdreht. »Sag ja nichts, mir ist klar, dass das derzeit reines Wunschdenken von ihnen ist, aber sie sehen nicht klar, sobald es um Hakim geht. Sie wissen, dass ich ihn liebe und ihn in meinem Leben haben möchte. Dass dazu allerdings immer mindestens zwei gehören … Lassen wir das. Im Grunde ist die Überlegung sowieso hinfällig, denn ich kann das Haus jederzeit vermieten oder verkaufen, wenn sich meine Hoffnung als pures Traumschloss entpuppt. Aber fürs Erste werde ich mit Sack und Pack einziehen und ihm helfen, denn Hakim braucht dringend Hilfe, auch wenn er sich eher sämtliche Zähne ohne Betäubung ziehen lassen würde, als das zuzugeben.«

Mein Vater nickt. »Er ist ein sehr stolzer Mann.«

»Er ist vor allem dickköpfig«, kontere ich und verdrehe mit einem Seufzen die Augen. »Und er ist traumatisiert. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob es nur daran liegt, dass er im letzten Sommer fast im OP-Saal gestorben wäre.«

»Wie meinst du das?«, fragt Mom mit gerunzelter Stirn.

»Er wurde schon mehrfach verletzt und angeschossen.« Ich wiege überlegend den Kopf. »Um mal kurz den Psychologen in mir zu bemühen, gehören solche Gefahren eigentlich zu seiner Jobbeschreibung und er hat sie bisher mit Bravour gemeistert. Doch der letzte Anschlag auf Said hat etwas in ihm ausgelöst, denn seine jetzige Reaktion ist … extrem.«

»Du glaubst, es steckt mehr dahinter?«, fragt Caspar und ich nicke. »Weißt du schon, was?«, will er daraufhin wissen.

»Ich kann nur Vermutungen anstellen, aber ich schätze mal, es hat ihm nicht gefallen, zu erkennen, dass er nicht unsterblich ist, und Hakim kann mit dieser eigentlich profanen Erkenntnis eindeutig nicht umgehen.« Meine Mom gluckst heiter und ich suche verdutzt ihren Blick. »Was ist?«

»Hakim wird dir in den Hintern treten, wenn er rausfindet, dass du nicht nur Psychologie studiert hast, sondern auch als Traumapädagoge und -therapeut ausgebildet bist.«

Tja, das – nun ja. Das weiß außerhalb meiner Familie keiner. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Ich hänge meine berufliche Laufbahn auch nicht an die große Glocke, weil ich sie vor allem für die Kinder eingeschlagen habe, die wir gerettet haben und weiter retten werden. Damals, als wir vor der Frage standen, ob wir einen externen Psychologen in die Organisation holen oder weiter unter dem Radar fliegen wollen, was unsere Operationen angeht, überlegte ich ohnehin gerade, in welche Richtung ich beruflich gehen will. Nur der Sohn von Sebastian Blackstone zu sein, der stetig Spenden für benachteiligte Kinder sammelt, kam nicht infrage, und bei meiner persönlichen Erfahrung mit dem Thema Missbrauch bot sich ein Psychologiestudium an.

Dass ich mich mit den Jahren aus eigenem Interesse immer weiter gebildet habe – geschenkt.

Die Psyche von Menschen zu begutachten und ihnen dabei zu helfen, zu überleben, neu anzufangen oder einfach das Beste aus dem zu machen, was das Leben ihnen bietet, liegt mir, und das nicht nur wegen der Kinder.

Es hat Spaß gemacht und tut es immer noch, Dane und den anderen in seinem Club den arroganten Mistkerl vorzuspielen, der ich im Grunde gar nicht bin. Wobei es da einen Mann gibt, den ich nie täuschen konnte – Craig. Wieso er nichts sagt, kann ich nicht beurteilen, aber dieser Mann ist ein großes Mysterium, das ich zu gerne genauer erforschen würde und genau deshalb meine Finger von ihm lasse, weil ich dann auch meine eigenen Geheimnisse preisgeben müsste und das will ich nicht.

Stattdessen gebe ich weiter regelmäßig den Charmebolzen, der die Spendenwilligen oder auch -unwilligen um seine Finger wickelt. Und falls das mal nicht funktioniert, bedrohe ich ich sie unverhohlen, denn ich kann ein gefühlloses Arschloch sein, das ohne zu zögern seine Fäuste oder andere Dinge einsetzt, um zu bekommen, was es will.

Darum bin ich auch das Gesicht unserer Organisation, nicht meine Eltern oder meine Brüder.

Damian und Caspar – sie waren gerade fünf geworden, als ich entführt worden bin, und als ich zurückkam, erkannten sie mich kaum wieder. Kein Wunder. Ich war nicht mehr ihr großer Bruder, der ihnen Geschichten vorgelesen hat oder die hässliche Spinne mit einem Glas aus der Zimmerecke rettete, damit sie es nicht tun mussten. Als ich nach vier Jahren in der Hölle endlich gerettet und wieder nach Hause gebracht werden konnte, war ich ein zynischer Erwachsener ohne Hoffnung, im Körper eines Zwölfjährigen, dem man für Geld die Kindheit gestohlen hatte, die ich trotz aller Bemühungen meiner Eltern und des wirklich großartigen Therapeuten, zu dem sie mich nach meinem ersten Selbstmordversuch brachten, niemals wiederfand.

Doch meine Brüder fanden mich irgendwann wieder, denn wo ich kalt und abweisend war, waren sie sanft und gutmütig, und sie ließen sich auch nicht von mir verscheuchen. Sie haben viel dazu beigetragen, dass ich schließlich nicht mehr versuchte, den einfachen Weg zu gehen und mich umzubringen, und das werde ich den beiden niemals vergessen.

Ich liebe meine Familie über alles, und das ist auch einer der wichtigsten Gründe für mich, sie aus den vielen und meistens unschönen Details unserer Rettungsaktionen herauszuhalten.

Die Zwillinge wären ohnehin nicht dafür geeignet, mir zu helfen. Sie sind viel zu nett und teils auch naiv, wenn es darum geht, was ich alles zu tun bereit bin, um ein unschuldiges Kind zu retten. Meine Eltern sind das zwar nicht, im Gegenteil, aber sie verstehen es und sie lassen mir freie Hand bei dem, was ich mit Hilfe von Trey und Max tue. Selbst wenn das bedeutet, dass Menschen sterben und ihre Leichen für immer verschwinden. Und weil ich weiß, dass sie moralisch gesehen Probleme damit haben, erzähle ich ihnen eben nicht alles.

Es reicht, dass meine Männer, vor allem Max und Trey, über alles im Bilde und mit mir einer Meinung sind. Kurz gesagt, sie haben keine schlaflosen Nächte, wenn wir Kinderschänder auf Nimmerwiedersehen verschwinden lassen oder reiche Kunden, die viel Geld für die Vergewaltigung eines kleinen Mädchens zahlen, mit einer Kugel im Kopf zurücklassen, was im Grunde noch viel zu gut für diese Schweine ist.

Aber sie zu entmannen und dann verbluten zu lassen, wäre einfach zu auffällig und würde zu lange dauern. Eine Kugel ins Herz oder zwischen die Augen geht schneller und ist vor allem nicht zurückzuverfolgen, falls man sich nicht komplett dämlich dabei anstellt – was wir nicht tun. Ganz abgesehen davon, dass unsere Technikfreaks jedes Mal genug Beweise für die hiesigen Behörden hinterlassen, dass die Polizei mögliche Ermittlungen schnell wieder beendet, denn welcher Polizist oder Staatsanwalt will schon freiwillig seine kostbare Zeit damit verschwenden, den Mörder eines Kinderschänders zu finden?

»Wo wir gerade davon reden, jemandem in den Hintern zu treten … Damian?« Mein Vater grinst, als mein Bruder ertappt zusammenzuckt. »Um deinen alten Vater mit einer Flasche von seinem Lieblingswhisky zu überraschen, musst du schon früher aufstehen und solltest vor allem nicht die Kreditkarte unseres Familienkontos benutzen. Und jetzt rück sofort die Beute raus, immerhin bietet sich unser gemütliches Abendessen für einen Verdauungsdrink geradezu an. Außerdem will Logan nachher noch zu Dane in den Club.«

Ach so? Ich sehe meinen Vater verwundert an, doch er wirft mir nur einen auffordernden Blick zu, der deutlich macht, dass er nichts weiter dazu sagen wird. Allerdings würde er mir nicht sagen, was ich zu tun habe, wenn es nicht unbedingt notwendig wäre. Gut, dann fahre ich später noch zu Dane.

»Du hast die Flasche mit der falschen Kreditkarte bezahlt? Damian!«, schimpft Caspar, während meine Eltern anfangen zu lachen und ich nur kopfschüttelnd meine Brüder betrachte. Die beiden sind manchmal solche Schusselköpfe und Träumer, was sie andererseits aber auch zu verdammt guten Lehrern macht, von denen dieses Land viel mehr bräuchte.

Zuallererst bräuchte unser schönes Land allerdings einen neuen Präsidenten. Möglichst einen, bei dem sichergestellt ist, dass er noch alle Tassen im Schrank hat. Wobei er es uns derzeit mit seinem kindischen Kleinklein, mit dem er den Rechtsstaat auf Trab hält, sogar leicht macht, neue Einsätze zu planen, denn in den nächsten Jahren dürfte die Gefahr für uns gering sein, dass ein Bürokrat oder Politiker überhaupt Zeit hat, sich näher mit uns und unserer Organisation zu beschäftigen.

Und da ich ein pragmatisch veranlagter Mensch bin, werde ich aus dem derzeitigen Chaos mitnehmen, was ich nur kriegen kann, denn die Kinder sind jeden Aufwand wert, und wer soll sich sonst um ihre Rettung kümmern? Unsere Regierung tut es nicht, hat es nie getan und wird es auch niemals tun, also bleibt es an uns Angels hängen – wie es das seit Jahren tut.

***

Und vielleicht sollte ich für die Zukunft eine Erweiterung in Betracht ziehen, was die Angels Wings angeht, überlege ich eine Stunde später, als ich vor dem Tor von Dane McGraws großem Grundstück halte und den Summer betätige.

Ich habe den Kerl überprüfen lassen, nachdem ich im Zuge eines geplantes Einsatzes außerhalb der Stadt vor Jahren über seinen Namen gestolpert bin und mich am Ende seiner illustren Runde in Bezug auf käuflichen Sex anschloss.

Er hat mit Immobilien sein Geld gemacht – von wegen.

Und er ist ein harmloser, netter Kerl – wer das glaubt, der glaubt auch an den Weihnachtsmann.

Harmlose, nette Kerle stellen keine Assistenten ein, deren Lebensgeschichte ein derart tiefes und schwarzes Loch ist, wie die von Craig Wilson – sofern der Mann wirklich so heißt, was ich, ehrlich gesagt, ernsthaft bezweifle. Doch ich habe es bislang nicht geschafft, in Erfahrung zu bringen, wer Craig Wilson in Wirklichkeit ist oder zumindest früher einmal war, denn dass er seinem alten Leben den Rücken gekehrt hat, ist offensichtlich.

Wie gesagt, er ist ein Mysterium.

Darum dachte ich damals zuerst auch, dass er und Dane zu den Perversen zählen, die für Sex mit einem Kind Unsummen bezahlen. Aber nein, Dane war nur zufällig mit einem von den Schweinen bekannt, und als er das erfuhr, nachdem die Angels ein Haus ausgehoben hatten, in dessen Keller ein Kinderbordell aufgebaut worden war, hat er ohne zu zögern sämtliche Kosten für die Kinder übernommen, die lebend aus dem Keller gerettet und den hiesigen Behörden übergeben werden konnten.

Seitdem taucht sein Name immer mal wieder auf, vor allem im Zuge von Ermittlungen gegen Menschenhandel – nicht nur den mit Kindern –, doch ich konnte bisher nicht herausfinden, aus welchem Grund er sich in der Hinsicht so reinhängt. Craig könnte ein Grund dafür sein. Oder Dane selbst. Nur wieso? Er hat keine eigenen Kinder, und es gibt auch keine Geschwister, die vermisst werden oder selbst Kinder hätten, nach denen man sucht. Deshalb glaube ich, dass Craig der Grund ist, habe aber keinerlei Beweis für meine Theorie, und ihn danach fragen, war bislang keine Option.

Aber vielleicht, wenn ich es klug anstelle – wir könnten ein paar zupackende Hände im metaphorischen Sinne gebrauchen. Mir geht es dabei nicht um mehr Geld, auch wenn uns selbiges immer willkommen ist und Dane genug davon hat. Nein, mir geht es darum, die Aufgaben auf mehr Schultern zu verteilen.

Ich kann nicht auf Einsätzen in aller Welt unterwegs sein, während ich eigentlich auf einer Spendengala sein sollte. Wären wir an der Spitze jedoch zu zweit, könnten wir uns aufteilen.

Das würde meinen Eltern zwar kaum gefallen, weil das für mich bedeuten würde, noch öfter im Flieger zu sitzen, während Dane sich um die Spender kümmert, aber wenn ich mich jemals für einen Teil des Jobs entscheiden muss, werde ich die Einsätze wählen. Immer.

Und weil Dane Craig an seiner Seite hat, müsste ich mir um seine Sicherheit keine Sorgen machen, denn dieser Mann würde eher sterben, als zuzulassen, dass Dane etwas passiert.

»Hast du dich verfahren?«

Ich verdrehe die Augen in Richtung Kamera, nachdem seine belustigte Stimme blechern aus der Gegensprechanlage an mein Ohr dringt. »Sehr witzig, Craig. Jetzt lass mich schon rein. Mein Vater schickt mich wohl kaum aus Langeweile in einer eisigen Februarnacht her, ohne mir den Grund dafür zu nennen.«

Craigs Lachen klingt furchtbar, vielleicht sollten sie die alte Gegensprechanlage endlich austauschen, aber er öffnet das Tor und wenig später auch die Haustür, nachdem ich ausgestiegen bin und unter einer eisigen Windböe erschaudere. Wenigstens schneit es im Moment nicht.

»Scheiß Winter«, murre ich, was ihn grinsen lässt.

»Heute noch keinen Schneemann gebaut?«, kontert er lässig und lacht, als ich ihm einen verblüfften Blick zuwerfe. Ich gebe zu, ich habe mich schon mehr als einmal gefragt, ob Craig bloß Spielchen spielt oder psychisch wirklich so auffällig ist, wie er sich mir gegenüber manchmal gibt. »Was?«, fragt er, als ich den Satz nicht mit einem abfälligen Kopfschütteln abtue wie sonst, sondern ihn weiter anschaue.

»Hat man dir je eine Diagnose mitgeteilt?«

Er scheint in keinster Weise überrascht und das sollte mir zu denken geben. Es sollte mir ebenfalls zu denken geben, dass er mir die Frage weder übel nimmt noch mir eine runterhaut, und beides hätte ich verdient, denn es ist mehr als unprofessionell, was ich gerade getan habe. Aber da weder er noch Dane wissen, dass ich Psychologe und Traumatherapeut bin, kann es mir im Grunde egal sein, was er über mich denkt.

Nur, dass es mir nicht egal ist – verdammt.

»Mehrere sogar, warum?«

Mit der Antwort erwischt er mich tatsächlich kalt, denn ich hätte nie erwartet, dass er darauf reagiert. Mit einem Witz oder einem frechen Spruch, ja, aber nicht mit der Wahrheit. Und das macht es mir dann leider unmöglich, das Thema einfach wieder fallenzulassen, obwohl das garantiert besser wäre.

»Brauchst du Hilfe?«

»Wer tut das nicht?«, fragt er sichtlich amüsiert und hebt die Hand, bevor ich antworten kann. »Stopp!«

Die Grenze, die er abrupt und mit einem warnenden Blick zieht, werde ich akzeptieren, aber ich bin, wer ich bin, und kann daher nicht aus meiner Haut. »Wenn du deine Meinung jemals änderst, ruf mich an.«

»Warum?«

»Darum«, bin ich jetzt derjenige, der eine Grenze zieht, und auch er akzeptiert sie mit einem Nicken, ehe er schweigend auf meinen Mantel zeigt. Ich ziehe ihn aus, reiche ihn an Craig, der daraufhin wortlos die Treppe nach oben deutet. Dane ist also in seinem Büro und den Weg dahin kenne ich.

»Kaffee, Tee oder ein Wasser?«, fragt Craig höflich, doch ich lehne dankend ab. Das Abendessen und hinterher das eine Glas Whisky mit meiner Familie reichen mir fürs Erste. »Gut, dann scher deinen Hintern zu Dane. Ich komme gleich nach.«

Lachend lasse ich ihn stehen, behalte ihn aber trotzdem mit all meinen Sinnen im Auge, bis ich mich weit genug von Craig entfernt habe, um nicht mehr in seiner Reichweite zu sein. Das wird zwar keine Kugel aufhalten, sollte er die Waffe ziehen, die er unter seinem Jackett trägt, aber mir ist so in Fleisch und Blut übergegangen, meinen Rücken freizuhalten, dass ich das wohl nie wieder werde ablegen können.

»Logan?«, hält mich Craigs Stimme zurück, da habe ich die obere Hälfte der Treppe erreicht. Ich bleibe mit dem Rücken zu ihm stehen und warte. »Für mich ist es zu spät, aber Hakim hat noch eine Chance. Also sieh zu, dass du ihn rettest, sonst mache ich dich fertig.«

Darauf muss ich reagieren, denn es ist für niemanden jemals zu spät. Aber wenn ich ihm das so sage, wird er die Mauern um sich herum noch höher ziehen, schätze ich, also entscheide ich mich für die Strategie, die mir bei geretteten Kindern schon oft geholfen hat – Humor. Auch wenn es in Craigs Fall ein deutlich bissigerer Humor ist. Ich drehe mich zu ihm um und setze ein überhebliches Grinsen auf.

»Du musst mir nicht drohen. Du kannst einfach fragen, ob ich mit dir eine nette Trainingsrunde auf der Matte einlege, um dir den knackigen Arsch zu versohlen.«

Es wäre wohl eher mein Arsch, der dann versohlt wird, aber egal. Nicht egal ist Craigs Reaktion, denn mit so einem Konter hat er eindeutig nicht gerechnet. Leider fängt er sich so schnell wieder, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich mir seine vorherige Überraschung nicht doch eingebildet habe.

»Vielleicht komme ich auf das Angebot eines Tages zurück, um dir den vorlauten Arsch zu versohlen. Und jetzt hau ab.«

Vier eisige Worte, die die Normalität zwischen uns wieder herstellen – sehr gut. Mit einem heiteren Lachen überbrücke ich die letzten Treppenstufen und klopfe kurz darauf an Danes Tür, worauf er mit einem ruppigen »Was ist?« reagiert.

»Was soll schon sein?«, kontere ich trocken und grinse, weil er in seinem Büro stöhnt. »Hast du dich mit deinem angeblich nicht vorhandenen Lover gezankt und versinkst deswegen jetzt in Depressionen? Falls ja, gehe ich lieber wieder und suche mir für die Nacht einen heißen Arsch.« Ich blicke sicherheitshalber über die Schulter, aber noch ist von Craig nichts zu sehen. »Was meinst du? Hätte Craig Interesse?«

»Er würde dich mit einem freundlichen Lächeln erschießen, und jetzt hör auf, in meinem Flur herumzulungern und komm rein. Ich habe etwas für dich.«

Wie könnte ich eine so freundliche Einladung ausschlagen? Als ich Dane das sage, kaum dass ich vor seinem Schreibtisch stehe, der genauso voll ist wie mein eigener immer, schnaubt er abfällig und deutet auf einen Umschlag zu meiner Linken.

»Was ist das?«, frage ich verwundert, denn ich sehe keinen Briefkopf, keinen Absender, gar nichts.

»Das nennt sich Brief«, antwortet er spitzfindig und lacht, als jetzt ich derjenige bin, der stöhnt, bevor ich mich ungeniert auf seiner Schreibtischkante niederlasse und nach dem weißen Umschlag greife. »Eine kleine Freundlichkeit des Hauses. Dein Vater meinte nur, du wüsstest schon, was du damit tun kannst«, sagt Dane in seinem typisch gelassenen Tonfall, und da ich ihn gut genug kenne, um zu wissen, dass er mir jetzt nichts weiter erklären wird, zucke ich die Schultern und öffne den Umschlag, um zu sehen, wieso mein Vater mich hergeschickt hat.

Ich muss mich hart zusammenreißen, um mir keine Regung anmerken zu lassen, als ich den Betrag auf dem Scheck sehe. So oft ich auch mit Spenden zu tun habe, solche Summen auf einen Schlag sind selten – sehr selten. Doch auch nach einem zweiten Blick bleibt die Summe siebenstellig. Du lieber Himmel.

»Und den konntest du nicht per Post schicken?«, frage ich in der mir üblich arroganten Art, weil er das so erwartet und weil ich einen Ruf zu wahren habe.

Dane gönnt sich ein hinterhältiges Grinsen. »Nein.«

Ich winke ab und werfe einen Blick auf die Unterschrift auf dem Scheck, aber der Name sagt mir absolut gar nichts, und als ich fragend zu Dane sehe, prostet er mir mit einem halb vollen Whiskyglas zu, das mir erst jetzt auffällt und mich irritiert die Stirn runzeln lässt, weil ich erst vor Kurzem ein persönliches Gespräch zwischen Said und Michael teilweise mitgehört habe, in dem es darum ging, dass Dane offenbar weniger trinkt, was beide gut fanden.

Dasselbe gilt übrigens für mich, denn dass Dane McGraw ein Problem mit Alkohol hat – sagen wir mal so, mir ist in den letzten Jahren nicht entgangen, dass er ein Faible für die edlen Genüsse hat, nur leider genießt er sie zu oft. Erstaunlich, dass Craig ihm das durchgehen lässt, aber wer weiß, vielleicht tut er es gar nicht. Egal. Das ist nicht meine Angelegenheit.

Mein Blick fällt erneut auf den Scheck und als er leise lacht, verdrehe ich die Augen, denn er ist im Vorteil und das gefällt mir nicht. »Wer ist das?«, frage ich daher.

»Jemand, dessen Namen du dir nicht merken musst, da ich das gerne für dich übernehme«, erklärt er eisig, schiebt seinen Stuhl zurück und erhebt sich, um an mir vorbei ans Fenster zu treten und hinauszusehen. »Du wirst weitere Schecks von ihm erhalten, und zwar monatlich für den Rest dieses Jahres. Immer zum ersten. Immer mit unterschiedlichen Summen. Sollte einer der Schecks ausbleiben, gib mir Bescheid, dann werden diverse Videos an die entsprechenden Stellen weitergeleitet. So wie das deine Leute regelmäßig tun, um dafür zu sorgen, dass gewisse Subjekte für immer verschwinden.«

Ich erstarre und warte auf weitere Worte, die nicht kommen. Er dreht sich auch nicht zu mir um, obwohl ihm klar sein muss, dass das für ihn gefährlich sein könnte. Andererseits wird Craig mittlerweile seinen Platz vor der Tür eingenommen haben, also reicht ein Wort von Dane und – lassen wir das.

Dane McGraw weiß also, was ich in Wirklichkeit tue.

Das kommt unerwartet.

Spielt mir aber durchaus in die Hände, immerhin hatte ich vorhin vor dem Tor überlegt, ob es für die Zukunft der Angels Wings nicht besser wäre, würden wir sie zu zweit leiten. Dad ist zu alt und hat auch kein Interesse daran, mit mir den Platz auf den Spendenveranstaltungen zu tauschen.

Dane McGraw hingegen ist ein hübscher Kerl, was sich vor Kameras und Mikrofonen gut machen würde, außerdem ist er verdammt clever und stinkreich. Kurz gesagt, man kann diesem Mann nicht so einfach etwas vormachen.

Allerdings bringt er auch einen nicht zu unterschätzenden Nachteil mit – seine gefühlt tausend Geheimnisse.

Wobei ich in der Hinsicht besser die Klappe halte, denn ich sitze genauso im Glashaus und Dane dürfte sich nicht zu fein sein, den ersten Stein zu werfen.

Also schön, reden wir Klartext.

»Erstens«, beginne ich, stecke den Scheck ein und trete zu ihm ans Fenster. »Wenn du meine Organisation gefährdest oder mir bei meiner Arbeit Steine in den Weg legst, wirst du ohne Vorwarnung auf Nimmerwiedersehen verschwinden.« Ich sehe kurz zur Tür. »Auch wenn das heißt, den tödlichen Zorn eines sehr gefährlichen Mannes auf mich zu ziehen.« Das bringt mir ein Grinsen und ein knappes Nicken ein – gut. »Zweitens, hör auf zu trinken.« Jetzt schnaubt er abfällig, aber okay, ich kann es ihm schlecht befehlen. »Drittens … Willst du mitmachen?«


Kapitel 2
Hakim

»Du hast was getan?«

Ich muss mich verhört haben, anders ist Saids Aussage nicht zu erklären, mit der ich überhaupt nicht gerechnet habe, kaum dass ich aus der Reha zurück bin.

Einer Reha, die ich nicht wollte, die sie mir – und zwar alle, angefangen von meinem besten Freund, seinem Verlobten, den verräterischen Ärzten, bis hin zu meinen Eltern, die sich sonst aus meinem Leben und meinen Entscheidungen heraushalten – gegen meinen Willen aufgezwungen haben. Sicher hätte ich mir einen Anwalt nehmen und gegen sie vorgehen können, aber am Ende war es leichter, zu tun, was sie wollten, auch wenn ich die ersten drei Tage dort nur damit beschäftigt war, zu fluchen und ihnen die sprichwörtliche Pest an den Hals zu wünschen.

Danach wurde die Wut in mir langsam durch Resignation ersetzt, und schlussendlich hat mir die Reha gut getan, aber das werde ich nicht einmal unter Folter gestehen. Ganz besonders nicht, nachdem ich soeben erfahren habe, dass diese Reha dafür gesorgt hat, dass ich bei meiner Heimkehr plötzlich kein Dach mehr über dem Kopf habe.

Was der Gipfel der Frechheit ist, denn erst setzen sie mir im letzten Jahr diesen arroganten Arsch als Nachbar vor die Nase, weil er unbedingt – warum auch immer – von jetzt auf gleich in Saids Stadtwohnung einziehen musste, und wo ich mich heute wirklich darauf gefreut habe, in meine eigene Wohnung direkt gegenüber von Saids zurückzukehren, in der irrigen Hoffnung, auf ein wenig Ruhe und Frieden, hat Said sie ohne ein einziges Wort der Vorwarnung verkauft.

Und dagegen kann ich in diesem Fall nicht vorgehen, denn sie gehörte ihm. Ja, ich habe in ihr gelebt, da es für meine Arbeit nun mal praktisch war, aber gekauft hat er sie, weil ich mir eine so teure Wohnung damals nicht leisten wollte und konnte.

Ich bin zwar ein über dem Standard bezahlter Leibwächter und stellvertretender Geschäftsführer einer Sicherheitsfirma, an deren Spitze ich in einigen Jahren stehen werde, nachdem mein Vater in einen wohlverdienten Ruhestand gegangen ist, aber ich bin bei Weitem nicht so reich wie Said.

Und das stellt mich gerade vor ernsthafte Probleme, denn auch wenn ich keine teuren Krankenhausrechnungen bezahlen muss – das hat Saids Familie übernommen, weil ich im Dienst verletzt wurde – und Said mir für die letzten Monate, in denen ich zwar wieder trainiert und auch ein bisschen gearbeitet habe, nicht weniger Gehalt gezahlt hat, brauche ich jetzt schnellstens eine neue und vor allem bezahlbare Wohnung.

»Die Apartments waren eine sehr gute Investition, aber wir hatten doch nie geplant, sie dauerhaft zu behalten«, erinnert er mich daran, dass er nicht nur mein Apartment verkauft hat, nur vergisst er dabei scheinbar, dass ich kein eigenes Haus habe, in das ich mich jetzt zurückziehen könnte. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er vorher nicht mit mir darüber gesprochen hat, und das kreide ich ihm wirklich an.

Und überhaupt: »Wo sind meine Sachen?«

Said sieht mich an, als wäre ich verrückt geworden. »Hier in deiner Einliegerwohnung natürlich. Glaubst du etwa, ich habe auch dein persönliches Eigentums verkauft?«

»Said«, murmelt Michael und sieht nachdenklich zwischen uns hin und her. Ich schätze, er ahnt, dass ich kurz davorstehe, Said eine runterzuhauen, denn mein Geduldsfaden ist in letzter Zeit erschreckend kurz.

Was mit ein Grund ist, wieso ich mehr Privatsphäre will. Ich weiß, dass ich momentan ein Problem habe. Das hätte mir ein gewisser Psychologe in der Reha nicht extra sagen müssen, der Said damals geholfen hat, den ich aber eiskalt niederschlagen werde, sollte er es noch ein einziges Mal wagen, mir ungeniert, samt einem höflichen Lächeln, meine Unzulänglichkeiten unter die Nase zu reiben.

Fakt ist, ich bin derzeit weder ein guter Bodyguard noch ein verdienter Freund, aber vor allem bin ich kein guter Umgang. Weder für Said noch für seinen Zukünftigen, und deshalb kann ich hier nicht länger wohnen bleiben. Wie soll das auch gehen, wenn Said Michael heiratet und dann das Thema Kinder aktuell wird? Ich werde immer mehr zu einem Störfaktor werden, und ich will definitiv nicht im Haus leben, sobald hier später kleine Füße durch die Flure rennen.

Ich brauche etwas Eigenes, basta.

Keine Ahnung, was die anderen Männer und Frauen davon halten, denen ich offiziell zwar immer noch vorstehe, aber seit ich zu dieser Reha genötigt worden bin, sind Troy und Patrick ihre ersten Ansprechpartner, sobald es um Saids und Michaels Sicherheit geht, und das wird auch noch eine Weile so bleiben.

»Ich nehme mir ein Hotelzimmer, bis ich in der Nähe etwas Eigenes gefunden habe. Das wird garantiert nicht an jemanden verkauft, ohne mir das vorher wenigstens zu sagen«, erkläre ich eisig, worauf sich Saids Blick bedenklich verfinstert.

»Du ...« Weiter kommt er nicht, als Michael kurz seine Hand ergreift und danach vor mich tritt, unseren Blickkontakt damit unterbricht.

»Sei kein Arsch«, murmelt er und lächelt, bevor er die Hand hebt und sie an meine Wange legt. Dass er den Kopf schüttelt, als ich ihm ausweichen will – verdammt. »Du wirst hier immer einen Platz haben, sowohl in diesem Haus, als auch in unseren Herzen. Was glaubst du denn, warum wir dich auch in Zukunft bei uns haben wollen?«

»Damit ihr mich überwachen und ausspionieren könnt, um zu verhindern, dass ich wieder austicke«, platzt aus mir heraus, bevor ich mich zurückhalten kann, und dass Said uns daraufhin mit einem Fluch den Rücken zuwendet, während Michaels bis eben ehrliches Lächeln merklich verunglückt – Gott, ich bin ein selbstgefälliger und gehässiger Arsch geworden. »Tut mir leid«, murmle ich und meine es sogar so, obwohl uns allen hier klar ist, dass es nichts ändert.

Ich bin ein Wrack.

Körperlich nicht mehr, aber psychisch auf jeden Fall.

Und ich weiß nicht, wie ich das wieder ändern soll.

Michael nickt leicht. »Isst du heute Abend mit uns? Bitte«, setzt er nach, bevor ich ablehnen kann, und weil es Michael ist, bin ich jetzt derjenige, der nickt, obwohl ich nicht will und mich am liebsten irgendwo verstecken würde.

Und genau das tue ich dann auch, als ich beide stehen lasse und mich kurz darauf in meiner kleinen Einliegerwohnung im Obergeschoss einschließe, was ich in all den Jahren nicht einmal getan habe. Wozu auch? Um ehrlich zu sein, hatte ich bis eben vergessen, dass das hier eine komplett eingerichtete Wohnung mit Küche ist, weil ich sowieso immer unten mit den anderen Bodyguards oder mit Said gegessen habe.

Mein Blick fällt auf einige Kartons, die sauber an der freien Wand neben der Couch aufgestapelt sind, und nach einem Blick auf die ebenso saubere Beschriftung fühle ich mich gleich noch mieser, denn natürlich hat Said nichts in meinem Apartment in der Stadt zurückgelassen. Auf dem obersten Karton fällt mir ein gefaltetes Blatt Papier auf. Nanu? Ich greife danach und falte es auf, um die ersten Zeilen zu überfliegen, nachdem ich Michaels Handschrift erkannt habe.


Hey Hakim,

wenn du das hier liest, wünscht du uns wahrscheinlich gerade die Pest an den Hals, aber ich hoffe, dass du uns irgendwann verzeihst.

Wir machen uns Sorgen um dich und wir möchten wirklich, dass du in Zukunft bei uns im Haus bleibst.


Kommt nicht infrage, jedenfalls nicht auf Dauer.

Ich weiß, sie meinen es nur gut und ich bin ein undankbarer Idiot, weil ich das als Bevormundung ansehe, aber ich will …

Meine Gedanken geraten ins Stocken und ich lasse das Blatt langsam sinken, als mir nach und nach klar wird, dass ich im Moment überhaupt nicht mehr weiß, was ich will oder was ich nicht will. Und bevor ich das nicht herausfinde, dürfte sich an meinen Launen und dem Wirrwarr in meinem Kopf leider nicht viel ändern.

Von mir selbst genervt, stöhne ich und hebe anschließend das Blatt hoch, um Michaels Zeilen zu Ende zu lesen. Hinterher kann ich ja damit anfangen, die Kartons auszuräumen und ein paar Vorräte zu besorgen, denn nur weil ich heute Abend unten esse, heißt das nicht, dass ich das ab sofort täglich tun werde.

Seit ich mich im letzten Jahr in die Schussbahn von diesem Attentäter geworfen habe, um Michael und Said zu retten, ist einfach nichts mehr wie vorher und je eher ich das akzeptiere, umso besser für uns alle.


Aber falls du das nicht willst, helfe ich dir, eine Wohnung oder ein kleines Haus für dich zu finden. Und bis dahin – wirf mal einen Blick in dein Schlafzimmer.

Wir haben dir einen größeren Kleiderschrank besorgt, damit du in Zukunft genug Platz für deine Klamotten hast. Die Jungs haben ihn aufgebaut und ich war so frei, zumindest schon mal deine Anzüge auf die Bügel zu hängen. Für den Rest bist du selbst zuständig.

In dem Karton hinter der Couch befindet sich ein Bücherregal. Es ist schmal genug, um an die Wand zu passen, vor der im Moment die Kartons stehen, in denen sich deine restliche Kleidung, deine Bilder, Bücher und diese tolle Steinsammlung befinden.

Irgendwann musst du mir erzählen, wo du diese Steine gefunden hast, vor allem die bunten, die sehen wunderschön aus.

Aber zurück zu deinen Sachen …

Ich habe alles sorgfältig eingepackt, versprochen.

Ach ja, dein Laptop, das Tablet, die Ladekabel und so weiter sind nebenan. Said hat das kleine Gästezimmer für dich ausgeräumt, da ihr nie gebraucht habt, sagte er. Darum gehört jetzt dir und du kannst es als Arbeits- oder Sportzimmer einrichten, ganz, wie du magst.

Deine Waffen findest du dort auch, wir haben den Waffenschrank nicht angerührt. Sämtliche Schlüssel, die wir finden konnten, habe ich in die oberste Schublade deines neuen Schreibtisches gelegt.

Der Sessel, den du dir fürs Wohnzimmer mal selbst gekauft hast, steht sicher verpackt unten in der Garage, alle anderen Möbel hat der Hausbesitzer übernommen. Für die Einrichtungsgegenstände und das Geschirr in der Küche hat er Said ausbezahlt, weil alles so gut wie unbenutzt war.

Dein Anteil – 1.000 Dollar – liegt in der obersten Schublade.


Ich weiß nicht, wieso ich gerade gegen die Tränen kämpfe – aber auch das ist mittlerweile typisch und unglaublich nervig, weil ich nichts dagegen tun kann, dass ich zu einer furchtbaren Heulsuse mutiere, sofern ich nicht gerade damit beschäftigt bin, meine Wut im Zaum zu halten, denn es fällt schnell auf, wenn man auf Wände oder Möbel einschlägt.

Was wirklich lächerlich ist, wenn man bedenkt, wer ich bin und was ich jahrelang getan habe.

Selbstkontrolle war immer das A und O für mich, und ich war stolz darauf, mich selbst in den schlimmsten, chaotischsten oder sogar lebensgefährlichsten Situationen nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.

Heute reicht manchmal schon die berühmte Fliege an der Wand aus, dass ich ausraste.

Noch ein Grund mehr, mir vorläufig keine geladene Waffe oder eine scharfe Klinge in die Hand zu geben. Ich könnte nicht dafür garantieren, sie nicht gegen Said oder – noch schlimmer – Michael einzusetzen, wenn ich die Nerven verliere.

Ich war mal ein sehr guter Soldat.

Ich war mal ein verdammt guter Scharfschütze.

Ich war mal ein geschätztes Mitglied in einer Spezialeinheit, die es offiziell gar nicht gab.

Ich war mal ein erstklassiger Killer.

Wenn es nach meinen Ausbildern geht, war ich damals einer der besten Attentäter der Welt. Und in gewisser Weise bin ich das immer noch, obwohl ich meine Berufsbeschreibung bereits vor Jahren in Bodyguard abgeändert habe, weil das harmloser klingt, als »vom arabischen Militär ausgebildeter Attentäter« in seinen Lebenslauf zu schreiben.

Mein Blick wandert zurück zu Michaels Angebot, über das ich ernsthaft nachdenken sollte, denn er arbeitet für jemanden, der vielleicht eine Wohnung für mich im Portfolio hat. Sie muss auch nicht zu klein oder billig sein, denn ich habe in den letzten Jahren nicht viel Geld für mich ausgegeben.

Ich bin nicht reich genug für ein großes Haus, wie sie hier in der Straße stehen, aber für eine eigene Wohnung oder eben ein kleines Haus, wie es Michael vorschlägt, müsste es reichen. Ob mit Kredit oder ohne – abwarten. Notfalls springe ich eben über meinen Schatten und bitte meine Eltern um ein Darlehen, doch ich glaube nicht, dass das nötig wäre, denn mit meinem Namen und dem dazugehörigen guten Leumund, dürfte ein Kredit bei einer Bank kein Problem sein.

Aber darum kann ich mich kümmern, wenn es so weit ist.

Erst mal sollte ich mich entscheiden, ob ich lieber zu einem eigenen Haus oder einer Wohnung tendiere, und wenn ich das Ganze pragmatisch betrachte, dürfte Letzteres die bessere Wahl sein, weil eine Wohnung erstens günstiger und zweitens kaum so viel Arbeit machen würde, wie ein eigenes Haus mit einem Garten. Andererseits wäre genau das vielleicht besser, denn mir ist in der Reha zumindest eine Sache klar geworden – ich kann nicht so weitermachen wie bisher.

Ich kann nicht morgen wieder Saids Bodyguard sein.

Ich kann das Chaos in meinem Kopf nicht einfach zur Seite schieben und zur Tagesordnung übergehen. Ja, ich dachte, dass ich es könnte, aber so funktioniert die menschliche Psyche nun mal nicht und meine hat nach meiner Verwundung eindeutig die Reißleine gezogen.

Das heißt, ich werde Said offiziell um Urlaub bitten.

Ob unbezahlt oder nicht, soll er entscheiden. Und sobald ich das geklärt habe, werde ich anfangen, nach einer eigenen Bleibe für mich zu suchen. Vielleicht sollte ich auch in Betracht ziehen, mich nach einem Psychologen umzusehen, aber allein bei dem Gedanken daran, mich wieder auf eine Couch zu legen, kommt mir sprichwörtlich die Galle hoch, darum schiebe ich das Ganze schnell zur Seite.

Später. Irgendwann.

Keine Ahnung.

Mein Handy beginnt zu klingeln, doch nach einem Blick auf das Display drücke ich meinen Vater weg und schalte es danach aus. Ich will nicht mit ihm reden. Ich kann nicht. Es mag albern, kindisch und vollkommen lächerlich sein, aber ich will nicht an mein Versagen als Saids Beschützer erinnert werden und er tut genau das. Beide tun das. Dabei haben meine Eltern bis heute nicht ein Wort darüber verloren. Ganz im Gegenteil. Sie waren überglücklich, als ich endlich aus dem Koma erwachte, und sie haben sich mit Logan Blackstone um mich gekümmert.

Vielleicht kreide ich ihnen genau das an? Nein, das kann es nicht sein, denn dann wäre ich vom Flughafen aus in ein Hotel gefahren, statt hierher zu kommen, weil Said und seine Familie sich genauso um mich gekümmert haben.

Sie waren alle für mich da, monatelang sogar, trotzdem hält sich mein Dank dafür in Grenzen.

Besonders in Bezug auf einen gewissen arroganten Mistkerl, den ich mir bei nächster Gelegenheit greifen werde, um ihm ein für alle Mal klarzumachen, was ich von seiner Einmischung in mein Leben halte. Seltsamerweise war er bei meiner Rückkehr heute nicht am Flughafen. Ich runzle die Stirn, als mir auffällt, dass das niemand war. Vor der Reha konnte ich schon froh sein, dass sie mich alleine aufs Klo gelassen haben, doch heute stand kein Abholer bereit, sondern ich musste mir ein Taxi nehmen.

Gott sei Dank, sollte ich wohl dazu sagen, und vielleicht hat meine kleine Auszeit ja doch etwas Gutes. Nämlich, dass sie mir ab sofort mehr Freiheiten zugestehen.

Gut, das mit dem Apartmentverkauf – darüber könnte man freilich streiten, aber ich werde heute Nacht in einem bequemen Bett in diesem Haus schlafen, wo der Kühlschrank immer voll ist und wo ich sicher sein kann, dass Said und Michael rund um die Uhr geschützt sind, obwohl ich für diesen Job längst nicht mehr zuständig bin.

Und vielleicht werde ich es nie wieder sein.

Diese Vorstellung sorgt bei mir für Übelkeit. Ich meine, was soll ich denn tun, wenn sich herausstellt, dass ich nie mehr als Bodyguard arbeiten kann? Dass meine Psyche nach dem letzten Anschlag nicht mehr in der Lage dazu ist, mit dem ständigen Druck und der andauernden Gefahr, die hinter dieser Aufgabe stehen, klarzukommen. Ich kann nichts anderes, weil ich schon als Kind darauf vorbereitet wurde, eines Tages das zu tun, was ich dann jahrelang getan habe. Meine unzähligen Ausbildungen zielten immer nur darauf ab, Saids Leben zu schützen, und jetzt bin ich neununddreißig Jahre alt und stehe auf einmal vor den Scherben meiner beruflichen Existenz.

»Großartig gemacht, Hakim«, murmle ich in den Raum, lege Michaels Nachricht auf den Karton zurück und wische mir mit einem trotzigen Schnauben ein paar Tränen von den Wangen, um danach ans Fenster zu treten und hinauszusehen.

Mittlerweile ist es früher Nachmittag und für Ende Februar ein herrlicher Tag.

Die Sonne scheint und seit letzter Woche wird es jeden Tag ein bisschen wärmer. Bald wird der Schnee geschmolzen sein, aber man kann im Garten jetzt schon die ersten Blütenköpfe der gelben und lilafarbenen Krokusse sehen, die zwischen gefühlt einer Million Schneeglöckchen wachsen. Ich habe zwar absolut keine Ahnung von Blumen, doch mir gefallen die Farbkleckse zwischen all dem Weiß. Vor allem nach der wochenlangen Kälte und den Unmengen Schnee, der im letzten und auch in diesem Jahr gefallen ist, und die es mir zusätzlich schwerer gemacht haben, der eisigen Kälte in mir selbst zu trotzen.

Depression.

Das mit unzähligen Vorurteilen behaftete Wort schwebt seit Monaten wie ein Damoklesschwert über meinem Kopf, und die Vorstellung, es vielleicht nicht wieder loszuwerden, macht mir mehr Angst, als ich zugeben will. Ich hatte in der Reha viel Zeit, um zu lesen und zu recherchieren, und was ich im Zuge dessen über die verschiedenen Formen von Depressionen gelesen habe – ich will ehrlich sein, es ist leichter, unbewaffnet eine Gruppe Attentäter anzugreifen, als gegen eine Depression anzugehen, und genau das werde ich tun müssen, um irgendwann wieder mein altes Leben leben zu können.

Ich stutze, als mein Blick auf die Einfahrt der Nachbarn fällt. Nanu? Seit wann haben die Vogelsongs einen grauen SUV? Ist ihnen der alte Mercedes etwa endgültig verreckt? Ich muss bei dem Gedanken grinsen, denn das Ehepaar war immer stolz auf ihren Wagen, obwohl er vor allem im Winter völlig unpraktisch war und fast nur in der Garage stand.

Der SUV da unten ist nagelneu und sieht nicht wie ein Auto aus, das sich Sherman Vogelsong freiwillig in seine penibel von Eis und Schnee befreite Einfahrt stellen würde. Der Mann mag alt sein, aber er ist gleichzeitig ein stolzer Veteran und bestellt seit Jahren jeden Winter einen Räumdienst, weil weder er selbst noch seine Frau Mina es körperlich noch schaffen, Einfahrt und Wege von Schnee und Eis zu befreien.

Mit über Siebzig darf man solche Dinge aber ruhig anderen überlassen, fand auch Said, doch sein Angebot, im nahenden Winter bei ihnen die Wege und Einfahrt mitzuräumen, haben beide freundlich, aber entschieden abgelehnt, nachdem wir uns strikt geweigert hatten, dafür von dem alten Ehepaar auch nur einen Cent dafür zu nehmen.

Ich kann mich gut daran erinnern, wie Sherman Said streng angesehen und ihm dabei erklärt hat, dass wir es nicht wagen sollen, mit einer Schneefräse bei ihnen aufzutauchen, da er uns sonst in den Arsch schießen würde. Wir haben tagelang hinter vorgehaltener Hand darüber gelacht, bis das Paar am Samstag unerwartet vor unserer Tür stand, mit einem Teller Basbousa in der Hand, ein arabischer Grießkuchen, den ich über alles liebe, und Mina Vogelsong hatte ihn perfekt hinbekommen.

Dieser Nachmittag hat dazu geführt, dass das Paar und uns seither eine lockere Bekanntschaft verbindet, und dass jetzt der SUV dort draußen steht, statt ihres Mercedes – ob es ihnen gut geht? Ich hoffe es. Sie sind einfach nicht mehr die Jüngsten, und ich weiß, dass sie zuletzt ernsthaft überlegt haben, ihre Zelte in Boston abzubrechen und in die Nähe ihrer einzigen Tochter zu ziehen, die aus beruflichen Gründen an der Westküste lebt und dort eine Familie gegründet hat.

Wobei »zuletzt« ein sehr dehnbarer Begriff ist, denn seit ich verletzt wurde, habe ich das Paar nicht mehr gesehen. Vielleicht sind sie ja längst ausgezogen und dieser SUV gehört dem neuen Hausbesitzer.

Ich werde Said beim Abendessen danach fragen, denn wenn ich nachher nicht in der Küche erscheine, tritt er die Tür ein, so gut kenne ich ihn. Außerdem will ich nicht, dass Michael und er sich noch mehr Sorgen um mich machen, als sie es ohnehin tun, seit ich Said gegenüber ausgetickt bin.

Es anders zu benennen, wäre Schönmalerei, denn ich habe ihn vor Weihnachten angegriffen, als er wortlos hinter mich trat und eine Hand auf meine Schulter legte. Er hatte dabei keinerlei Hintergedanken, aber meine Psyche hat kurzerhand auf Angriff umgeschaltet und nur die Tatsache, dass Michael, der an jenem Abend mit uns in der Küche war, geistesgegenwärtig nach Hilfe rief, hat verhindert, dass Schlimmeres passiert ist.

Danach war klar, dass ich therapeutische Hilfe brauche und der Rest ist, wie man immer so schön sagt, Geschichte.

Ob ich ihnen jemals verzeihen werde, wie sie ich mich am Ende dazu brachten, diese Reha anzutreten, weiß ich nicht, aber im Moment will ich garantiert nicht darüber reden, dass meine eigenen Eltern mir ein offizielles Schreiben auf den Tisch legten, in dem sie drohten, mich vorläufig entmündigen zu lassen, falls ich mich weiterhin weigere, etwas für meine Gesundheit zu tun. Ich habe bis heute keine Ahnung, ob das vor Gericht überhaupt durchgekommen wäre, aber ich war auch nicht mutig genug, es darauf ankommen zu lassen, also habe ich wutentbrannt eine Tasche gepackt und bin am nächsten Vormittag in das bestellte Taxi gestiegen, das mich zum Flughafen gebracht hat.

Seither ist das Verhältnis zu meinen Eltern noch schwieriger als vor der Reha, denn ich habe sie zuletzt bewusst ferngehalten und ihnen damit wehgetan, das weiß ich. Aber ich bin einfach nicht mehr der Sohn, auf den sie immer so stolz waren, und ich weiß nicht, ob ich es jemals wieder sein werde.

Herrgott, Schluss damit!

Ich muss endlich aufhören, mich zu fragen, was wäre wenn und überhaupt. Damit drehe ich mich im Kreis und das bringt nichts. Selbst wenn meine Eltern mich in Zukunft vor allem auf mein Versagen reduzieren – was ich nicht einmal mit Sicherheit weiß, ich kann nur nicht aufhören, darüber nachzudenken, dass sie es tun –, muss ich damit leben lernen.

Bei den Vogelsongs geht die Haustür auf und ich schnappe fassungslos nach Luft, als ich den Mann erkenne, der mit einem Gähnen auf die überdachte Veranda tritt und sich dort erst mal gründlich streckt. Dass er das fast nackt, nur in einer ziemlich enganliegenden Boxershorts tut – geschenkt.

Was, zur Hölle, macht Logan Blackstone in diesem Haus?

Und warum scheint der Mistkerl erst am frühen Nachmittag aus dem Bett zu fallen? Normale Leute haben um diese Uhrzeit bereits einen dreiviertel Arbeitstag hinter sich, aber gut, ihn mit einem normalen Arbeitnehmer zu vergleichen ist lächerlich.

Er macht viel Wohltätigkeitsarbeit und sammelt jede Menge Geld für benachteiligte Kinder, hat meine Recherche über ihn ergeben, nachdem Said und ich damals in Danes Haus das erste Mal auf ihn getroffen waren. Seitdem habe ich noch ein paar Mal locker nach Informationen über ihn gegraben, ohne viel zu finden. Er hat gute Eltern, die sich in der Stadt mit mehreren Blumenläden ein laufendes Geschäft aufgebaut haben, und es ist kein Geheimnis, dass vor allem sein Vater früher häufig auf den unzähligen Spendengalas zu Gast war. Heute genießt der Mann vorrangig seinen Ruhestand und hat Logan das Geschäft überlassen.

Ich weiß, dass das nicht alles ist, das hat mir mein Gespür früh verraten, aber es gab nie einen Grund, um tiefer zu graben, und den gibt es auch heute nicht. Nur weil die Blackstones seit jeher ihre Privatsphäre schätzen und schützen, und nur weil ihr Sohn ein verflixt schöner Mann ist, den ich im Normalfall nicht von der Bettkante gestoßen hätte – egal.

Hinter Logans hübscher Fassade versteckt sich wohl kaum ein brutaler Selbstmörder, das wäre mir im Zuge meiner ersten Recherchen mit Sicherheit aufgefallen, und da ich ohnehin nicht vorhabe, ihn in mein Bett einzuladen, kann ich auch aufhören, seine breite, muskulöse Brust anzustarren.

Gesagt, getan.

Er gähnt erneut und kratzt sich am Bauch, was meinen Blick prompt auf seine Hände lenkt, deren lange, kräftige Finger mit den immer akkurat gekürzten und sauberen Nägeln mich schon mehr als einmal in die Überlegung gestürzt haben, wie es sich anfühlen würde, wenn er diese Finger auf meinen Körper legt.

Meinen nackten Körper wohlgemerkt.

Aber ich pflege nun mal nicht mit arroganten Arschlöchern ins Bett zu gehen. Vor allem nicht mit Arschlöchern, die zu sehr von sich überzeugt sind, und ein zu geringes Selbstbewusstsein kann man Logan Blackstone eindeutig nicht vorwerfen, so oft wie er mich vor dieser Schießerei in dem Lager in sein großes, bequemes Bett – seine eigenen Worte – eingeladen hat, obwohl wir wussten, dass ich mich niemals darauf einlassen würde.

Darum ist die Überlegung, wie sich seine Finger auf meiner Haut anfühlen würden, pure Zeitverschwendung.

Was allerdings keine Zeitverschwendung ist, ist die Frage, was der unverschämte Mistkerl im Haus der Vogelsongs treibt. Doch bevor mir auffällt, dass mich das eigentlich nichts angeht, bin ich bereits auf dem Weg nach unten und stürme aus dem Haus, gefolgt von einem irritierten Blick von Patrick, der gerade aus der Küche kommt.

»Was machst du im Haus von Sherman und Mina?«, will ich erbost wissen, da habe ich noch nicht mal das Grundstück des Paares erreicht, und Logan zuckt erschrocken zusammen, bevor er in meine Richtung sieht und – ich hätte darauf wetten sollen – prompt ein überhebliches Grinsen aufsetzt.

»Willkommen zu Hause, Nachbar.«

»Nachbar?«, echoe ich entsetzt und schüttle den Kopf, aber als sein Grinsen breiter wird, begreife ich, dass das kein Scherz war. »Scheiße, auch das noch.«

Statt beleidigt zu sein, fängt Blackstone an zu lachen, dreht mir den Rücken zu und verschwindet ins Haus, wobei er, ob es Zufall ist oder Absicht, darüber spekuliere ich lieber nicht, die Haustür offen stehen lässt. Ich zögere nur einen Atemzug, dann folge ich ihm ins Haus und bleibe stocksteif im Eingangsbereich stehen, der einerseits als Windfang dient und andererseits nach rechts in den Hauswirtschaftsraum und nach links in ein Büro führt, das aber weder Sherman noch Mina genutzt haben. Jetzt ist die Tür ins Büro geschlossen und der Windfang bis auf eine Garderobe mit Sitzbank und Schuhregal leer.

Von dem urigen, uralten Jackenbutler, dem großen Gemälde an der Wand geradezu und dem abgetretenen Teppichboden ist nichts mehr zu sehen. Stattdessen stehe ich auf dunkelbraunen Holzdielen, während Logan sich für helle Möbel und reinweiße Wände entschieden hat. Schick und modern, außerdem lässt es den Windfang größer wirken. Ich schätze, das ganze Haus wird so aussehen, und ich weiß nicht, ob ich weitergehen will.

»Kaffee?«, ruft Logan aus der Küche, die sich offenbar noch dort befindet, wo sie im vergangenen Jahr war. Er scheint keine Wände versetzt oder rausgerissen zu haben, zumindest so weit ich das sagen kann, denn um es wirklich zu wissen, müsste ich weiter ins Haus hineingehen.

Zum ersten Mal übrigens, denn ich war nie im Haus, als die Vogelsongs hier gelebt haben. Aber ich habe mir viele Bilder und einen Grundriss besorgt, nachdem klar war, dass Said und wir mit dem Paar weiter Kontakt halten würden. Um sicher zu gehen. Darum könnte ich selbst mit geschlossenen Augen jeden Raum finden, ohne an einer Tür oder sonst wie anzuecken. Es war mein Job, auf Said aufzupassen, selbst wenn das in diesem Fall bedeutet hat, heimlich die Privatsphäre eines netten, alten Ehepaars zu verletzen, in dem ich einen meiner Jungs ins Haus schicke, um alles zu fotografieren, während Sherman und Mina einkaufen waren.

»Wenn du weiter da stehenbleiben willst, mach wenigstens die Haustür zu. Es zieht.«

Ich sehe verdattert hinter mich. Oh. Das war mir irgendwie entgangen. Mit einem verlegenen Räuspern schließe ich die Tür und streife mir die Schuhe von den Füßen, wobei mir auffällt, dass ich ohne Jacke aus Saids Haus gestürmt bin und das nicht mal bemerkt habe. Langsam sollte es mir zu denken geben, wie gedankenverloren ich werde, sobald ich sauer bin, und ich bin sogar stinksauer, dass Logan jetzt hier wohnt.

»Milch? Zucker?«, fragt er.

»Arschloch«, antworte ich und werde dafür ausgelacht.

»Danke. Nun, dann eben schwarz.«

Will er mich verarschen oder macht er das mit Absicht? Wie ich Blackstone kenne, ist es Letzteres. »Du weißt doch, wie ich meinen Kaffee trinke, du Idiot.«

»Sicher weiß ich das, aber ich versuche mich gerade an einer höflichen, gesitteten Konversation, bevor wir wieder anfangen, Nettigkeiten auszutauschen. Du weißt schon, so wie letztes Mal im Flur, als du der Meinung warst, mir frühmorgens auflauern zu müssen, erinnerst du dich?«

Knurrend lasse ich den Windfang und den darauffolgenden offen gestalteten Eingangsbereich mit einer breiten Treppe ins Obergeschoss hinter mir, um in die große Küche zu treten, wo Logan mit dem Rücken zu mir an der Arbeitsfläche steht. Er hat neben sich zwei Tassen zu stehen und ich kann die Geräusche einer Kaffeemaschine hören, besser gesagt das unverkennbare Geräusch von mahlenden Bohnen.

»Reicher Snob.«

»Wenn ich schon Kaffee trinke, dann auch vernünftigen.« Er deutet zu einem runden Esstisch mit vier Stühlen, der links von mir vor der großen Fensterfront steht, die auch eine Tür auf die Veranda hat. »Setz dich.«

Ich tue es schnaubend und sehe mich dabei kurz um. Er hat den Grundriss tatsächlich so belassen, nur die Kücheninsel mit dem Herd ist neu hinzugekommen. »Nette Küche.«

»Nicht wahr?«, kontert er und widmet sich unserem Kaffee, was überraschenderweise dafür sorgt, dass ich mich ein wenig entspanne. Bis er den Mund wieder aufmacht. »Und? Wirst du mir hier in Zukunft auch auflauern?«

»Ich habe dir nicht aufgelauert, ich kam zufällig zur selben Zeit vom Joggen zurück, wie du diesen Typen aus deinem Bett geworfen hast. Wisch dir nächstes Mal einfach das Sperma vom Gesicht, bevor du ihn zur Tür bringst.«

»Warum? Er fand das heiß, was mir einen großartigen Kuss zum Abschied eingebracht hat, schon vergessen?«

Gott, er ist so ein Arsch. »Als könnte ich das vergessen. Der Anblick hat mir fast die Netzhaut verbrannt, als er versucht hat, an dir hochzuklettern, wie an einem Baum.« Ich schüttle mich unwillkürlich, während Logan leise lacht. »Das gibt dem Begriff des Klammeraffen eine völlig neue Bedeutung.«

»Neidisch?«

Das hätte er wohl gern. »Eher angewidert.«

Lachend lässt er mich in der Küche zurück und ich sehe ihm verdattert nach, weil ich mit so einer Reaktion überhaupt nicht gerechnet habe. Bevor ich mich fangen und das Weite suchen kann, was garantiert die bessere Entscheidung wäre, kommt er die Treppe wieder runter und trägt jetzt – Gott sei Dank – eine Jogginghose und ein altes T-Shirt.

»Bedank dich später im Namen deiner Netzhaut«, stichelt er und grinst bei meinem folgenden Knurren, bevor er sich wenig später mit zwei Tassen Kaffee zu mir an den Tisch gesellt. »Mit einem Schluck Milch, so, wie du ihn magst.«

Auf ein Dankeschön kann er lange warten. Ich trinke einen Schluck und der Kaffee schmeckt überraschend gut. Vielleicht sollte ich ihn das nächste Mal nach einer Tasse Tee fragen. Aber im Moment interessiert mich etwas anderes weit mehr, deshalb räuspere ich mich und sehe Logan an.

»Wo sind sie?«

Er runzelt die Stirn. »Was?«

»Sherman und Mina«, antworte ich und da begreift er.

»Bei ihrer Tochter in Kalifornien. Sie sind Anfang des Jahres ausgezogen, kurz bevor du zur Reha gefahren bist. Said meinte schon, dass du das gar nicht mitbekommen hast.«

Das brauche ich nicht zu kommentieren, denn er weiß nur zu gut, wie ich zu der Zeit drauf war. Wie ich immer noch drauf bin. Egal. »Wieso bist du hier?«, frage ich weiter und gönne mir noch einen Schluck Kaffee, wobei ich seinen Blick festhalte. »Du hast ihr Haus gekauft, oder?« Er nickt. »Warum?«

»Warum nicht?«, hält er dagegen und schmunzelt, statt von meinem drohenden Blick eingeschüchtert zu sein. »Als Said mir sagte, dass er die Apartments verkauft, brauchte ich schnell ein neues Dach über dem Kopf, und er wusste, dass die Vogelsongs verkaufen wollen.« Logan wiegt bedächtig den Kopf. »Es ging alles holterdiepolter, wie es immer so schön heißt, aber bei dem guten Angebot, das das Paar mir gemacht hat, konnte ich nicht nein sagen, denn das Haus ist gut in Schuss. Ich musste nur die uralten Möbel rauswerfen, neue reinstellen und wie du gesehen hast, ist meine Küche komplett neu, was ebenfalls für die Bäder gilt. Danach ein neuer Dielenboden rein, ein bisschen Farbe auf die Wände und fertig.«

Das reicht mir nicht und das weiß er ganz genau, so wie er mich ansieht. »Wieso, Logan? Wieso hast du dieses verdammte Haus gekauft?«

»Weil ich in deiner Nähe bleiben will.«

Seine verfluchte Ehrlichkeit wird mich noch mal in Teufels Küche bringen, das weiß ich, und weil ich ebenfalls weiß, dass es keine gute Idee ist, ihm meine halb volle Kaffeetasse an den Kopf zu werfen, atme ich tief durch, um mich zu beruhigen.

Die nächsten Minuten verbringen wir damit, unseren Kaffee zu trinken und uns gegenseitig anzustarren, wobei Logen mein abfälliges Schnauben, als er mir frech zuzwinkert, nicht weiter kümmert. Stattdessen erhebt er sich und gießt sich eine weitere Tasse Kaffee ein, die er dann an der Arbeitsfläche stehend trinkt und dabei aus dem großen Fenster auf die umlaufende Veranda schaut. Ich folge seinem Blick schließlich, aber noch ist draußen nichts zu sehen. Wir haben Winter und die Vogelsongs haben ihre Verandamöbel in der kalten Jahreszeit immer verpackt und in die Garage geräumt, obwohl es Outdoormöbel waren.

»Ich habe ein Gästezimmer.«

Der Satz kommt aus dem Nichts, ohne eine Erklärung oder vorherige Einleitung, und ich bin darüber so verdutzt, dass ich Logan einen ratlosen Blick zuwerfe.

»Wenn es dir zu viel wird, wenn du einfach etwas Abstand von allem brauchst, weißt du jetzt, wo du mich findest. Und du findest selbst raus, ich habe gleich eine Telefonkonferenz.«

Der Rauswurf kommt unerwartet und mir ist schleierhaft, wieso ich mich darüber ärgere, dass er die Küche ohne weiteres Wort verlässt, nachdem er seine Tasse in die Spüle gestellt hat. Darum bleibe ich sitzen, aus purem Trotz, und gönne mir sogar eine weitere Tasse Kaffee, selbst als ich Logan im Obergeschoss reden höre. Was er sagt, kann ich nicht verstehen, aber das ist ja auch nicht wichtig.

Vielleicht sollte ich einfach bleiben, bis er mich eigenhändig rauswirft, aber das wäre kindisch und unter meiner Würde. Ich will nur nicht zurück in Saids Haus, aber etwas anderes bleibt mir nicht übrig, da ich ja, wie schon gesagt, dank ihm jetzt kein Apartment mehr habe.

Gott, ich bin so erbärmlich.

Mit fast Vierzig sollte man erwachsen genug sein, um seine Sachen zu packen und in ein Hotelzimmer zu ziehen. Nur was wird dann aus Said und mir? Was wird aus der langjährigen, engen Freundschaft, die uns so viele Jahre verband und die jetzt schon kaum mehr als ein Schatten ist? Wir haben uns so gut wie nichts mehr zu sagen, und auch wenn ich weiß, dass das meine Schuld ist, weiß ich nicht, wie ich es ändern soll.

Wie ich wieder sein Freund werden kann.

Sein Bruder im Geiste und auch im Kampfe.

Der Mensch, zu dem er immer als erstes gegangen ist, wenn es Probleme gab, und zu dem ich als erstes ging, wenn ich nicht mehr weiter wusste. Wir wären wie siamesische Zwillinge, hat Saids kleiner Bruder Ahmad einmal im Scherz gesagt, doch ich fürchte, dass diese Zeiten für immer vergangen sind.

»Du musst kämpfen, Hakim«, sagt Logan plötzlich und als ich überrascht zur Treppe sehe, sitzt er auf der untersten Stufe und hat sein Handy in der Hand. Seine Konferenz ist offenbar vorbei. »Wenn du aufgibst, wirst du alles verlieren.«

Das weiß ich. Ich weiß nur nicht, wie ich gegen das dunkle, tiefe Loch in mir angehen soll. »Wie?«, frage ich leise. »Wie soll ich gegen etwas kämpfen, das ich nicht mal begreife?«

Das ist eine Lüge und das weiß er. Und er lässt es mir nicht durchgehen. Das hat er in den vergangenen Monaten nicht ein einziges Mal getan, wann immer ich mit ihm aneinander geriet, und vielleicht bin ich genau deswegen hier. Weil ich weiß, dass dieser arrogante Mistkerl mich niemals mit Samthandschuhen anfassen wird, wie Said, Michael und unsere Familien das über Wochen und Monate hinweg immer wieder getan haben.

»Blödsinn, Hakim«, grollt er. »Du hast längst begriffen, was mit dir los ist, doch du bist so sehr damit beschäftigt, vor der Wahrheit wegzulaufen, dass du gar nicht auf die Idee kommst, dass du genauso gut anhalten und damit anfangen kannst, nach einem Weg zu suchen, mit dieser Wahrheit klarzukommen.«

»Und welche tolle Wahrheit wäre das bitteschön?«, frage ich genervt und unterdrücke ein Stöhnen, als er grinst. »Du kriegst gleich die Tasse an den Kopf.«

»Das täte meinem Genie keinen Abbruch.«

»Großer Gott«, stöhne ich jetzt, denn Logans Arroganz ist – ohne Worte. Ich sollte anfangen zu saufen, vielleicht ertrage ich ihn und seine Nervigkeit dann besser. Aber das wäre kaum der richtige Weg, vor allem, wenn ich da an Dane denke. »Du wirst eines Tages an deiner Arroganz ersticken.«

»Immer noch besser, als wie ein kleiner Feigling den Kopf in den Sand zu stecken, denkst du nicht?«

»Herrgott, Logan! Welche Wahrheit?«

»Dass dein Leben endlich ist.«

Ich zucke so heftig zusammen, dass etwas Kaffee über den Rand der Tasse auf meine Finger schwappt, was mich lästerlich fluchen lässt, bevor ich aufstehe, die Tasse zur Spüle bringe und nach einem Geschirrtuch greife, um mir die Finger zu säubern und danach den Kaffeefleck auf dem Tisch wegzuwischen.

»Ich gehe jetzt. Danke für den Kaffee.«

Bei meiner eisigen Höflichkeit, hätten eigentlich die Fenster vor Angst klirren müssen. Stattdessen komme ich nicht mal bis zur Treppe, als Logans Stimme mich abrupt innehalten lässt.

»Du bist nicht Superman, Hakim, auch wenn man dir das in gewisser Weise jahrelang eingetrichtert hat. Du hast immer dein Bestes gegeben und dafür am Ende einen hohen Preis bezahlt. Akzeptier´s und leb dein Leben weiter, denn einen Weg zurück gibt es nicht.«

»Es muss einen geben.«

Ich weiß gar nicht, warum ich das sage, weil es Blödsinn ist. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen, ganz egal, wie sehr man es sich wünscht. Und wer träumt als kleiner Junge nicht davon, durch die Zeit zu reisen, um tolle Tage und Erlebnisse noch mal erleben zu können? Said und ich haben das ständig getan, aber wir sind keine Kinder mehr und bis vor einem Jahr hätte ich nie erwartet, jemals als Feigling betitelt zu werden.

Aber Logan hat recht, denn ich bin ein Feigling und damit eine Schande für meine Familie. Noch ein Grund mehr, mich in Zukunft von ihnen fernzuhalten, denn ihr Ruf darf nicht wegen meiner Fehler und Schwächen leiden.

»Wenn du das ernsthaft glaubst, bist du offensichtlich noch nicht tief genug abgestürzt«, kontert Logan unverblümt und da ich mir selbst nicht traue, presse ich die Lippen zusammen und stürme aus dem Haus, um noch auf der Treppe kehrtzumachen, als mir auffällt, dass ich auf Socken geflüchtet bin.

Ich muss dreimal klopfen, bis er die Tür wieder öffnet und mir meine Schuhe reicht. Mein »Danke.« hört er allerdings nicht mehr, denn Logan schließt seine Tür genauso wortlos, wie er sie zuvor geöffnet hat, und ich stehe wie erstarrt auf der Veranda, meine Schuhe in den Händen und wieder mal den Tränen nahe, während ich mich gleichzeitig so gedemütigt fühle, wie niemals zuvor in meinem Leben.