Kopf vs. Herz


Leseprobe

(Achtung: unkorrigierte Leseprobe)

Prolog

Osaro Adewale war gerade zwölf Jahre alt, als er – blutend, splitterfasernackt und vor lauter Angst um sein Leben beinahe wahnsinnig – zufällig eine geladene Waffe in die Hand bekam und seiner Kindheit mit ihr ein Ende setzte.

Mehrere Jahre schwer misshandelt und als Kindersklave aus Nigeria in die USA geschmuggelt, um, anstatt zu arbeiten, wie man es seinen Eltern einst versprochen hatte, an jeden verkauft zu werden, der genug Geld für ihn bezahlte, erschoss er einen unschuldigen Mann, der seine Flucht aus dieser Lagerhalle, die seinen Peinigern als Unterschlupf und vor allem Bordell diente, zufällig mitbekam und ihm helfen wollte.

Er tötete einen seit Jahren glücklich verheirateten Mann und liebevollen Vater, weil er glaubte, der wäre gekommen, um sein für diesen Tag vierter Vergewaltiger zu werden, weil er ja so ein niedliches Gesicht hatte, wie seine Peiniger nicht müde wurden, ihm mit einem hämischen Grinsen mitzuteilen, ehe sie ihn ohne jedes Gewissen an den nächsten Pädophilen weiterreichten, der gerne mit Kindern Sex hatte.

Was dann kam, begriff Osaro genauso wenig, wie das laute Geschrei von Männern und Frauen, die ihm jedes Mal, bevor er in diesen großen Saal gebracht wurde, wo Männer in Anzügen darüber stritten, ob er getötet oder für den Rest seines Lebens eingesperrt werden sollte, Mikrofone vors Gesicht hielten und riesige Schilder hochreckten, auf denen Dinge standen, die er nicht verstand, weil er nicht lesen konnte.

Osaro wusste nicht, wie lange er bereits in dieser kleinen Zelle ohne Fenster saß, in die sie ihn gesperrt hatten, bis ein es Tages ein Mann dort auftauchte, der genauso aussah wie viele von jenen Männern, die ihn immer wieder gekauft hatten.

Doch Maximilian Endercott war nicht wie einer von diesen bösen Männern. Sein Lächeln war ehrlich, seine Freundlichkeit echt und das Angebot, ihm zu helfen und ab sofort sein Anwalt zu sein, kein haltloses Versprechen.

Maximilian bat ihn um sein Vertrauen und nach einer sehr langen Weile, die er einfach so dagesessen und ihn angesehen hatte – etwas, das der andere Mann, dem die Pflicht zugeteilt worden war, ihn zu verteidigen, nicht mochte, während dieser große, blonde Mann mit seinen eindringlichen, grünen Augen sich nicht daran zu stören schien –, gab Osaro es ihm.

Kinderprostitution, Menschenschmuggel, lang anhaltender, körperlicher und sexueller Missbrauch.

In den darauffolgenden Tagen, Wochen und Monaten hörte Osaro immer wieder, wie sie in einem Gerichtssaal über diese seltsamen Begriffe diskutieren, während Maximilian um seine Zukunft kämpfte, aber was sie bedeuteten, erfuhr er erst viele Jahre später.

Mit zwölf war sein Leben vorbei – glaubte er.

Mit fünfzehn brachte Maximilian ihn in ein riesiges Haus mit einem noch größeren Garten, in dem er die ersten Wochen jede Nacht schlief, aus Angst, man würde ihn wieder irgendwo einsperren, wenn er zu lange im Haus blieb und ihnen dadurch die Chance dazu gab.

Doch das geschah nicht.

Stattdessen bekam er zwei Väter, denen er wichtig war, und sechs Brüder, die ihn in der ersten Zeit ebenso neugierig aus der Ferne beäugten wie er sie, bis Cole, der älteste Sohn, eines Abends kurzerhand eine Isomatte neben ihm ausbreitete, um bei ihm im Garten zu übernachten.

Nach dieser Nacht begann Osaro langsam zu glauben, dass er bei diesen Männern wirklich sicher war, und er beschloss, es auf einen Versuch ankommen zu lassen.

Und die Endercotts enttäuschten ihn nicht.

Sie gaben ihm ein Zuhause, Sicherheit, Wärme und Schutz.

Sie besorgten ihm Hilfe, als die Angst irgendwann nachließ und dafür die Albträume begannen.

Aber vor allem gaben sie ihm einen neuen Namen.

Einen unbefleckten Namen.

Maximilian und Elias machten es möglich, dass er aufhören konnte, Osaro Adewale zu sein, dieser beschmutzte Junge, der so oft seinen Körper hatte hergeben müssen, um am Leben zu bleiben, und sie versprachen ihm unter Tränen, dass er niemals wieder so etwas würde tun müssen.

Osaro glaubte ihnen.

Und wurde zu Leon Williamson.


Kapitel 1
Leon

Ein bunter Strauß Sommerblumen lag vor dem verwitterten Grabstein auf dem Boden.

Leon lächelte unwillkürlich, da er sofort die unverkennbare Handschrift des privat geführten Blumenladens erkannte, der nur wenige Fußminuten vom Friedhof entfernt lag und zu dem selbst er oft ging, um eine einzelne Blume oder einen Strauß zu kaufen, bevor er sich schweren Herzens auf den Weg zu seinem monatlichen Besuch machte.

Heute hatte er eine einzelne, weiß-gelbe Rose dabei, denn es war der Todestag von Charles Gibbons.

Heute vor zwanzig Jahren, an einem warmen Frühlingstag mit viel Sonne, daran erinnerte sich Leon noch, als wäre es erst gestern gewesen, hatte er diesem Mann das Leben genommen.

Nicht mit Absicht.

Ganz im Gegenteil, er trug keinerlei Schuld an Gibbons Tod, zumindest vor dem Gesetz nicht, aber seine moralische Schuld wog für Leon bedeutend schwerer und das tat sie bereits, seit er damals begriffen hatte, dass er nicht nur einen unschuldigen Menschen getötet, sondern mit dieser Tat eine liebende Familie für immer entzwei gerissen hatte.

Mutter und Sohn – zurückgeblieben in einer Welt, die sie zu dritt hatten erleben wollen. Möglicherweise eines Tages sogar zu viert oder fünft, falls Charles Gibbons weitere Kinder gehabt hätte. Doch diese Chance hatte Leon ihnen weggenommen und das war etwas, womit er nicht leben konnte, egal wie lange er es bereits versuchte und egal, wie oft er schon bei Sean Beaumont deshalb in Therapie gewesen war.

Er war einfach nicht fähig, sich selbst etwas zu vergeben, für das er nicht das Geringste konnte, und in den letzten Monaten waren seine Schuldgefühle in Bezug auf Charles Gibbons Tod immer erdrückender geworden. Leon wusste nicht, wie lange er dem Druck noch standhalten konnte, der ihn mehr und mehr von innen heraus zu zerstören schien, er wusste allerdings, dass seine ganze Familie im Bilde darüber war, wie schlecht es ihm wirklich ging, obwohl er meist so tat, als wäre nichts.

Noch ließen Maximilian und Elias es ihm durchgehen, doch Leon war klar, dass seine Schonfrist bald ablief. Sie würden alle, seine Väter, Großeltern, Brüder und Schwäger, tun, was sie für nötig hielten, um ihn am Leben zu erhalten, selbst wenn das am Ende hieß, ihn in eine geschlossene Klinik einzuweisen, um zu verhindern, dass er sich etwas antat.

Allerdings würden sie das nur tun können, wenn Leon nicht schnell genug war. Wobei er diesen Gedanken besser niemals in der Nähe seiner Väter aussprach, sonst würde es unangenehm für ihn werden.

Sein Vater Maximilian hatte sich nie ganz davon erholt, dass Dare einmal fast in seinen Armen gestorben war, nachdem sein Bruder versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, und wenn er wirklich eines Tages den Mut fand, es durchzuziehen und sich aus dieser Welt zu verabschieden, würde er dafür Sorge tragen müssen, dass es erstens gleich beim ersten Versuch klappte und zweitens es auf gar keinen Fall Maximilian war, der ihn fand.

Doch noch war dieser Tag nicht gekommen und heute wäre ohnehin der denkbar schlechteste Zeitpunkt dafür.

Leon legte die dezent duftende Rose auf den Stein, berührte selbigen dabei kurz mit seinen Fingerspitzen und wandte sich dann ab.

Tief in Gedanken versunken lief er an anderen Grabsteinen entlang, folgte dem ebenen Weg, der ihn zu seinem alten Pick-up bringen würde, denn er hatte bis zum Feierabend noch drei Autos abzuliefern und zwei weitere warteten darauf, dass er sie für ihre baldigen Besitzer zu Ende reparierte. Ein einträgliches Geschäft, auf dass er stolz war, denn eigenes Geld zu verdienen war für Leon das Wichtigste überhaupt im Leben. Obwohl er es kaum ausgab.

Wofür auch? Klamotten waren ihm nicht wichtig, und da er noch zu Hause wohnte, brauchte er auch nichts für Miete oder sonstige Ausgaben zur Seite legen. Seine Väter wollten von ihm und seinem kleinen Bruder kein Geld für den Unterhalt, und da der Rest ihrer Brüder mittlerweile ausgezogen war, war es nach und nach im Haus ruhig geworden.

Manchmal war es Leon schon fast zu ruhig, denn in letzter Zeit hatte er entschieden zu viel Zeit zum Alleinsein und auch zum nachdenken.

Wenn er die Zeit doch nur hätte zurückdrehen können, um jenem Mann, von dem er sich im Moment entfernte, sein Leben irgendwie zurückzugeben. Aber das war ein Wunschtraum, der nie in Erfüllung gehen würde, wie so vieles andere auch, und eigentlich konnte er von Glück reden, dass Charles' Familie nie etwas dagegen gesagt hatte, dass er das Grab besuchte, denn durch seine Tat hatte er im Grunde jegliches Recht verwirkt, hierherkommen zu dürfen. Doch weder Charles' Frau noch sein Sohn hatte ihm in all der Zeit auf irgendeinem Wege mitteilen lassen, dass er und seine Blumen am Grab unerwünscht waren, und darum ging er Monat für Monat zu Charles Gibbons, ohne wirklich zu wissen, warum.

Früher hatte er mit dem Mann gesprochen.

Ihm von seinem neuen Leben bei den Endercotts erzählt.

Von der Hoffnung, die er damit verband.

Von der Liebe, die er für Elias und Maximilian fühlte.

Später, als er älter wurde, hatte er damit begonnen, sich für seine unverzeihliche Tat zu entschuldigen, wieder und wieder, in der Hoffnung, irgendwie und irgendwann eine Antwort zu erhalten, die leider nie gekommen war.

Aber schlussendlich waren ihm die Worte ausgegangen und so hatte Leon aufgehört, mit Charles zu sprechen. Heute stand er nur noch eine Weile da, legte Blumen ab und ging wieder. Es war frustrierend und zugleich sinnlos, dennoch konnte er nicht damit aufhören.

Vielleicht würde er es nie können.

Sein Handy klingelte und Leon zog es aus der Jackentasche. Nach einem Blick auf das Display seufzte er resigniert, obwohl er mit dem Anruf gerechnet hatte. Er rief jedes Jahr an, genauso wie seine Väter, sofern er nicht pünktlich zum Abendessen zu Hause war, weil sie sichergehen wollten, dass er noch lebte.

Vor allem an diesem besonderen Tag achteten sie noch mehr auf ihn, als sie es ohnehin bereits seit Jahren taten, denn er war ihr Sorgenkind und wenn er nicht bald einen Weg fand, mit der Vergangenheit abzuschließen, egal wie – es war mit Sicherheit besser, diesen Gedanken jetzt nicht weiterzuverfolgen, weil sein Großvater sehr gut darin war, anhand seiner Stimme auf seine aktuelle Stimmungslage zu schließen.

»Hallo, Grandpa«, nahm er den Anruf deshalb betont ruhig entgegen und Adrian Endercott, den er über alles liebte und für den er alles getan hätte, seufzte ebenso wie er selbst zuvor.

»Du musst damit aufhören, mein Junge.«

Tja, das war das einzige, was er nicht für Adrian tun konnte. »Ich kann nicht.«

»Du machst mir Sorgen, Bursche.«

Leon verkniff sich ein trauriges Lachen, denn damit erzählte Adrian ihm nichts, was er nicht längst wusste. »Ich mache allen Sorgen und das wird sich auch nicht ändern.«

»Leon ...«

Nein, nicht heute. Er hatte genug geredet. Sowohl mit Sean, als überhaupt. Es gab einfach nichts mehr zu sagen. »Ich muss in meine Werkstatt. Die Arbeit macht sich nicht von allein.«

»Komm heute zum Abendessen zu uns. Sieben Uhr. Und sei pünktlich, sonst erzähle ich Maximilian unter Tränen, dass ich Angst um dich habe.«

Verdammt noch mal!

Adrian griff nicht oft zu einer Erpressung, aber wenn er den Schritt ging, ließ man sich seiner Familie lieber darauf ein, weil das einfacher war als sich zu wehren und dadurch erst recht im Fokus ihres Großvaters zu landen. Und wo das für mittlerweile sechs seiner Brüder geendet war, wusste Leon nur zu gut, daher verbiss er sich einen saftigen Fluch. Er wollte doch nur in Ruhe gelassen werden, und wusste gleichzeitig, dass seine komplette Familie das niemals tun würde. Vor allem nicht heute.

»Du weißt, dass ich an diesem Tag zu Hause esse.« Das war ein ungeschriebenes Gesetz, gegen das Leon noch nie verstoßen hatte. »Immer.«

»Deswegen habe ich bereits deine Väter angerufen und Elias dazu gebracht, nachzugeben und dafür zu sorgen, dass selbiges auch für Maximilian gilt. Du isst bei Emma und mir, denn du brauchst dringend einen Abend ohne besorgte väterliche Blicke und Fragen, die du nicht beantworten willst.«

Leon verdrehte resigniert die Augen. »Ach, und eure Blicke werden nicht besorgt sein?«

»Bring mich nicht auf die Palme, Bursche. Sieben Uhr. Bring deiner Grandma Blumen mit.«

Adrian legte auf und Leon steckte das Handy ein, während er mit einem weiteren schwermütigen Seufzen den Kopf in den Nacken legte. Er hatte keine Wahl. Entweder seine Väter oder Adrian. Und in Anbetracht der Tatsache, wie beunruhigt sein Großvater zuvor geklungen war, war es das Beste, ihm wieder einmal nachzugeben. Das würde ihm für die kommenden Tage oder, sofern Leon großes Glück hatte, sogar für einige Wochen etwas Ruhe vor zu viel familiärer Sorge bescheren, und derzeit war jeder Tag ohne einen Kontrollanruf ein guter Tag.

Leon wusste, dass er seiner Familie mit seinem wachsenden Unmut unrecht tat, aber es fiel ihm immer schwerer gute Miene zum in seinen Augen bösen Spiel zu machen, denn wenn er sich wirklich dazu entschied, dass dieses Leben für ihn nicht länger lebenswert war, würde er dafür sorgen, dass sie zu spät kamen. Sein Internetverlauf war voll von Seiten, auf denen Männer und Frauen, teils sogar Kinder, offen über ihre Selbstmordabsichten sprachen und besonders darüber, wie man es am schnellsten, schmerzlosesten oder ohne viel Blut hinbekam. Wobei letzteres oft von Frauen geschrieben wurde, die nicht wollten, dass ihre Hinterbliebenen später wegen ihnen putzen mussten.

Aber über die Details würde er sich erst Gedanken machen, wenn es soweit war, und jetzt hatte er Blumen zu besorgen und in ein paar Stunden pünktlich bei seinen Großeltern vor der Tür zu stehen. Doch wenn er das schaffen wollte, würde er sich jetzt beeilen müssen, und darum machte sich Leon im Eilschritt auf zu seinem Wagen.

***

Die Orchidee war ein Volltreffer.

Ihre lilafarbenen Blüten, die so dunkel erschienen, als wären sie fast schwarz, entzückten Emma, als er sie ihr überreichte, sie dabei liebevoll auf die Wange küsste und sich anschließend von ihr umarmen ließ, während Adrian mit in die Seite gestemmten Händen neben ihnen stand und schmollte, denn Leon ignorierte ihn bereits, seit er ins Haus getreten war.

»Bursche ...«

»Du wirst ja wohl ein paar Minuten Geduld haben. Rühr die rote Soße um, während ich meinen Lieblingsenkel frage, wie es ihm geht und wir dabei einen schönen Platz für diese Orchidee suchen«, fuhr seine Großmutter Adrian entschieden ins Wort und zog Leon dabei bereits aus der Küche ins Wohnzimmer, wo die Orchidee einen Platz auf der Kommode fand, bevor Emma sich zu ihm umdrehte und ihn mitfühlend anschaute. »Er liebt dich sehr, Leon. Das tun wir alle.«

Leon seufzte, denn wie so oft durchschaute Emma ihn ohne viel Mühe. Er grinste schief und zuckte dabei die Schultern. »Er macht mich wahnsinnig. Maximilian auch. Alle. Ich wollte nicht herkommen. Nicht heute Abend.«

Emma trat dicht vor ihn und legte ihm sanft eine Hand auf die Wange. »Das weiß ich, mein Schatz, und darum erlaube ich dir auch, zu gehen. Nimm die Vordertür. Ich werde mit Adrian und Maximilian ein langes Gespräch führen. Es wird die beiden nicht lange von dir fernhalten, aber ein paar Tage oder Wochen hast du jetzt Ruhe vor ihnen.«

Ihm stiegen die Tränen in die Augen. »Ich liebe dich so sehr, Grandma.«

»Ich liebe dich auch, Leon. Und jetzt geh. Aber vergiss nicht, unsere Tür steht immer offen für dich. Tag und Nacht.«

Das musste sie ihm nicht extra sagen, das wusste Leon, und trotzdem war er froh, fliehen zu können. Vor ihren Blicken, der ständigen Sorge um ihn, den mal mehr mal weniger zögerlich gestellten Fragen, ob er ihre Hilfe brauchte. Es gab keine Hilfe. Nicht für ihn. Nicht mehr. Vielleicht hatte es sie nie gegeben, da war sich Leon nicht sicher, aber früher hatte er zumindest daran geglaubt, mit Geduld und der Hilfe von Sean etwas erreichen zu können. Doch er fand keinen Weg aus dieser Abwärtsspirale, die ihn unerbittlich tiefer zog. Immer näher an diesen dunklen, undurchdringlichen Abgrund, der ihn für immer und ewig zu verschlucken drohte.

Noch nicht, schrie sein Verstand, während er durch die Stadt fuhr, ein bestimmtes Ziel vor Augen, das er selten, aber zuletzt in immer kürzeren Zeitabständen ansteuerte, denn nur dort, an diesem Ort, den er nur zufällig über ein Onlineforum gefunden hatte und über den niemand in seiner Familie Bescheid wusste, fand er für eine Weile Frieden und Vergessen. Ein paar Stunden volle Konzentration auf den Mann, der ihm Schmerzen zufügte, bis er nichts anderes mehr fühlte und von diesem Hoch oft für mehrere Tage zehren konnte.

Es war nicht perfekt, ganz im Gegenteil.

Selbstverletzendes Verhalten wie dieses, wenn auch in dem Fall beigebracht über einen Stellvertreter, war niemals gut, doch wenn es das einzige war, was ihn davon abhielt, seinen Pick-up in vollem Tempo gegen die nächste Hauswand zu steuern, nahm Leon es hin, als das, was er war – etwas, das er brauchte. Er brauchte den Schmerz, um sich überhaupt noch lebendig zu fühlen, die Frage war nur, wie lange Ian noch reichte, um ihm dieses Gefühl zu geben.

***

Stunden später, als Leon tränenüberströmt und ungehemmt schluchzend, während sein nackter Körper von den unzähligen Hieben brannte, die Ian so perfekt setzte, dass er dabei niemals Spuren hinterließ, die länger als einige Stunden sichtbar waren, in den starken Armen des Mannes lag, der ihn heute wieder bis an die Grenze des Ertragbaren und zum Teil auch ein bisschen darüber hinaus gequält hatte, fühlte er sich endlich frei. Solange die Tränen liefen und sein Körper schmerzte, war Leon frei von den dunklen Gedanken, die ihn sonst kaum losließen.

»Ich wünschte, ich könnte dir die Vergebung schenken, die du so dringend brauchst.«

Ian sprach nicht oft mit ihm. Anfangs hatte er es überhaupt nicht getan, nachdem sie vorab online geklärt hatten, was Leon erwartete und was Ian zu geben bereit war, doch auch das hatte sich in den letzten Monaten geändert.

»Es gibt keine Vergebung für mich.«

»Es muss sie geben«, hielt Ian dagegen und küsste ihn sanft auf den Scheitel. Etwas, das er sonst nur seiner Familie erlaubte und auch das nur an guten Tagen. »Du bist ein wunderschöner Mann, Leon, sowohl innen als auch außen. Es muss Vergebung für dich geben. Wofür auch immer du nach ihr suchst.«

Ian wusste nicht, wer er war und was er getan hatte. So weit ging ihre 'Beziehung' nicht, die sie hier in diesem Club pflegten, und sie würde auch nie mehr sein. Zuerst hatte Leon überlegt, dem Ganzen etwas Würze in Form von Sex zu geben, denn Ian war der erste Mann, bei dem er sich soweit hatte fallen lassen können, um den Gedanken daran zuzulassen. Aber Ian war ein guter Menschenkenner und außerdem nicht dazu bereit, für ein bisschen Sex seine Ehe aufs Spiel zu setzen.

Leon konnte sich noch gut daran erinnern, wie verlegen und peinlich berührt er sich gefühlt hatte, als Ian ihm schmunzelnd davon erzählt hatte, und er wusste auch noch, dass er knallrot geworden war und eine Entschuldigung gestammelt hatte.

An dem Abend hatte Ian ihn zärtlich auf den Mund geküsst, ein einziges Mal, dann lächelnd mit dem Kopf geschüttelt und anschließend hatten sie das Thema nie mehr erwähnt.

»Ich sollte fahren.«

Ian half ihm beim Aufstehen, bei der folgenden Dusche, die er immer dazu nutzte, einen letzten Blick auf seinen Körper zu werfen, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war, und am Ende brachte er ihn nach draußen zu seinem Wagen, denn die Nacht war weit fortgeschritten und Ian nahm nach ihm niemals einen weiteren Mann mit in eines der Einzelzimmer im hinteren Teil des Clubs, in denen alles und nichts erlaubt war, sofern alle Parteien erwachsen waren, kein Geld floss und jeder mit seiner Unterschrift der Überwachung durch ständig besetzte Kameras und Notfallknöpfe in den Zimmern zustimmte. Sicherheit war für den Besitzer das oberste Gebot, nur deshalb hatte Leon den Club damals überhaupt ausgewählt.

Manchmal fragte er sich, was Sean oder seine Väter wohl zu dieser Freizeitbeschäftigung sagen würden, wobei Leon ahnte, dass Sean damit die wenigsten Probleme haben würde. Er hatte noch nie einen toleranteren Mann als Sean Beaumont getroffen, und das wollte bei der bunten Familie, die er sein eigen nannte, etwas heißen.

Ian drückte kurz seine Schulter, als sie bei seinem Pick-up eintrafen. »Komm gut nach Hause, Leon.«

Er schaffte ein Lächeln. »Du auch.«

Leon sah Ian nach, wie der in der Nacht verschwand, setzte sich in seinen Wagen und atmete tief durch, ehe er sich auf den Weg nach Hause machte, wohl wissend, dass mindestens einer seiner Väter noch auf sein würde. Wahrscheinlich Maximilian, denn Elias ließ ihm im Allgemeinen mehr Freiraum, auch wenn Leon manchmal nicht sicher war, ob das nicht gefährlicher war, denn Elias hatte so eine Art an sich, ihn und überhaupt jeden in ihrer Familie mühelos zu durchschauen – ohne Worte.

Sollte Elias also eines Tages damit anfangen, abends auf ihn zu warten, dürfte die sprichwörtliche Kacke am Dampfen sein.

Hoffentlich kam es nie dazu.

***

Als er am nächsten Morgen aus seinem Zimmer trat, lehnte Maximilian in einem seiner schicken Anzüge gegenüber an der Flurwand, den Blick auf sein Handy gerichtet, das er aber sofort wegsteckte, als Leon die Tür aufzog und sofort innehielt. Ihre Blicke trafen sich und Leon sparte sich jedes Wort, da es nichts geändert hätte.

Stattdessen trat er auf seinen Vater zu und umarmte ihn. »Es geht mir nicht gut, Dad, aber ich komme klar.«

Maximilian seufzte und legte die Arme um ihn. »Wie lange noch, Leon? Wie lange?«

Es wäre leichter gewesen, darauf eine Antwort zu haben. Er hatte allerdings keine und Leon würde sich mit Sicherheit keine ausdenken, nur um Maximilian zu beruhigen. Das würde nicht funktionieren und Leon war auch niemand, der gern log. Sicher gab es einiges, was er seinen Vätern nicht erzählte, zum Beispiel seine Selbstmordabsichten, aber erstens wussten sie das längst und zweitens – es gab kein zweitens, wurde ihm bewusst, aber da er sich nicht damit befassen wollte und ohnehin los musste, versuchte er, sich von seinem Vater zu lösen, doch Maximilian ließ ihn nicht los.

Leon seufzte leise. »Ich weiß es nicht und ich muss los, sonst komme ich zu spät.«

»Du bist selbstständig«, sagte sein Vater, der ihn am liebsten hier behalten hätte, das war unmissverständlich, so fest, wie er ihn immer noch hielt.

Leon hatte allerdings andere Pläne, und vor allem hatte er heute Termine. »Was nicht heißt, dass ich es mir erlauben kann, ständig meine Kundschaft warten zu lassen. Das machst du mit deinen Klienten ja schließlich auch nicht«, konterte er und hätte fast gegrinst, als Maximilian »Pfft.« murrte. »Sei froh, dass Dad uns so nicht sieht. Er würde uns als Dummköpfe betiteln.«

Elias würde nichts dergleichen tun, aber immerhin brachten seine Worte Maximilian zum lachen, bevor er soweit von ihm abrückte, dass sie sich anschauten. »Ich möchte … irgendetwas tun, egal was.«

»Das kannst du nicht. Niemand kann das. Und das weißt du doch auch. Lass mich meinen eigenen Weg finden«

»Du suchst doch nicht mal nach einem. Nicht mehr.«

Und dem konnte er schlecht widersprechen, denn so war es nun mal. »Vielleicht gibt es auch keinen für mich.«

Maximilians Umarmung wurde beinahe schmerzhaft. »Das will ich nicht hören. Es gibt einen Weg. Immer, Leon.«

Das hörte er schon seit so vielen Jahren, er fand nur keinen, und anfangs hatte er alles dafür getan, ihn zu finden. Mit Seans Hilfe, mit Therapien, dem Versuch, nicht mehr zum Friedhof zu fahren – er hatte alles versucht, sogar Selbsthilfegruppen, doch es funktionierte nicht. Er träumte immer noch von dem Tag, an dem er Charles Gibbons getötet hatte, zwar nicht mehr ständig, aber er tat es. Er sah das Blut an seinen Händen, die überrascht dreinblickenden Augen des sterbenden Mannes, bevor ihr Blick trüb wurde und er aufhörte zu atmen.

Leon kam nicht darüber weg und in letzter Zeit gab er mehr und mehr auf, daran zu glauben, dass sich das jemals änderte. Es war, wie es nun mal war, und weiterhin darüber zu streiten, zu diskutieren oder Sean zu behelligen, brachte auch nichts. Es war Zeit, sich mit der Tatsache abzufinden, dass er den Kampf um sein Leben schon vor langer Zeit verloren hatte. Doch jetzt hatte er zu tun und darum löste Leon sich energisch von seinem Vater und sparte sich jeden Versuch eines Lächelns, das ihm ja ohnehin nicht gelungen wäre.

»Ich muss zur Werkstatt.«

»Leon ...«

Nach seinem Kopfschütteln verstummte Maximilian, seine Schultern sackten herab, aber sein Vater ließ ihn gehen, und da Leon nicht auch noch Elias über den Weg laufen wollte, verließ er das Haus ohne Frühstück oder etwas zu trinken. Er konnte sich auf dem Weg etwas kaufen, das machte er seit dem letzten Winter ohnehin häufig. Vor allem, wenn es abends mal wieder länger dauerte, oder er sich bewusst in der Werkstatt vergrub, um nicht nach Hause fahren zu müssen, denn dort würden ihn wieder ihre sorgenvollen Blicke treffen und Leon war sich nicht sicher, wie lange er selbige noch aushalten konnte.


Kapitel 2
Eric

Zu Hause zu leben, hatte gewisse Vorteile.

Ein köstliches Abendessen, das er nicht erst kochen musste, wenn er abends nach einer langen Schicht in der Bäckerei nach Hause kam, zum Beispiel, und daher hatte Eric Gibbons bis vor ein paar Monaten auch noch nie darüber nachgedacht, dass er eigentlich längst alt genug war, um sich eine eigene Wohnung zu suchen oder in ein kleines Häuschen zu investieren.

Er lebte sehr gern bei seiner Mutter und half ihr bei all den Dingen, die ihr im Alter langsam schwerer fielen, sei es Schnee schieben im Winter, die allmonatlichen Großeinkäufe, die sie bereits gemeinsam erledigten, seit er alt genug war, den Wagen im Geschäft zu schieben, oder das regelmäßige Fensterputzen im Frühling und im Herbst.

In den vergangenen Wochen dachte er allerdings immer mal wieder darüber nach, ob es nicht doch an der Zeit war, sich ein kleines Apartment zu mieten. Am besten in der Nähe, damit er seiner Mutter weiterhin helfen konnte.

Und genau in dieser Sekunde war diese Überlegung wieder einmal sehr aktuell, denn nachdem er die teure Limousine vor dem gemütlichen Haus seiner Mutter entdeckt hatte, war seine erste Reaktion zu stöhnen und ins nächste Flugzeug nach Asien zu steigen, um damit Adrian Endercott zu entkommen, der fest dazu entschlossen schien, ihn bis in alle Ewigkeit zu belagern. Zumindest empfand Eric dessen ständige Besuche mittlerweile als Belagerung, denn der alte Mann hatte ihm schon klipp und klar gesagt, dass er wiederkommen würde, bis Eric sich endlich bereit erklärte, mit dessen Enkel Kontakt aufzunehmen.

Eric hatte nichts dergleichen vor.

Er wollte und er würde dem Mann nicht verzeihen, der ihm als Neunjährigen den Vater weggenommen hatte. Nicht heute, nicht morgen, nicht in eintausend Jahren.

Vor allem aber nicht heute Abend, nachdem er vorhin einen kurzen Abstecher auf den Friedhof gemacht hatte und beinahe über den Mörder seines Vaters gestolpert war. Normalerweise kam Leon Williamson nicht so spät, darum hatte er anfangs, in Gedanken versunken, was er seinem Vater heute sagen wollte, nicht auf den Mann geachtet, der am Grab stand, bis es fast zu spät gewesen war. Eric war im letzten Moment umgekehrt und hatte sich hinter einer alten Eiche versteckt, um nicht gesehen zu werden, während dieser Mistkerl, in der Hand eine einzelne Rose, minutenlang stumm dastand.

So ging das nun schon seit unzähligen Jahren und Eric sagte nur deswegen nichts dazu, weil seine Mutter ihn vor langer Zeit darum gebeten hatte. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass er damit einverstanden war, dass dieser Mann Monat für Monat Blumen auf das Grab legte, und hätte er seiner Mutter nicht ein Versprechen gegeben, hätte Eric längst eine Verfügung erwirkt oder Williamson seine Blumen mit ein paar deutlichen Worten nach Hause geschickt.

Bis dieser Anwalt bei ihnen aufgetaucht war, hatte er nicht einmal verstanden, wieso Williamson das tat. Warum er Monat für Monat Blumen auf den Friedhof brachte, die auch nichts an der Tatsache ändern würden, dass sein Vater tot war und dieser Mann daran die Schuld trug.

Und jetzt, wo Eric wusste, dass Leon Williamson mit jedem Tag mehr an seinen Schuldgefühlen erstickte und deswegen auf den Friedhof kam, machte das auch nichts besser.

Im Gegenteil.

Williamson hätte damals sterben sollen, nicht sein Vater. So unfair dieser Gedanke auch war, den er da hatte, Eric kam nicht gegen ihn an. Williamson hatte niemanden gehabt, keiner hätte ihn vermisst, wenn er gestorben wäre.

Sein Vater hingegen wurde vermisst – jeden Tag.

Wie konnte Endercott herkommen und von ihm verlangen, mit diesem Mann zu reden? Wozu überhaupt? Am Ende würde er ihm höchstens die Faust ins Gesicht schlagen. Und das hatte Adrian Endercott mit seiner Bitte bestimmt nicht im Sinn. Seine Mutter übrigens auch nicht und da Eric nicht scharf darauf war, wegen Körperverletzung angeklagt zu werden, hielt er sich von Williamson fern.

Nicht nur heute, sondern allgemein, denn Eric wusste über diese Familie Bescheid. Nun ja, vor allem über Williamson und die Werkstatt, die er etwas außerhalb von Boston allein betrieb. Aber er hatte sich auch ein bisschen über dessen Brüder, deren Familien, ihre Berufe und vor allem über das »Boston Hearts« informiert, das Williamsons Väter seit vielen Jahren betrieben und dass es ihm unmöglich machte, die Endercotts zu hassen, weil sie Leon damals so ein perfektes Leben ermöglicht hatten, während sein Vater – egal.

Das LGBT-Zentrum der Endercotts war ein großartiger Ort für junge Menschen, die Hilfe brauchten, und dass Williamsons Väter zugleich regelmäßig mittellosen Kleinverbrechern halfen und Obdachlose von der Straße holten – dafür hatten sie Orden verdient, und vor allem verdienten sie Respekt und die nötige Unterstützung der Stadt, an der mächtig haperte, wenn er da an die vielen Obdachlosen dachte, die es allein in Boston gab und die Jahr für Jahr mehr wurden.

In der Bäckerei, in der er arbeitete, wurde an drei Tagen pro Woche kostenlos Kaffee und belegte Brötchen für Obdachlose ausgegeben. Anfangen hatte sein Chef mit einem Morgen in der Woche, doch das reichte längst nicht mehr und dank anonymer Spenden, überlegte sein Boss derzeit sogar, einen vierten Tag in der Woche speziell für jugendliche Obdachlose und Veteranen zu reservieren. Auch wenn Boston keine arme Stadt war, wie so viele andere Metropolen im Land, gab es dennoch immer mehr Menschen, die trotz Job finanziell kaum noch über die Runden kamen, und da bei den offiziellen Stellen seit unzähligen Jahren gespart wurde, fehlte es an Unterstützung, nicht nur für Kinder und Obdachlose.

Allerdings war Williamson weder ein Kind noch obdachlos, ergo, hatte dieser Mann von ihm nichts zu erwarten, und es war an der Zeit, dass er das Adrian Endercott mit deutlichen Worten klarmachte. Und das konnte er ebenso gut gleich erledigen, um dann in Ruhe mit seiner Mutter zu Abend zu essen.

Nachdem er die Haustür aufgeschlossen hatte und das leise, immer etwas heisere Lachen seiner Mutter hörte, verdrehte Eric genervt die Augen. Sie verstand sich für seinen Geschmack viel zu gut mit Adrian Endercott und an ganz schlechten Tagen, wie der heutige einer war, nahm er seiner Mutter das übel. Anfangs hatten sie gemeinsam getrauert, doch nach und nach hatte seine Mutter angefangen, ihre Meinung zu ändern, was Williamson anging, und das war etwas, das er weder guthieß noch gefiel es ihm. Sein Vater war tot und manchmal kam es ihm vor, als wäre seine Mutter mittlerweile ernsthaft dazu bereit, seinem Mörder zu verzeihen.

»Lässt du immer noch Streuner ins Haus, Mom?«, rief er zur Küche, während er sich Jacke und Schuhe auszog.

»Wenn sie zehntausend Dollar teure Anzüge tragen und mir einen wunderschönen Strauß Blumen mitbringen, brenne ich vielleicht sogar mit ihnen durch«, kam trocken zurück und Eric verbiss sich einen Fluch.

»Was für ein umwerfendes Angebot. Ich kann es leider nicht annehmen, und das habe ich Ihnen schon die letzten beide Male gesagt, Anna, als Sie mir vorschlugen, meine geliebte Emma zu verlassen und in Australien neu anzufangen«, konterte Adrian Endercott hörbar amüsiert und während seine Mutter darüber lachte, lehnte sich Eric seufzend gegen die Haustür.

Er hätte Williamsons Großvater am liebsten mit einem Tritt aus diesem Haus befördert, aber seine Mutter mochte den alten, kultivierten Mann, der letzten Winter eines Nachmittags völlig überraschend vor ihrer Haustür gestanden hatte, mit einem für Eric unmöglichen Anliegen, und er hätte blind sein müssen, um nicht zu sehen, dass seine eigene Mutter darüber nachdachte, es an seiner Stelle zu tun. Er fand das unmöglich, hatte aber bisher nichts dazu gesagt, weil er nicht mit ihr streiten wollte. Er fragte sich aber dennoch, warum sie es nicht längst getan hatte. Wieso seine Mutter nie Kontakt mit Williamson aufgenommen hatte.

Dem unschuldigen Mann, der mehr Opfer als Täter war – so sah das jeder, außer ihm selbst.

Und vielleicht sollte er, statt das Ganze totzuschweigen, um nicht deswegen zu streiten, neben Endercott auch seiner Mutter endlich einmal sagen, was er davon hielt, dass sie Williamson faktisch einen Freifahrtschein geben wollte. Der Mistkerl hätte für immer ins Gefängnis gehört, nicht in ein schickes Haus, wo er alles gehabt hatte, während seine Mutter hart hatte arbeiten müssen, um ihm alles zu ermöglichen. Allerdings würde er das nicht tun, solange Williamsons Großvater noch im Haus war, so viel Anstand besaß er dann doch. Außerdem ging es den Mann nichts an, wenn er mit seiner Mutter stritt, denn darauf würde es wahrscheinlich hinauslaufen.

Eric atmete tief durch und machte sich auf den Weg in die Küche, wo seine Mutter gerade in einem Topf rührte, aus dem es herrlich nach Fleisch und Gemüse roch. Er schnupperte, gab ihr einen Kuss auf die Wange und während er in den Topf sah, in dem ihr leckerer Rindfleischeintopf köchelte, knurrte Eric der Magen.

Seine Mutter lachte, als sie es hörte. »Noch zehn Minuten.« Sie deutete lächelnd in den Flur. »Hol uns bitte aus der Kammer noch etwas zu trinken, ehe du Adrian begrüßt, so wie sich das gehört und ich es dir beigebracht habe.«

Eric stöhnte. »Ja, Mom.« Auf dem Weg in die Kammer warf er dem Anwalt einen finsteren Blick zu. »Hallo, Anwalt.«

»Hallo, Bursche.«

Bursche. Unglaublich. Wie kam der Mann dazu, ihn Bursche zu nennen? Und das jedes verfluchte Mal, wenn er nach Hause kam und Endercott in der Küche vorfand. Kopfschüttelnd holte Eric eine Cola, Saft und zwei Wasserflaschen aus der Kammer, stellte alle auf den Tisch und nahm dann drei Gläser aus dem Schrank, obwohl vor Endercott eine leere Teetasse stand, weil er nicht wusste, wie lange der Anwalt heute Abend bleiben würde und nicht den Zorn seiner Mutter auf sich ziehen wollte, indem er ihn weiter ignorierte, obwohl Eric das zu gern getan hätte.

»Und? Sind Sie wieder mal hier, um für Ihr Sorgenkind um Vergebung zu bitten?«, fragte er bissig, nachdem er sich an den Tisch gesetzt hatte, und öffnete dabei die Cola, um sich ein Glas einzugießen.

Endercott nickte. »Das bin ich in der Tat. Leon stirbt, Eric.«

»Ich werde eine Blume auf sein Grab legen.«

Eric wusste nicht, wo das herkam, denn solche Sätze dachte er normalerweise nur und sprach sie nicht aus, aber jetzt war es zu spät, die Wörter zurückzunehmen, und als er sah, wie blass Adrian Endercott wurde, während seine Mutter ihn fassungslos anstarrte, wusste Eric, dass er gerade zu weit gegangen war. Ihr entschiedenes »Jetzt reicht es.« sagte ihm alles, während sie die Teller auf den Tisch stellte, die sie eben aus dem Schrank geholt hatte. Dann sah sie zu Adrian. »Entschuldigen Sie uns bitte für ein paar Minuten, Adrian? Ich könnte verstehen, falls Sie lieber gehen wollen, aber ich bitte Sie dennoch darum, heute mit uns zu Abend zu essen.«

»Ich werde zum Essen bleiben«, erklärte der alte Mann leise, doch als er sich erhob, schien auf einmal nichts mehr von dem entschlossenen Anwalt vorhanden zu sein, der damals, einer Naturgewalt gleich, in ihr Haus gewirbelt war und ihr bisher so geordnetes Leben völlig durcheinandergebracht hatte.

Eric schnaubte abfällig, als wenig später die Terrassentür im Wohnzimmer geöffnet und wieder geschlossen wurde, doch er kam nicht dazu, auch nur ein Wort zu sagen.

»Ich habe eine Entscheidung getroffen«, sagte seine Mutter und setzte sich zu ihm an den Tisch. »Nein, jetzt rede ich«, kam sie seinem Einspruch zuvor und Eric schürzte misstrauisch die Lippen, denn ihr entschlossener Tonfall gefiel ihm nicht. »Leon stirbt, Eric. Er steht hart an der Grenze und es ist nur noch eine Frage von Tagen, vielleicht von einigen Wochen, die wir ihm im besten Fall helfen können. Ich werde nicht länger warten oder das Thema einfach totschweigen, wie wir es schon viel zu lange tun, und glaub mir, ich habe das nicht leichtfertig entschieden. Dieser Junge von damals steht kurz davor, sich das Leben zu nehmen, und wenn er das tut und ich vorher nicht wenigstens versuche, ihn davon abzuhalten, werde ich mir das für den Rest meines Lebens nicht vergeben können.«

»Mom ...« Weiter kam er nicht.

»Ich verstehe dich, Eric, das tue ich wirklich.« Seine Mutter griff über den Tisch hinweg nach seiner Hand und drückte kurz seine Finger. »Ich war lange Zeit wütend, aber das war absolut falsch, denn nicht Leon trägt die Schuld am Tod deines Vaters, sondern diese Monster, die ihn und so viele andere Kinder an Perverse verkauft haben. Nur war es damals leichter, ihm allein die Schuld zu geben, anstatt einzusehen, dass dein Vater leider zur falschen Zeit am falschen Ort war … Oder vielleicht war er ja auch genau richtig.«

Erich schnappte fassungslos nach Luft, denn das konnte sie unmöglich ernst meinen. »Mom!«

Seine Mutter schüttelte den Kopf. »Denk darüber nach, Eric, und tu es bitte gründlich. Dein Vater ist an jenem Tag gestorben und durch dieses Opfer wurden Leon und die anderen Kinder gerettet. Was wäre, wenn er nicht in der Sekunde dort gewesen wäre, als Leon die Flucht gelang? Er würde noch leben, ja, aber diese armen Kinder wären mit Sicherheit längst tot und durch andere Opfer ersetzt worden. Dein Dad hat damals unzählige Leben gerettet und das kann ich nicht länger zur Seite schieben, nur um weiter einen Groll auf Leon zu hegen. So bin ich nicht. Wir beide sind nicht so, denn ich habe dich nicht so erzogen.«

»Wie kannst du nur darüber nachdenken, ihn …?« Wieder ließ sie ihn nicht aussprechen.

»Seine Väter habe mittlerweile solche Angst um ihn, dass sie ihn seit Wochen rund um die Uhr überwachen lassen, immer in der Hoffnung, dass, wenn sie selbst nicht mehr rechtzeitig vor Ort sein können, es wenigstens die Bodyguards sind, die sie für ihren Sohn engagiert haben, falls Leon beschließt, sich morgen oder übermorgen eine Pistole in den Mund zu stecken … Oder schlimmeres zu tun.«

Eric konnte sich kaum noch beherrschen. »Es wäre nur fair. Auge um Auge, sagt dir das was?«

»Eric!«, schimpfte seine Mutter und erhob sich dabei, doch dieses Mal würde Eric sich nicht wieder über den Mund fahren lassen, denn er hatte ihr einiges zu sagen.

»Was denn?«, fuhr er wutentbrannt aus der Haut und tippte sich dabei vielsagend an die Stirn, weil er es einfach nicht mehr aushielt, so zu tun, als würde er sie verstehen, denn er verstand seine Mutter absolut nicht. Leon Williamson verdiente keinerlei Vergebung. Von niemandem. Basta. »Der Kerl hat damals alles bekommen, nachdem Endercott ihn aus dem Knast geholt hat. Ein Zuhause, eine Familie, Brüder. Ihm hat man förmlich alles in den Arsch geschoben, während du jeden Tag geschuftet hast, um zuerst die Rechnungen für das Haus und später dann für mein College bezahlen zu können. Er hat Dad ermordet und ein neues Leben geschenkt bekommen, während wir fast mit nichts dastanden. War das etwa fair?«

»Mein Gott, Eric, so war das doch nicht.« Seine Mutter sank kopfschüttelnd auf den Stuhl zurück und rieb sich die Augen, bevor sie ihn mit einem traurigen Lächeln ansah. »Ich habe dein College nicht bezahlt. Ich habe auch keinen Kredit für das Auto aufgenommen, das ich dir mit achtzehn geschenkt habe, weil es nicht nötig war.«

»Was?«, fragte Eric überrascht, weil er keine Ahnung hatte, wovon sie sprach.

»Maximilian Endercott hat dein College finanziert und dein erstes Auto hat Leon auf einer Auktion ersteigert und hinterher für dich repariert. Sie hätten sogar den Hauskredit finanziert, wenn ich es ihnen erlaubt hätte. Die Endercotts haben uns von Anfang an geholfen, nachdem dein Dad tot war, denn ich hatte nicht einmal genügend Geld, um ihn nach seinen Wünschen zu beerdigen. Ich wollte dafür den Charger verkaufen, aber Leons Vater hat das verhindert. Ich war damals so wütend auf ihn, auf Leon, auf die ganze Welt, und wahrscheinlich hätte ich dir das alles schon viel früher erzählen sollen, aber ich habe mich dafür geschämt, dass ich zwar ihr Geld nahm, um dir ein gutes Leben zu ermöglichen und unser Haus zu behalten, doch gleichzeitig jeden weiteren Kontakt abgelehnt habe. Dass du jetzt so denkst, ist meine Schuld, Eric, und es tut mir leid, dass ich dir offenbar nur Wut und Zorn auf Leon vererbe, denn das ist nicht fair. Für euch beide nicht. Er ist unschuldig, genau wie du, Eric.«

Eric war sprachlos.

Und nicht nur das, er wusste überhaupt nicht, was er davon halten sollte. Das änderte alles. Er hatte immer geglaubt, seine Mutter hätte mit ihren zeitweise drei Jobs alles finanziert. Eric hatte sie immer dafür bewundert, wie sie das alles schaffte und trotzdem jeden Abend pünktlich zu Hause gewesen war, um zu kochen, das Haus ordentlich und sauber zu halten und ihm ab und zu sogar Extrawünsche zu erfüllen, wie diese recht teuren Turnschuhe, die er sich mit vierzehn unbedingt zum Geburtstag gewünscht hatte, weil seine Schulkameraden dieselben gehabt hatten und er natürlich genauso cool sein wollte.

Vor allem den Mädchen gegenüber, bis ihm ein Jahr später aufgefallen war, dass Jungs auch interessant waren, und daran hatte sich bis heute nichts geändert.

»Die Turnschuhe«, sagte er und vergrub mit einem Stöhnen das Gesicht in den Händen, als seine Mutter nickte. »Gott, Mom … Das ist … Ich weiß nicht, was das ist … Scheiße.«

»Es tut mir leid, dass ich nichts gesagt habe. Mit meinem Job hätte ich sie dir nicht kaufen können, also habe ich mich an die Anwälte gewandt, ihnen gesagt, wofür ich das Geld brauche, und eine Woche später war es auf meinem Konto.«

»Nur die zweihundert Dollar?«, fragte Eric, denn irgendwie konnte er sich das nicht vorstellen, und als seine Mutter eine Grimasse zog, war ihm alles klar. »Wie viel?«

»Fünfhundert. Ich habe den Rest aufgehoben und dir davon im nächsten Jahr das Fahrrad gekauft.«

»Aber wieso hast du nicht …? Ich meine, drei Jobs, Mom.«

»Es war mir wichtig. Ich wollte nicht, dass sie uns aushalten, obwohl ich glaube, dass sie das ohne zu zögern getan hätten. Für Leon. Aber ich wollte das nicht. Du solltest lernen, dass es wichtig ist, sich Dinge selbst zu erarbeiten. Eigenes Geld für die eigenen Wünsche zu verdienen. Von nichts kommt nichts, Eric, das wollte ich dir beibringen, und die drei Jobs habe ich nur so lange gemacht, bis ich mit den Raten für das Haus soweit durch war, dass ich sicher sein konnte, wir würden es nicht verlieren. Und dann hast du angefangen zu arbeiten und deinen Teil dazu beigetragen.« Seine Mutter lächelte glücklich. »Du bist deinem Vater so ähnlich, nicht nur äußerlich, und er wäre stolz darauf, was du erreicht hast. Genauso wie ich.«

Eric schnaubte amüsiert. »Das hört sich an, als wäre ich ein Bundesrichter oder so was. Ich bin nur ein Bäcker.«

»Na und?«, hielt seine Mutter dagegen. »Um für sich etwas im Leben zu erreichen, muss man kein Richter sein. Du liebst deine Arbeit und das ist mehr, als viele andere Menschen sagen können. Ja, sie ist schwer, das sehe ich, wenn du abends müde nach Hause kommst, aber irgendwann wirst du dir den Traum erfüllen, dein eigener Chef in der Backstube zu sein, und das ist etwas, das ich nie gekonnt hätte. Ich bin ja schließlich nur eine kleine Tippse, schon vergessen?«

»Mom!«

Sein finsterer Blick prallte völlig an seiner lachenden Mutter ab. »Du weißt doch, was ich meine. Und jetzt hör auf, mich böse anzugucken, sonst wird der Eintopf schlecht.«

»Du bist eine sehr gute Sekretärin, Mom«, sagte Eric, denn er hatte sie früher oft genug im Büro besucht und wusste, was sie alles konnte und organisierte, um den Laden am Laufen zu halten, wie es immer so schön hieß.

»Das weiß ich, Schatz, aber es ist schön, das ab und zu mal zu hören.« Sie zwinkerte ihm zu. »Ich hab dich übrigens richtig dolle lieb, nur um es noch mal zu erwähnen, bevor ich auf die Tränendrüse drücke, was Leon Williamson angeht.«

Eric verdrehte die Augen, lächelte dabei aber, weil er ihr nie lange böse sein könnte. Im nächsten Moment erinnerte er sich wieder daran, was sie ihm zuvor erzählt hatte. »Er hat wirklich den alten Ford für mich besorgt?«

Seine Mutter nickte. »Ja. Es lief alles über ihre Anwälte, weil ich die Endercotts nie bei uns haben wollte, bis Adrian dann im letzten Jahr hier aufgetaucht ist, aber sie haben mir, zusammen mit deinem Wagen, eine Nachricht geschickt, dass Leon ihn auf einer Polizeiauktion gefunden hat und sofort der Meinung war, der Ford F 150 wäre perfekt für dich.« Auf einmal kicherte sie albern. »Gott, diese Kiste war so hässlich.«

Eric muss unwillkürlich lachen. »Hey, das rot war zwar ein bisschen zu rot für meinen Geschmack, aber auf die Ladefläche hat einiges raufgepasst, vor allem deine vielen Einkäufe.« Seine Mutter lachte heiter und drohte ihm dabei mit dem erhobenen Finger. Dabei fiel ihm etwas ein. »Der Ford hat ewig gehalten, weißt du noch?«

»Stimmt. Das hat Leon gut hinbekommen, nicht wahr?«

Der darauffolgende Blick seiner Mutter sprach dicke Bände und Eric seufzte tief auf. »Mom ...«

»Rede mit ihm«, bat sie und sah ihn eindringlich an. »Keiner sagt, dass ihr Freunde werden müsst, aber wenigstens mit ihm reden, das kannst du doch für mich tun. Ihn kennenlernen, um dir ein eigenes Bild von dem Mann zu machen, der er dank der Liebe und Fürsorge der Endercotts geworden ist. Du willst seit Jahren Dads alten Charger vernünftig durchchecken lassen und Leon ist Mechaniker. Die perfekte Gelegenheit, um einen ersten Kontakt zu knüpfen, ohne ihm dabei zu sagen, wer du bist. Er weiß es nicht, das hat mir Adrian versichert, weil er sich, so wie ich, auch nie getraut hat, Kontakt aufzunehmen. Darum bitte … Sei unvoreingenommen.« Seine Mutter seufzte traurig. »Es hat zu lange gedauert, bis ich das begriffen habe, aber dieser Junge ist nun mal ein Opfer wie du, Schatz, und so sehr ich verstehe, dass du sauer auf ihn bist, weil er uns Dad weggenommen hat, es wird Zeit, das alles hinter uns zu lassen. Wir müssen es beide hinter uns lassen und aus diesem Grund werde ich den Anfang machen und Adrians überbrachte Einladung zu einem ruhigen Kaffeetrinken mit seiner Frau annehmen, um dabei, wenn alles gutgeht, Leon kennenzulernen und ihm zu sagen, dass ich ihm vergebe, was er damals getan hat.«

»Wie, Mom? Wie kannst du ihm das vergeben?«, fragte Eric, denn er wusste absolut nicht, wie er selbst das jemals tun sollte. Sein Vater war tot, weil er versucht hatte, Williamson zu helfen. Wie sollte er das vergeben können?

Seine Mutter nahm erneut seine Hand. »Aus zwei Gründen. Erstens, dein Vater würde nicht wollen, dass wir diesem Jungen für immer und ewig grollen. Du weißt, wie er war. Wie sehr er immer für Recht und Gesetz einstand, deshalb hat er ja damals versucht, Leon zu helfen, als er begriff, was in dieser Lagerhalle vor sich ging.«

»Und zweitens?«, fragte Eric und fühlte sich unwohl dabei, weil seine Mutter recht hatte, er das aber nicht hören wollte.

»Zweitens bin ich eine Mutter und dieser Junge dort hättest genauso gut du sein können. Wäre Leons Vater getötet worden und du hättest diese Waffe in der Hand gehabt, wie würdest du dich heute fühlen, Eric?«

Eric sackte in sich zusammen, denn darauf gab es leider nur eine einzige Antwort. »Schuldig.«

Seine Mutter nickte. »Ich weiß, und ich weiß ebenfalls, dass du genau das tust, weil du dich an jenem Morgen mit deinem Dad gestritten hast.«

Oh nein, darüber wollte er heute Abend wirklich nicht mehr reden. »Mom ...«

»Ich weiß und es ist okay«, gab sie sofort nach und lächelte ihm zu. »Ich habe lange gebraucht, um die Zusammenhänge zu erkennen, und ja, Leons Großvater hat in den letzten Monaten seinen Teil dazu beigetragen. Dieser Mann liebt seine Familie über alles und er würde alles tun, um Leon zu retten, doch er weiß, dass er das nicht kann. Aber er kann helfen, also tut er es. Auf seine Weise. Und er kann hoffen und beten, dass du mit der Zeit den Mut findest, dir selbst zu vergeben und vor allem, Leon zu vergeben.« Seine Mutter drückte liebevoll seine Finger. »Versuch es. Wenigstens einmal. Fahr zu seiner Werkstatt und sprich mit ihm … bitte.«

Wie hätte er ihr diese Bitte abschlagen können? Eric seufzte, weil er es nicht konnte, und so ließ er nur nachgebend den Kopf hängen und nickte schließlich.

»Danke«, sagte seine Mutter und räusperte sich. »Und jetzt gehst du zu Adrian und entschuldigst dich bei ihm.«

Sein Kopf ruckte hoch. »Was? Mom!«

»Denk darüber nach, was du vorhin gesagt hast und dann stell dir vor, es wäre dein Enkel, über den wir hier reden, Eric.« Sie deutete mit strengem Blick zur Tür. »Entschuldige dich und dann essen wir. Du magst erwachsen sein, aber ich werde nicht dulden, dass du in meinem Haus so mit einem Mann sprichst, der mein Gast ist und den ich zufällig gut leiden kann.«

***

»Ich kann Sie nicht ausstehen.«

So begann man mit Sicherheit keine Entschuldigung, doch Eric fiel es mit jedem weiteren Besuch von Endercott schwerer, sich dem Anwalt gegenüber zu beherrschen, und der Anblick, wie der alte Mann lässig und mit ausgestreckten Beinen in dem Terrassenstuhl saß, den er sonst selbst benutzte, die Teetasse auf dem Schoß, von der Eric nicht gemerkt hatte, dass Endercott sie vorhin, auf seinem Weg nach draußen, noch einmal gefüllt und mitgenommen hatte – Adrian Endercott brachte ihn allein mit seiner Anwesenheit in seinem Zuhause jedes Mal auf die Palme und das würde sich wohl auch nicht so bald ändern.

»Damit kann ich problemlos leben, solange du nur meinem Enkel hilfst.« Ein ruhiger Blick aus grünen Augen, die offenbar schon eine Menge gesehen hatten, traf ihn. »Und? Wirst du mir den Gefallen tun?«

»Warum sollte ich?«, fragte Eric ruppiger, als er es eigentlich gewollt hatte. Gott sei Dank war seine Mutter im Haus, sie hätte ihm dafür die Leviten gelesen.

Leons Großvater seufzte leise. »Du erinnerst mich so sehr an meinen Sohn. Maximilian ist genauso stur wie du. Er ist nicht so stur wie Leon, aber ich glaube, das ist kein anderer Mensch auf dieser Welt. Weißt du, stur zu sein, ist etwas Gutes, denn so erreicht man etwas. Mit eisernem Willen. Heutzutage bekommt man nichts geschenkt, besonders nicht in dieser Welt, und auch wenn du mir das nicht glauben wirst, Leon ist es wert, gerettet zu werden. Er hat noch so viel zu geben, genau wie du. Ihr seid jung, habt euer Leben vor euch, und der Gedanke, dass ich nur noch wenig Zeit habe, um euch dabei zuzusehen, wie ihr es lebt und hoffentlich eines Tages glücklich werdet, tut mir weh, denn Leon ist nicht der einzige, der es wert ist.«

Eric runzelte die Stirn. Was meinte Endercott damit, dass er nur noch wenig Zeit hatte? »Sind Sie krank?«, fragte er, ohne vorher darüber nachzudenken, ob das vielleicht unangemessen war, doch das folgende schwere Seufzen gab ihm recht und Eric ballte seine Hände zu Fäusten. Konnte es denn noch schlimmer kommen? »Deshalb sind Sie letztes Jahr hier aufgetaucht, oder? Darum gehen Sie mir so sehr mit Ihrem Enkel auf die Nerven? Weil Sie Angst haben, dass Sie bald nicht mehr …« Großer Gott, allein die Vorstellung bescherte Eric eine Gänsehaut, obwohl er gleichzeitig sehr gut verstand, dass der alte Mann ihnen nichts davon erzählt hatte. »Verflucht, noch mal, Anwalt!«

Endercott schürzte die Lippen. »Ich bin alt und ja, vielleicht treffe ich manchmal nicht die besten Entscheidungen, mag sein, aber hierherzukommen war goldrichtig.«

Der alte Mann ließ seinen Blick durch ihren zugewucherten Garten schweifen, der hinter dem Haus lag und dringend etwas Zuwendung vertragen hätte, aber Eric war nicht der Typ fürs gärtnern und seine Mutter beschränkte sich darauf, die Terrasse in Ordnung zu halten und im Frühjahr einige Kästen und Töpfe mit Blumen zu bepflanzen. Sonst passierte in dem Garten leider nicht mehr viel, schon seit vielen Jahren nicht. Sie hatte es nicht mal über sich gebracht, den alten Sandkasten zu entsorgen, den Eric als kleiner Junge geliebt hatte und der immer noch hinten in der Ecke stand. Mittlerweile war er allerdings zugewuchert, wie der Großteil des Gartens auch.

»Ihr braucht einen Gärtner.«

»Schreiben Sie einen Scheck aus, dann engagiere ich einen. Mom kann und will es nicht mehr und ich habe weder Ahnung davon noch Zeit dafür.«

Der alte Mann lachte leise. »Du bist ein guter Bursche, Eric Gibbons«, sagte er dann und erhob sich. »Und jetzt gehe ich zu deiner Mom und helfe ihr beim Tisch decken. Ich nehme deine Entschuldigung an, sobald du bereit bist, sie mir zu geben.«

Eric verbiss sich einen Fluch, weil er fand, dass es mehr als unangemessen gewesen wäre, einen Sterbenden zu verfluchen. Selbst wenn es sich dabei um den nervigsten Anwalt in diesem verdammten Bundesstaat handelte.

»Auf die Entschuldigung können Sie lange warten«, murrte er stattdessen und hätte fast gelacht, als Endercott grinste, so als hätte er mit dieser Antwort gerechnet. Mal sehen, ob er Adrian Endercott noch überraschen konnte. »Ich rede mit Leon.«

Endercott blieb abrupt stehen, drehte sich aber nicht zu ihm um. »Wann?«

Eine verdammt gute Frage, doch Eric wollte nicht gedrängt werden, obwohl ihm gleichzeitig klar war, dass, wenn er nicht bald nachgab, nicht nur Adrian Endercott, sondern auch seine Mutter ihn mit Williamson nerven würde, also war es wohl das Beste, es bald hinter sich zu bringen. Allerdings war bald nicht heute und auch noch nicht morgen.

»Bald.«

»Wie bald?«, fragte Endercott sofort nach.

Eric stöhnte genervt, denn die Frage hatte kommen müssen. »Diesen Monat … Und wehe, Sie fragen mich jetzt nach einem genauen Datum, dann wird es der letzte Tag im Mai sein, ganz gleich, ob Ihr Enkel noch so lange durchhält oder nicht.«